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»Ein Jahrhundert verlassen!«

Vom Mythos der russischen Kommune
zum Spektakel um 1917

Im Oktober 2017 haben Zwi und Negator auf Einladung des Anachistischen Netzwerks Stuttgart einen Vortrag zur Geschichte der Oktoberrevolution gehalten. Schwerpunkte des Vortrags liegen auf den trügerischen Bildern, die um die „große sozialistische Oktoberrevolution“ entstanden sind; dem Bezugspunkt der Kommune in der Revolution (Pariser Commune, die bäuerliche Kommune bzw. Obshchina bzw. commune rural); dem Antisemitismus, der sich gegen die Revolution richtet und sie begleitet.

In der herrschenden Geschichtsschreibung wirkt der Oktober 1917 wie ein riesenhafter retrospektiver Zerrspiegel. Die Verhältnisse zwischen den Gesellschaftsklassen, Organisationen, Nationen und Personen erscheinen darin bis heute in der Regel als Personenkult mit positiven oder negativen Vorzeichen, zugleich entzünden sich hier wie in einem Brennspiegel immer neu die linken Rivalitäten um die Repräsentation der Revolution. In der Jahrhundertbilanz gar hat sich eine totale Spiegelverkehrung im Blick auf das «sowjetische System» 1917-1991 eingestellt: «Das war der Kommunismus» (Schwarzbuch). Und so können die für jene Ära aufgerechneten zig Millionen Menschenopfer des «Realsozialismus» als dessen notwendige Betriebskosten verbucht werden: mit Lamento oder Achselzucken, je nachdem, aus welcher Perspektive der jeweils «besten aller möglichen Welten». Was von der «Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ seine Legitimation für den «Arbeiter- und Bauern-Staat» als angeblicher «Übergangsgesellschaft» zur Abschaffung der Herrschaft von Menschen über Menschen bezog, ist von der andauernden Herrschaft totaler Warenproduktion und -konsumtion über die Menschen, von einer «klassenlosen Klassengesellschaft» die keinen Widerspruch mehr duldet, integriert worden. Gerade auch in Russland.

Radikale Kritik der seit 1917 dergestalt veränderten weltkapitalistischen Herrschaft erfordert die Reflexion auf ihre wirklichen historischen Grundlagen, d.h. die besonderen Produktionsverhältnisse und den Charakter ihrer Umwälzung. Diese Arbeit einer materialistischen Erklärung der gesellschaftlichen «Spiegelbilder» und ideologischen Spiegelverkehrungen wurde von der situationistischen Spektakelkritik angegangen, um «das 20. Jahrhundert verlassen» zu können. Die Frage ist aber, ob Letzteres «nach hinten», in einen vor- und antimodernen romantischen Antikapitalismus, oder in Richtung auf eine communistische Produktionsweise und Zivilisation im Weltmaßstab des 21. Jahrhunderts geht.

Im Versuch einer spektakelkritischen Skizze soll an diesem Abend der besondere russische Ursprung und Verlauf der «Revolution in Permanenz“ vor und nach 1917 vor Augen geführt werden. Die Reflexion der bäuerlichen, bürgerlichen und proletarischen Revolutionszwecke ineinander wird als blutig roten Faden auch etwas sichtbar machen, was sich als spiegelverkehrende Konter-Revolution schlechthin gegen alle diese wirklichen Bewegungsmomente gekehrt hat. Immer wieder, bis in das Welt-Bild des heutigen Russland hinein.

Vom Autorenkollektiv Biene Baumeister Zwi Negator stammen zwei Bände über „Situationistische Revolutionstheorie“ in der Reihe theorie.org [via]

    Download: via AArchiv (mp3; 316.1 MB; 3:17:17 h)

Der im Vortrag erwähnte Film „Die Kommissarin“ (1967/1987) findet sich hier. Siehe auch »Vorwärts und nicht vergessen!«.

„Das Leben ändern, die Welt verändern“

Kunst, Spektakel & Revolution #7

Wir veröffentlichen einen weiteren Sammelbeitrag im Anschluss an die Beitragsreihe Talkin‘ bout a revolution und dokumentieren den siebten Teil der Weimarer Veranstaltungsreihe Kunst, Spektakel & Revolution (Teaser zur Reihe hier). „Das Leben ändern, die Welt verändern“ ist eine Reminiszenz an ein Zitat von André Breton: »›Die Welt verändern‹, hat Marx gesagt; ›das Leben ändern‹, hat Rimbaud gesagt. Diese beiden Losungen sind für uns eine einzige.« Gleichzeitig ist es Titel eines Sammelbandes von Edition Nautilus, in dem Dokumente und Berichte der 68er-Revolte zusammengestellt sind. Die Veranstaltungsreihe dreht sich um 1968, verweigert jedoch die Blickverengung auf ein einziges Jahr und bildet stattdessen einen Zyklus der Revolte von den 50er-Jahren bis in die 80er-Jahre ab.

Den Vortragsmitschnitten sind jeweils Interviews von Radio Corax mit den ReferentInnen vorangestellt, die im Vorfeld der Veranstaltungen entstanden sind. Die Interviews behandeln zum Teil bereits den Gegenstand des jeweiligen Vortrags, enthalten zum Teil aber auch Wissenswertes jenseits des engeren Veranstaltungsprogramms.

1.) »Geht doch arbeiten!« – Nicht-Arbeit und soziale Diskriminierung vom ›Halbstarken‹ bis zum ›Gammler‹

Interview mit Bodo Mrozek über Gammler und andere Sozialtypen in den 50er- und 60er-Jahren:

Ansammlungen von sogenannten Gammlern erregten in den ’60er Jahren großes Aufsehen und sorgten mitunter für äußerst aggressive Reaktionen. Anhand der Figur des Gammlers wurde verhandelt, wie die Öffentlichkeit, die Rollen der Geschlechter und das Verhältnis von Arbeit und Freizeit ausgerichtet sein sollen. Der Historiker Bodo Mrozek hat sich mit der Figur des Gammlers auseinandergesetzt. Da die Forschungen von Bodo Mrozek oft einen popgeschichtlichen Zugang haben, haben wir ihn zunächst gefragt, aus welcher Perspektive und mit welchen Fragestellungen er auf die Bewegung der Gammler blickt. (via)

    Download: via FRN (mp3; 31 MB; 19:10 min)

Im Vortrag schildert Bodo Mrozek (Zentrum für zeithistorische Forschung Potzdam) wie bereits in den 50er-Jahren Subkulturen entstehen, die sich der vorgesehenen Lebensplanung verweigern, in der die Lohnarbeit im Zentrum steht: Eckensteher, Halbstarke, Langhaarige, Gammler… Er geht insbesondere darauf ein, wie die Gesellschaft auf diese Art von Delinquenz reagiert hat und blickt sowohl in die BRD als auch in die DDR.

Ab den 50er Jahren treten in der BRD verschiedene Sozialtypen ins Zentrum von gesellschaftlichen Debatten – etwa Eckensteher, Halbstarke, Langhaarige oder Gammler. An diesen Figuren verdichteten sich auf je unterschiedliche Weise Diskurse über jugendliches Verhalten, Männlichkeit und Weiblichkeit, die Nutzung des öffentlichen Raumes und die Zuständigkeit des Staats. Zentral war dabei auch die tatsächliche oder unterstellte Verweigerung der (Lohn-)Arbeit. Die gegen Abweichler*innen in Stellung gebrachte Nützlichkeitsideologie wurde von Denormalisierungsängsten grundiert und mobilisierte neue Regierungstechnologien, führte aber langfristig zu veränderten Rollenbildern. Bodo Mrozek (Historiker am Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam) geht auf diese Debatten und auf Selbstbeschreibung und Fremdzuschreibung dieser Jugendlichen ein. (via)

    Download: via AArchiv (mp3; 108.1 MB; 1:07:26 h)

Bodo Mrozek spielt im Vortrag zwei Lieder, die in der Aufnahme nicht enthalten sind: Antoine »Les élucubrations« (bei h 1:04), Freddy Quinn »Wir« (bei h 1:06).

2.) Beat und Gammler, Konsum und Verweigerung – Jugend in Westdeutschland

Interview mit Wolfgang Seidel über die „Long Sixties“ in Westdeutschland:

„Alle reden von 1968 – Wir auch.“ Das ist in der aktuellen Programmzeitung von Radio Corax zu lesen. Es ist zugleich hinzugefügt, dass wir einen Unterschied machen wollen: wenn wir das Jubiläum „50 Jahre 1968“ thematisieren, dann mit einer gehöriger Portion Misstrauen gegenüber dem offiziellen Gedenk-Kanon. Die Fokussierung auf das Jahr 1968 ist verkehrt – es geht um eine langfristigere Entwicklung. Und diese Entwicklung war am wenigsten von der Studentenbewegung geprägt, wenngleich sich aus ihren Reihen diejenigen erhoben haben, die für Hartz IV und die Agenda 2010 verantwortlich sind. Das sagt Wolfgang Seidel – Drummer in der Gründungskonstellation der Ton-Steine-Scherben, Musiker und Autor. Wir sprachen mit ihm über seine Perspektive auf 1968 und fragten ihn zunächst, wie er den Jubiläums-Hype um 1968 wahrnimmt. (via)

    Download: via FRN (mp3; 28 MB; 17:36 min)

Im Vortrag formuliert Wolfgang Seidel (u.a. „Wir müssen hier raus! Krautrock, Freebeat, Reeducation“ – Interview zum Buch hier) eine Kritik der sogenannten 68er-Bewegung – er rekonstruiert, wie der studentische Teil der Bewegung in der Selbsthistorisierung den proletarischen Teil der Bewegung verdrängt hat. Er kritisiert in essayistischer Weise außerdem einige regressive Gehalte der 68er-Bewegung.

Kaum ist das Luther-Jahr vorbei, wird dieses Jahr 1968 als historische Wegmarke gefeiert. Dabei kommt 68 oder „die 68er“ untrennbar angekettet daher an die Begriffe Studentenbewegung oder Studentenrevolte. Die sollen, so der Tenor des Jubiläumsjahres, zwar nicht ihre sozialistischen Träume verwirklicht haben. Aber sie hätten eine Kulturrevolution vollbracht, die gescheiterte bürgerliche Revolution von 1848 vollendet, das Land demokratisiert und entnazifiert – also das moderne Deutschland geschaffen, das mit moralischem Überlegenheitsanspruch in der Welt auftreten darf.

Dazu eine Binsenweisheit: Geschichte wird von den Siegern geschrieben. Aus den Studenten von damals sind die Professoren, Journalisten, Autoren von heute geworden, die die Geschichtsschreibung bestimmen. Tatsächlich war die Zahl der Studenten gering. In den 1960ern machten nicht einmal 10% eines Jahrgangs Abitur. Davon waren nur wenige Teil des linken Spektrums, das heute als „die 68er“ erscheint. Dementsprechend begrenzt war ihre politische Wirkmacht. In Frankreich wurden die Studentenproteste erst dann für die Regierung De Gaulles bedenklich, als die Arbeiter von Renault die Fabriken besetzten. Der nicht studentische Teil des Protestes gegen die alten, autoritären Strukturen wie die Lehrlingsbewegung ist heute aber weitgehend vergessen.

Im Medien-Zeitalter hängt die Diskurshoheit ganz wesentlich davon ab, wer die einprägsamsten Bilder produziert. Im Jubiläumsjahr werden wir durch alle Medien hindurch eine Wiederholungsschleife erleben mit Bildern von untergehakt unter roten Fahnen voranstürmenden Demonstranten, der von einem Polizisten erschossene Benno Ohnesorg, oder den nackt posierenden Mitgliedern der Kommune und Uschi Obermaier mit dem Joint in der Hand. Bei dieser doppelt gefilterten Geschichtsschreibung fällt sehr viel unter den Tisch wie die Rolle junger Arbeiter und Lehrlinge oder die Rolle der Frauen.

Auch die Fixierung auf die Jahreszahl 68 ist fraglich. Die meisten Veränderungen, die das Land in dem Jahrzehnt von 1960 bis 1970 erfuhr, waren nicht das Ergebnis singulärer Ereignisse oder der Taten heldenhafter Revolutionäre sondern Prozesse, die sich auch ohne die Studentenbewegung auf Grund ökonomischer Entwicklungen und des Generationenwechsels vollzogen hätten. Das fing lange vor 68 an mit den Halbstarkenkrawallen, den Ostermärschen, der Beat-Musik oder den Gammlern, zumeist proletarischen Aussteigern, die die Gemüter der Spießer Mitte der 60er erregten. Man könnte die Frage stellen, ob nicht die von den Gewerkschaften durchgesetzte 5-Tage-Woche mehr für die kulturelle Veränderung getan hat, als die gesamte Textproduktion des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes.

Die 5-Tage-Woche war das Ergebnis des nach dem Krieg notwendig gewordenen Kompromisses zwischen Kapital und Arbeit und des Nachkriegsbooms. Freizeit ist auch ein Vorgeschmack auf Freiheit. Durch die gestiegenen Einkommen und das Mehr an Freizeit wurde erst so etwas wie eine Jugend- oder Popkultur möglich. Die ist zwar durchaus ambivalent in ihrer Mischung aus Freiheitsversprechen und Konsumismus. Für die Ideologen der Studentenbewegung aber war sie vor allem eines: angepasst. Die bogen sich das falsch verstandene Wort von der Kulturindustrie zurecht, indem sie es mit dem bürgerlichen antimodernen und antiwestlichen Kulturchauvinismus vermählten. Der Arbeiter, der endlich mehr wollte als nur malochen, war für sie der vom Konsum verblödete „eindimensionale Mensch“, weswegen sie sich ihr „revolutionäres Subjekt“ lieber in einer romantisierten Ferne bei nationalen Befreiungsbewegungen der Dritten Welt suchten. Man könnte die provokante Frage stellen, ob es eine gerade Linie gibt von der, trotz aller sozialistischer Rhetorik, Verachtung des Arbeiters hin zur Agenda 2010. Die haben die 68er ausgeheckt, die es beim Marsch durch die Institutionen an die Spitze geschafft hatten. (via)

    Download: via AArchiv (mp3; 150.9 MB; 1:34:13 h)

Im Interview und Vortrag werden zwei Filme angesprochen: »Das ist unser Haus« (1971), »Allein machen sie dich ein« (1973). Eine schriftliche Version des Vortrags findet sich hier. Eine Reaktion auf Seidels SDS-Kritik findet sich in einem Interview mit Peter Cardorff, das wir hier dokumentiert haben (direkt Nachhören hier).

3.) Politik und Psychedelik: Ostblock-Popkultur zwischen Nonkonformismus und “Normalisierung” 1968 – 1978

Interview mit Alexander Pehlemann über Ostblock-Popkultur 1968 – 1978:

Für die Jugendrevolten um das Jahr 1968 herum gaben Beat und Rock’n’Roll entscheidende Impulse. Dies war nicht nur im Westen der Fall, sondern auch im damaligen Ostblock. Dort gab es zum Teil ganz ähnliche pop- und subkulturelle Entwicklungen, die sich jedoch unter anderen Bedingungen entfalteten: Repression und Auftrittsverbote ließen einen Untergrund im tatsächlichen Wortsinn entstehen. (via)

    Download: via FRN (mp3; 28 MB; 17:25 min)

Alexander Pehlemann (Zonic) erkundet in seinem Vortrag musikalisch-subkulturelle Milieus des Ostblocks im Jahrzehnt nach 1968. Er schildert kenntnis- und anekdotenreich subkulturelle Zusammenhänge und Szenen in verschiedenen Ländern des Ostblocks und befördert dabei Radikales wie Skurriles zutage. Es ist im Grunde der gleiche Vortrag, den wir bereits hier dokumentiert haben.

Das Jahr 1968 war weltweit ein Aufbruch in vehementer Ablehnung der Verhältnisse, oft getragen vom Nonkonformismus der Hippie-Bewegung, die sich schnell auch in den Ländern des Warschauer Pakts etablierte. Deren „Love, Peace & Happiness“ wurde dort wegen der transportierten radikal-demokratischen, sexuell libertären, pazifistischen oder spirituellen Ideen schnell zur Provokation, auf die repressiv reagiert wurde. Am extremsten in der ČSSR nach dem Einmarsch des Warschauer Pakts im August 1968, der den „Prager Frühling“ beendete und die sogenannte „Normalisierung“ auslöste. Aber die Saat der Subkultur konnte nicht komplett unterdrückt werden, zumal das System sich im Widerspruch bewegte, den antikapitalistischen Jugend-Bewegungen des Westens wie der Dritten Welt aufgeschlossen gegenüber wirken zu wollen. Parallel entwickelten sich so auch Tendenzen der Tolerierung und sogar Förderung, die mit Einhegung und Reglementierung einhergingen, jedoch auch zu einer einzigartigen Phase gegenseitigen kulturellen Austauschs führte. Die mehrmedial unterfütterte Präsentation von „Post ´68“ wird daher nicht nur die jugendkulturelle und künstlerische Opposition betrachten, sondern zugleich das widerspruchsreiche Einsickern ihrer Ästhetik, in dessen Vor- und oft auch Rückbewegungen. Dabei geht es quer durch den gesamten Ostblock mit den jeweiligen Landesbedingungen sowie einmal durch die Dekade 1968-1978, an deren Ende mit Punk ganz neue radikale Ansätze kamen. An dem mit der Charta 77, gegründet in Reaktion auf die Unterdrückung künstlerischen Ausdrucks, sowie in Polen mit dem Komitee zur Verteidigung der Arbeiter zudem auch zwei politische Gruppen existierten, die den Beginn des Wegs zum Systemkollaps von 1989 markierten. (via)

    Download: via AArchiv (mp3; 217.2 MB; 2:15:35 min)

4.) Der Beginn einer Epoche? Eine kurze Geschichte von Detournement und Récupération des Mai ’68

Im Rahmen der KSR-Veranstaltungsreihe fand zum einen ein Vortrag über die Situationistische Internationale, andererseits ein Wochenendseminar über 1968 in Frankreich, Italien und weltweit statt. Im Vorfeld beider Veranstaltungen hat Radio Corax ein Interview mit Negator (der den Vortrag gehalten hat) und Kazimir (der am Wochenendseminar beteiligt war) über die Situationisten und den französischen Mai 1968 geführt, das wir bereits hier dokumentiert haben (hier zum Nachhören). Im Vortrag rekonstruiert Negator (Biene Baumeister Zwi Negator) die Ereignisse des Mai 1968 in Frankreich und geht dabei insbesondere auf die Situationistische Internationale ein, deren Vorgeschichte und Revolutionstheorie er einführt.

Sie haben „Deutschland wahlweise gründlich zivilisiert“ oder „an die Wand gefahren“: DIE 68er, vor dreißig, vierzig Jahren von den Punks noch als jener kumpelige Führungsnachwuchs gehasst, der nun die Zwänge im mitbestimmbaren Gewand exekutierte; Modernisierungsadel, Minister, Avantgarde für jeden Scheiß; in der Toskana, in Rente, verarmt – oder auch schon längst tot, verzweifelt daran, dass alles so weiterging. Aber auch in Italien, England, Mexiko, Japan oder den USA, ganz besonders aber Frankreich hat sich ein spektakuläres Bild von 68 in den Gencode nationaler Modernisierungserzählungen eingefressen, das vom allgegenwärtigen rechtsnationalistischen Backlash vehement bekämpft, inzwischen mit seinen Protagonisten von der Bühne abtritt. Was bleibt? Global scheint von der mit 68 konnotierten Erinnerung kaum mehr anderes kenntlich als die Modernisierung des Antisemitismus und des Antiamerikanismus. Das Projekt des Antiimperialismus und Kulturrelativismus, um 68 so gründlich modernisiert, hat sich im Islamismus wiedergefunden oder im Staat als letztlicher Appellationsinstanz.

Wars das? Dann wären alle jene massenhaft in den 60er Jahren weltweit manifest gewordenen Sehnsüchte und Hoffnungen nichts weiter als notwendiges Vorspiel zum gegenwärtigen dystopischen Resultat gewesen, jenes spektakulären Monologs des Weltzustands, der von sich nichts anderes mehr zu sagen weiß als: Es ist.

Wie aber die Arbeit der Widersprüche in der wechselhaften Epoche um dieses zum spektakulären Bild geronnenen Jahres 68 herum vor sich ging, wie ein Bewusstsein der Möglichkeiten über die Wiederaufnahme revolutionärer Kritik sich bildete und wieder verfiel, soll an einer der damals bewusstesten Assoziationen und ihrem Vorgehen namentlich in Frankreich dargestellt werden: der Situationistischen Internationale.

Erwartet werden darf eine kurze Geschichte von Detournement und Récupération im Mai ’68 – anlässlich des Jubiläums multimedial dargeboten durch Teile des Autor_en*kollektief Biene Baumeister Zwi Negator. (via)

    Download: via AArchiv (mp3; 191.1 MB; 1:59:17 h)

Die Radiosendung, die Negator im Vortrag anspielt, ist vollständig zum Nachhören hier dokumentiert.

5.) Zur Geschichte eines Bruchs: 1968 in globaler Perspektive

Vom Weimarer Wochenendseminar gibt es den Mitschnitt eines Input-Referats von Bernd Gehrke (AK Geschichte sozialer Bewegungen Ost-West). Im Vortrag rekonstruiert er global-gesellschaftliche und ökonomische Bedingungen der 68er-Revolte, macht einen Durchgang durch verschiedene Länder des Ostblocks und geht dabei auch auf marxistische Debatten jener Zeit ein.

    Download: via AArchiv (mp3; 108.7 MB; 1:07:50 h)

7.) Das Unvorstellbare ist nicht das Unmögliche: Herrschaftskritik und Literatur in der Zeitschrift ‚Die Schwarze Botin‘

Interview mit Katharina Lux über die Zeitschrift „Die Schwarze Botin“:

Die Zeitschrift „Die Schwarze Botin“ erschien von 1976 bis 1987 in 31 Ausgaben. Diese Zeitschrift zeichnete sich durch einen Anspruch auf Radikalität und Negativität aus, formulierte eine feministische Kritik am Feminismus und kam äußerst stilbewusst daher.

Katharina Lux (u.a. „Outside the Box“) wird am 07.06.2018 in der ACC Galerie Weimar einen Vortrag über „Die Schwarze Botin“ halten. Im Gespräch mit Radio Corax rekonstruiert sie die Entstehung und Entwicklung der Frauenbewegung, aus der heraus „Die Schwarze Botin“ entstand. Zunächst fragten wir sie, wie sie auf die Zeitschrift gestoßen ist. (via)

    Download: via FRN (mp3; 108.7 MB; 1:07:50 h)

Im Vortrag schildert Katharina Lux (Outide the Box) die Entstehung der autonomen Frauenbewegung und deren unterschiedliche Flügel. Im Zentrum des Vortrags steht dann die Kritik, die die Schwarze Botin an der Frauenbewegung aus feministischer Perspektive entwickelt hat, wobei sie auch auf Widersprüche und Schwachstellen dieser Kritik eingeht.

In Mitten der Revolte von 1968 und des Auflösungsprozesses des SDS nahm die Frauenbewegung mit der Gründung sozialistischer Frauengruppen wie dem Aktionsrat zur Befreiung der Frau und dem Frankfurter Weiberrat ihren Anfang. Das Ziel der Linken, alle Verhältnisse umzuwälzen, in denen der Mensch ein geknechtetes Wesen ist, verfolgte die Frauenbewegung konsequent: Kein Verhältnis – auch nicht das hierarchische Geschlechterverhältnis – sollte so bleiben wie es war. Bis Mitte der 1970er Jahre gründeten sich zahlreiche Frauenzentren und Frauengesundheitszentren, Selbsterfahrungsgruppen und Zeitschriften, die autonom von den gemischtgeschlechtlichen Gruppen der Linken, den Parteien und Gewerkschaften agierten. Sie waren die Orte, an denen eine gemeinsame Sprache gesucht und Erfahrungen geteilt, Begriffe und Theorien entwickelt und diskutiert wurden. Als Organe der Selbstverständigung und Kommunikation gründeten sich 1976/77 drei der wichtigen überregionalen Zeitschriften der autonomen Frauenbewegung, wenn auch mit unterschiedlichen Zielen: Courage. Berliner Frauenzeitung, Emma und Die Schwarze Botin.

Herausgeberin der Schwarzen Botin war die Historikerin Brigitte Classen. In der Redaktion arbeiteten neben Classen in unterschiedlicher Besetzung die Journalistin und spätere Schriftstellerin Gabriele Goettle, die Juristin Branka Wehowski, die Schriftstellerin Elfriede Jelinek und die Übersetzerin Marie-Simone Rollin mit. Ab 1983 war die Architektin Marina Auder Verlegerin der Zeitschrift. Bis zur letzte Ausgabe 1987 erschien die Schwarze Botin einunddreißig Mal in einer Auflage zwischen 3000 und 5000 Exemplaren. Die Zeitschrift versammelt wissenschaftliche Aufsätze, Essays, literarische Texte und Gedichte, Collagen, Glossen und satirische Kommentare. Sie lässt sich nicht eindeutig zuordnen: Sie ist weder ein wissenschaftliches Journal im akademischen Sinne, noch eine reine Literaturzeitschrift, noch ist sie eine Szene-Zeitschrift der Frauenbewegung, in der Informationen über Frauenzentren und Frauenfeste veröffentlicht werden, wie es in anderen Zeitschriften der autonomen Frauenbewegung der Fall war. Eindeutig aber ist die Zeitschrift in ihrem Anspruch, der „kritischen Auseinandersetzung mit feministischer Theorie und Praxis einerseits und der Zerstörung patriarchalischen Selbstverständnisses andererseits“ (Die Schwarze Botin) dienen zu wollen. Feministische Ideologiekritik war für die Zeitschrift die Kritik des gesellschaftlichen Bewusstseins und damit auch die (Selbst)Kritik des feministischen Bewusstseins. Was die Zeitschrift zu einem ungewöhnlichen Zeugnis ihrer Zeit macht, ist jedoch weniger die feministische Kritik des Feminismus als vielmehr die Mittel und der Modus der Kritik: Die Ideologiekritik der Schwarzen Botin vereinte provokative Satire und das Beharren auf der Negativität der Kritik. (via)

    Download: via AArchiv (mp3; 100.4 MB; 1:02:39 h)

8.) Züri brännt: Über die Jugendrevolten der ’70er und ’80er Jahre in der Schweiz

Der 7. Teil der KSR-Veranstaltungsreihe endete mit einer Doppelveranstaltung: Einem Vortrag von Miklós Klaus Rózsa und einer Vorführung des Films „STAATENLOS – Klaus Rózsa, Fotograf“ von Erich Schmid. Der Film zeigt Lebenswege von Klaus Rózsa und wie er sich mit der Polizeigewalt, die er dokumentiert hat und von der er betroffen war, und mit seiner jüdischen Vergangenheit auseinandersetzt. Hier zunächst das Interview mit Erich Schmid:

Klaus Rózsa ein bekannter, politisch engagierter Fotograf, lebte jahrzehntelang staatenlos in Zürich.Der Film arbeitet chronologisch und dokumentarisch das bisherige Leben von Klaus Rózsa auf. 1956 aus Ungarn geflohen, wuchs er in der Schweiz mit einem jüdischen Vater auf, der Auschwitz überlebte. Klaus Rózsa dokumentierte über Jahrzehnte die politischen Bewegungen von unten. Rozsa wurde mit 17 Jahren bei Protesten zu der Schließung des AJZ Bunker 1972 politisiert und diese Zeit fing er auch an zu fotografieren und Protest und polizeiliche Gewalt zu dokumentieren. Fokus des Films liegt auch auf der Staatenlosigkeit von Rozsa. Jahrzentelang lebte Klaus Rozsa in Zürich, alle seine Einbürgerungsversuche, 3 an der Zahl, wurden aus politischen Gründen abgelehnt. Wir haben uns mit Erich Schmid über seinen Film unterhalten und über die Hintergründe der Entstehung, und welche Prozesse der Film bei den Mitwirkenden ausgelöst hat. (via)

    Download: via FRN (mp3; 17 MB; 18:10 min)

Interview mit Miklós Klaus Rózsa:

1968 fand – wenn auch mit etwas Verzögerung – auch in der Schweiz statt. Die Kämpfe wurden dort vor allem immer wieder um Autonome Jugendzentren geführt – so im Jahr 1968 bei den Globuskrawallen oder 1980 beim Opernhauskrawall.

Am kommenden Donnerstag wird Miklós Klaus Rózsa in der ACC Galerie Weimar über die Jugendrevolten in den 70’er und 80’er Jahren in der Schweiz sprechen. Wir sprachen mit ihm vorab am Telefon über sein Vortragsthema und fragten ihn zunächst, was die Chiffre „1968“ in der Schweiz bedeutete. Zuletzt fragten wir ihn nach seiner Erfahrung mit Antisemitismus in linken Zusammenhängen. (via)

    Download: via FRN (mp3; 32 MB; 20:09 min)

Im Vortrag schildert Miklós Klaus Rózsa Verläufe der 68er-Bewegung in der Schweiz und deren Übergang in die Schweizer Jugendrevolten der 80er-Jahre. In der Schweiz drehten sich die Konflikte immer wieder um den Kampf um autonome Jugendzentren.

Am 30. Oktober 1970 eröffnete der Zürcher Stadtrat in einem Luftschutzkeller den Lindenhof-Bunker. Es sollte ein Autonomes Jugendzentrum sein. Der Bunker wird in der Folge rege frequentiert. Bereits Ende Dezember wird die, inzwischen besetzte, Autonome Republik Bunker durch die Polizei geräumt. Wenig später entsteht dort die Tiefgarage Urania. Hätte der Stadtrat (Exekutive) geahnt, was diese Schließung bewirken wird, er hätte wohl auf die Eröffnung des Zentrums oder auf die Schließung verzichtet.

Auf jeden Fall haben die 68-er Unruhen das Leben zumindest in Zürich, wenn nicht in der ganzen Schweiz, verändert. Die Jugend war nicht mehr bereit, alles als göttlich gegebene Ordnung hinzunehmen. In den 70er Jahren war natürlich die Anti-AKW Bewegung im Brennpunkt. Neben dem Dauerbrenner um den Kampf für autonome Räume, alternative Lebensformen und gegen die totale Kommerzialisierung des Lebensraumes.

Die 8oer Jahre waren geprägt von der Radikalisierung der Jugend: Nach Jahrzehntelangem Kampf um selbstverwaltete Räume, war die Jugend nicht mehr bereit, es bei friedlichen Protesten zu belassen. Dass die Repression in der Schweiz extreme Ausmaße annahm, dürfte immer noch – oder wieder, überraschen.

Die zweite Hälfte des Jahrzehnts war geprägt von einer kulturellen Entwicklung und dem Versuch, das von der Jugendbewegung erreichte nicht wieder zu verlieren. Die Wohnungsnot wurde immer drängender, die Gentrifizierung forderte ihre Opfer: Die Drogenszene nahm gigantische Ausmaße an und Zürich wurde zum Zentrum der europäischen Hausbesetzerszene. (via)

    Download: via AArchiv (mp3; 123.5 MB; 1:17:03 h)

Der Titel des Vortrags ist eine Reminiszenz an den Film „Züri brännt„. Ein Interview mit Christian Koller über die im Vortrag erwähnten Opernhauskrawalle gibt es hier.

Talkin‘ bout a Revolution?! #2

1968 als multipolares Weltereignis

1868 war ein multipolares, mehrdimensionales Weltereignis. Nicht nur, dass die von 68 ausgehende Bewegung in ihrem Selbstverständnis internationalistisch war – weltweit brachen in den Fabriken und Universitäten ähnliche Konflikte auf, in der sogenannten 3. Welt formierten sich anti-koloniale Befreiungsbewegungen. Es verallgemeinerte sich die Jugend als eigenständiger Lebensabschnitt, der mit einem spezifischen Warenangebot versehen und mit diversen Konflikten verbunden ist. Es formieren sich überall Gruppen, die sich dissident zum damals vorherrschenden Modell kommunistischer Parteien verhielten und eine Revision des Marxismus vornahmen (später bezeichnet als „Neue Linke“). All dies ist verbunden mit einer wechselseitigen Bezugnahme und gegenseitigen Beeinflussung. (Siehe auch diesen Text.) Im zweiten Teil unser 68er-Reihe (Teil 1 hier) beleuchten wir die internationale Dimension von 1968.

1.) Die Situationisten und der Pariser Mai 1968

Die Situationistische Internationale gehört zu den oben genannten dissidenten Gruppierungen, die bereits ab Mitte der 50er Jahre zu wirken begannen und später zu wichtigen Stichwortgebern der 68er-Revolte geworden sind – wobei es den Situationisten selbst darum ging, der radikalste und theoretisch versierteste Ausdruck der revolutionären Bewegung zu sein. Im Gespräch rekonstruieren Kazimir und Negator (BBZN) die Rolle der Situationisten im Pariser Mai 68 und gehen dabei auf die historische Situation im Frankreich der 60er Jahre ein. (Siehe auch die Buchbesprechung zu „Paris Mai 68 – Die Phantasie an die Macht„. Siehe auch „Midnight Notes: Zwei Sendungen über 1968„.)

In der Nachkriegszeit bildeten sich überall neue, linksradikale Gruppen heraus, die nach Organisierungsmodellen jenseits der kommunistischen/sozialistischen Parteien und der traditionellen Gewerkschaften suchten. Zu ihnen gehörte auch die „Situationistische Internationale“ (1957 – 1972). Die Situationisten waren auch während der Maitage 1968 in Frankreich aktiv. Wir sprachen mit Negator und Kazimir über die Situationisten und den französischen Mai ’68. [via]

    Download: via FRN (mp3; 76 MB; 55:13 min)

2.) Italien: Ein Kampfzyklus 1960-1980

Eine weitere dissidente neo-marxistische Strömung ist später mit dem Stichwort „Operaismus“ bezeichnet worden und ist eng mit den Klassenkämpfen in Italien verbunden. Das besondere an der italienischen Situation besteht darin, dass hier radikale Studentenbewegung und militante Fabrikkämpfe eine Verbindung eingegangen sind und sich die Kämpfe über beinahe zwei Jahrzehnte hinweg zogen – bis hin zu bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen in den 70er Jahren. Über diesen Kampfzyklus und den Operaismus war Christian Frings im Gespräch. (Über Italien siehe auch ein Gespräch mit Thomas Bremer.)

Die Ereignisse, die üblicherweise mit der Chiffre „1968“ bezeichnet werden, zogen sich in Italien über beinahe drei Jahrzehnte hin. Die Auseinandersetzungen waren in Italien besonders intensiv. Wir sprachen mit Christian Frings über die italienische Gesellschaft der Nachkriegszeit, die Ereignisse von 1960 und 1962, die Operaisten, den heißen Herbst 1969, die 77er-Bewegung und die Strategie der Spannung. Am Ende schlagen wir den Bogen zur Gegenwart.

Zunächst fragten wir nach der Nachkriegszeit in Italien. Italien hatte eine faschistische Vergangenheit, hier hatte es jedoch eine starke Resistenza-Bewegung gegeben. Inwiefern hat dies die Nachkriegszeit bestimmt? [via]

    Download: via FRN (mp3; 61 MB; 38:01 min)

3.) 1968 international – ein grenzenloser Aufbruch

Unter dem Titel „1968 international – ein grenzenloser Aufbruch“ hat die Zeitschrift iz3w im Januar/Februar 2018 eine Schwerpunktausgabe veröffentlicht. Die Ausgabe hat sich nicht nur mit 1968 im globalen Süden auseinandergesetzt, sondern auch mit der Geschichte der Zeitschrift selbst – denn 50 Jahre 1968 und 50 Jahre iz3w fielen zusammen (in diesem Zusammenhang hat iz3w auch einiges Audiomarterial veröffentlicht: hier). Im Gespräch mit dem iz3w-Redakteur Christian Stock gibt es einen kusorischen Überblick über 1968 im globalen Süden.

Im Rahmen unserer Sendereihe über 1968 wollen wir den Rahmen des nationalen Geschichtsbewusstseins verlassen und 1968 als ein globales Geschehen in den Blick nehmen. Dazu passend hat die Zeitschrift „iz3w“ im Januar/Februar ein Themenheft veröffentlicht. Wir sprachen mit dem Redakteur Christian Stock über diese Ausgabe und 1968 im globalen Süden. Zunächst baten wir ihn, das iz3w vorzustellen. [via]

    Download: via FRN (mp3; 21 MB; 13:17 min)

4.) 1968 in Afrika

In der im April/Mai 2018 folgenden Ausgabe von iz3w hat Bernhard Schmid einen Artikel mit dem Titel „1968: Révolution Afrique“ geschrieben. Im Gespräch mit Radio Dreyeckland skizziert er Ereignisse um das Jahr 1968 herum in Afrika.

Das magische Revoltenjahr gab es nicht nur in Europa und den USA auch in Mexiko und im frankophonen Afrika war es ein Jahr der Revolte und mehr als ein Anhängsel von Paris oder Westberlin. Der Frankreichskorrespondent von Radio Dreyeckland, Bernard Schmid vertritt sogar die These, dass es den Mai 68 in Paris ohne den Kontakt der französischen Linken jenseits der KP so garnicht gegeben hätte. Das Interview könnt Ihr hier nachhören oder den Artikel im neuen Heft der iz3w nachlesen. [via]

    Download: via RDL (mp3; 8.1 MB; 8;59 min)

5.) Das Massaker von Tlatelolco

Im oben dokumentierten Gespräch mit Christian Stock (iz3w) wird die harte Repression des mexikanischen Staates gegen die Studentenbewegung von 1968 erwähnt. Zentral war dabei das Massaker von Tlaltelolco – ein Massenmord an 200 bis 300 friedlich demonstrierenden Studenten im Stadtteil Tlatelolco von Mexiko-Stadt. Über diesen Massenmord und seine (ungenügende) Aufarbeitung sprach Radio Dreyeckland mit dem Historiker Julián. (Siehe ein weiteres Gespräch mit Julián über Proteste und Gewalt vor dem 02.10.1968.)

Historiker Julián erzählt uns von einem menschenverachtenden Kapitel der mexikanischen Geschichte, als am 2. Oktober 1968 der Staat der Studierendenbewegung gewaltsam ein Ende setzte. Das „Bataillon Olympia“, war eigentlich für die Sicherheit der olympischen Spiele verantwortlich und verursachte heute vor 50 Jahren ein Blutbad.

Während des ganzen sogenannten „Schmutzigen Krieges“ in Mexiko verschwanden etwa 1.200 Personen; man spricht von Folter und politischen Gefangenen, sogar von einer Geheimpolizei. [via]

    Download: via RDL (mp3; 15 MB; 9:34 min)

6.) 1968 in der DDR, der Tschechoslowakei und Polen

Auch im Ostblock war 1968 ein Jahr der Bewegungen und Proteste – und die Entstehung der „Neuen Linken“ im Westen ist auch von zentralen Verschiebungen im Ostblock beeinflusst (die Geheimrede Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU, der Aufstand in Ungarn 1956, der Prager Frühling 1968). In der DDR lässt sich kaum von einer 68er-Bewegung sprechen – und doch war es auch hier ein Jahr der Proteste und Konflikte. Das ist die These von Bernd Gehrke (AK Geschichte Sozialer Bewegungen Ost West), der im Gespräch einen Überblick über Bewegungen und Ereignisse um 1968 herum in der DDR, der Tschechoslowakei und Polen gibt. (Siehe auch Bernd Gehrke über das „proletarische 1968“ hier.)

Auch wenn in der DDR 1968 keine vergleichbare Revolte stattfand wie in der BRD, war es doch auch hier ein Jahr außerordentlicher Proteste. Dabei ging es sowohl um subkulturelle Bewegungen als auch um Auseinandersetzungen um Öffentlichkeit in den Betrieben.

In der Tschechoslowakei und in Polen fanden unterdessen Ereignisse statt, die für 1968 zentral waren: In der CSSR leuteten Gewerkschaften und kritische Intelligenz den Prager Frühling ein, der schließlich niedergeschlagen wurde. Auch in Polen gab es eine Studentenbewegung, die für eine Demokratisierung des Sozialismus eintrat – sie wurde niedergeschlagen und die Partei leitete eine antisemitische Kampagne ein.

Hinter all dem steht ein längerer Entwicklungsprozess, für den das Jahr 1956 zentral ist: Anfang dieses Jahres sprach Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU über die Verbrechen Stalins – am Ende des Jahres wurde die Räte-Bewegung in Ungarn niedergeschlagen. Die Räte sind immer wieder Bezugspunkt in den nachfolgenden Ereignissen.

Über diese Ereignisse sprach Radio Corax mit Bernd Gehrke. Wir fragten ihn zunächst nach der Quellenlage und danach, woran es liegt, dass „1968 in der DDR“ in der heutigen Öffentlichkeit kaum präsent ist. [via]

    Download: via FRN (mp3; 76 MB; 55:08 MB)

7.) 1968 in Japan

Auch in Japan gab es 1968 eine starke Studentenbewegung, die dort besonders radikal und militant auftrat. Die in Japan geführten Kämpfe, in deren Zusammenhang die Zengakuren zentral waren, wurden weltweit zu einem Vorbild und diese suchten ihrerseits Kontakte zu Gruppierungen der Neuen Linken in anderen Ländern. Die Entwicklung der Bewegung, ihre Militarisierung und Sektenbildung, hat für die Japanische Linke bis heute traumatisierende Folgen. William Andrews hat eine Forschungsarbeit unter dem Titel „Japanese Radicalism and Counterculture, from 1945 to Fukushima“ veröffentlicht. Ein erweiterter Auszug aus diesem Buch über die Japanische Rote Armee ist in deutscher Übersetzung bei Bahoe Books erschienen. Andrews sprach mit Corax über 1968 in Japan. Das Interview wurde in englischer Sprache geführt.

Die Stärke der japanischen Linken strahlte in den 1960er Jahren in die ganze Welt. Die Studierendengewerkschaft Zengakuren machte aus den japanischen Universitäten verbarrikadierte Stützpunkte und Ausbildungszentren des Klassenkrieges. Auf riesigen Demonstrationen kämpften tausende behelmte und mit Stöcken bewaffnete Studenten gegen die Polizei. Auf internationalen Konferenzen mit Gruppen wie den Students for a Democratic Society, dem Weather Underground, den Black Panthers oder dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund, wurde versucht durch intensive Vernetzung eine weltweite simultane Revolution denkbar zu machen. Hierzulande ist über 1968 in Japan jedoch relativ wenig bekannt.

William Andrews lebt in Tokyo und forscht zur Geschichte der sozialen Bewegungen in Japan. Wir sprachen mit ihm per Skype und fragten ihn zunächst, wie sein Interesse an der japanischen Geschichte zustandekam und nach den Gründen, letztlich nach Japan zu ziehen. [via]

    Download: via FRN (mp3; 61 MB; 37:49 min)

8.) DRUM Beats Detroit – Schwarze Fabrikrevolten 1968

1968 war Detroit ein Zentrum der Fabrikrevolten, die eng mit antirassistischen Kämpfen verbunden waren. Die Heftigkeit und Militanz der Bewegung in Detroit ist historisch verbunden mit der Rolle der Stadt im 2. Weltkrieg, den ökonomischen Verschiebungen nach 1945 und der rassistischen Segregation. Auch in Detroit enstanden Gruppierungen der Neuen Linken, die marxistische Analyse und eine Thematisierung der spezifischen Situation schwarzer FabrikarbeiterInnen miteinander verbanden. Christian Frings, Felix Klopotek, Malte Meyer und Peter Scheiffele haben einen Text darüber geschrieben. Auf Basis dieses Textes und eines Interviews mit Felix Klopotek ist im Rahmen der Sendereihe Wutpilger-Streifzüge ein einstündiges Feature entstanden. (Siehe auch ein Interview in der Jungle World.)

    Download: via archive.org (mp3; 137.3 MB; 1 h)

Im nächsten Teil der Beitragsserie widmen wir uns den Theoretikern der „Neuen Linken“.

Midnight Notes: Zwei Sendungen über 1968

Anlässlich der 30. Jährung des Pariser Mai 1968 hat das politische Magazin „Midnight Notes“ beim FSK im Jahr 1998 eine zweiteilige Sendung produziert. Die Sendungen geben nicht nur einen Einblick in die Mai-Ereignisse in Frankreich, sondern gleichzeitig einen guten Eindruck einer gewissen Ästhetik in der Szene der Freien Radios in den 90er Jahren…

1.) Die erste Sendung konzentriert sich vor allem auf eine Schilderung des Pariser Mai 1968: Der Aufstand der Studenten, die Dynamik des danach folgenden Generalstreiks und das Ende der traditionellen Linken. Material sind dabei vor allem die Schilderungen des libertären Trotzkisten Maurice Brinton, der im Mai 1968 in Paris zugegen war. Zu Wort kommen auch Lutz Schulenburg und Hanna Mittelstädt (Edition Nautilus).

    Download: via AArchiv (mp3; 84.2 MB; 1 h)

2.) In der zweiten Sendung geht es vor allem um dissident-marxistische Gruppen, die um 1968 herum Stichworte für ein autonomes Agieren jenseits der traditionellen Linken gaben: Socialisme ou barbarie, die Operaisten und die Situationistische Internationale. Der Fokus liegt dann vor allem auf der Theorie und Praxis der Situationisten.

    Download: via AArchiv (mp3; 83 MB; 1 h)

Kunst, Spektakel & Revolution N°5

Beiträge zur Kritik der Gewalt

Wir haben immer wieder die Vortragsmitschnitte aus der Veranstaltungsreihe Kunst, Spektakel & Revolution dokumentiert. Seit einiger Zeit haben im Rahmen dieses Formats keine Vorträge stattgefunden – trotzdem ist im letzten Jahr eine weitere Ausgabe des gleichnamigen Magazins erschienen, die sich schwerpunktmäßig um einen kritischen Begriff von Gewalt bemüht hat. Um diese Ausgabe herum sind einige Radiobeiträge entstanden, die wir im Folgenden dokumentieren.

1.) Nachrichten aus dem beschädigten Leben

Das Sendungsformat „Nachrichten aus dem beschädigten Leben“ bei Radio Corax hat die fünfte Ausgabe von Kunst, Spektakel & Revolution vorgestellt, wobei einer der Mitherausgeber zu Wort kommt. Es wird allgemein über das Thema Gewalt gesprochen.

[Audio:http://audioarchiv.k23.in/Referate/Kunst_Spektakel_Revolution/KSR-5-Heftvorstellungen/Nachrichten_aus_dem_beschaedigten_Leben__KSR_Gewalt.mp3]

    Download: via AArchiv (mp3; 13:24 min; 21,4 MB)

2.) Missverständnisse über Kulturindustrie

Im Rahmen einer Gemeinschaftssendung von FSK und Radio Corax hat Jakob Hayner ein Interview über seinen Beitrag gegeben. Er hat in der KSR N°5 über „Missverständnisse über Kulturindustrie“ geschrieben. Er kontextualisiert den Begriff der Kulturindustrie innerhalb der „Dialektik der Aufklärung“ von Adorno und Horkheimer und grenzt ihn von anderen Begriffen ab, etwa von dem der Massenkultur.

[Audio:http://audioarchiv.k23.in/Referate/Kunst_Spektakel_Revolution/KSR-5-Heftvorstellungen/Jakob_Hayner_Missverstaendnisse_Kulturindustrie__Interview.MP3]

    Download: via AArchiv (mp3; 13:05 min; 17,9 MB)

3.) Wutpilger-Streifzüge: Zur Kritik der Gewalt

In einer Ausgabe der Sendereihe Wutpilger-Streifzüge im Dezember 2016 wurde ein längeres Feature gesendet, das auf der fünften Ausgabe von Kunst, Spektakel & Revolution basiert. Es kommen darin Roger Behrens, Jakob Hayner, Susann Offenmüller und Lukas Holfeld zu Wort. Unter anderem enthält es Auszüge aus einem Mitschnitt einer Heftvorstellung in Hamburg. Das zugrundeliegende Interview mit Jakob Hayner bezog sich auf eine weitere Publikation zu einem ähnlichen Thema: „Grenzsteine – Beiträge zur Kritik der Gewalt“ (Edition Text und Kritik). Es enthält außerdem Passagen aus der Ausgabe 63/2015 der wertkritischen Zeitschrift „Streifzüge„, die sich ebenfalls dem Thema Gewalt gewidmet hat.

[Audio:http://audioarchiv.k23.in/Referate/Kunst_Spektakel_Revolution/KSR-5-Heftvorstellungen/2016_12_18_Wutpilger_Streifzuege__Gewalt.MP3]

    Download: via Mediafire (mp3; 1 h; 96,1 MB)

4.) Wutpilger-Streifzüge: Destruction of RSG-6

Die Novemberuar/2016-Ausgabe von Wutpilger-Streifzüge hat sich ebenfalls der fünften Ausgabe von Kunst, Spektakel & Revolution gewidmet. Sie enthält einen Vortrag von Lukas Holfeld über die Ausstellung „Destruction of RSG-6“, die im Jahr 1963 von der Situationistischen Internationale in Odense (DK) organisiert wurde. Der Vortrag ist eine Einführung in die Theorie der Situationisten (mit einem Fokus auf deren Verhältnis zur Kunst), schildert Aspekte des kalten Krieges und beschreibt die genannte Ausstellung.

Destruction of the RSG-6

Oder: Wie man die Kunst mit den Mitteln der Kunst zerstört

Im April 1963 veröffentlichte die britische Aktivisten-Gruppe „Spies for Peace“ die Existenz eines geheimen Atomschutzbunker-Systems, das ausschließlich für Mitglieder der britischen Regierung reserviert war: Die „Regional Seats of Government“ (RSG). Mitglieder der Gruppe selbst waren in den RSG-6 in Reading eingebrochen und hatten dort die Pläne der übrigen Bunker gefunden. Die Gruppe veröffentlichte ihre Funde in einer Broschüre, die weltweit für Aufmerksamkeit sorgte und einen enormen Mobilisierungsschub für die außer-parlamentarische Abrüstungs-Bewegung nach sich zog. Im Juni 1963 eröffnete die Situationistische Internationale eine Ausstellung, die mit dem Titel „Destruction of RSG-6″ überschrieben war. Offensichtlich nahm die marxistische, post-surrealistische Gruppe Bezug auf die Funde in Reading. Aber nicht nur das: Die Galerie zeigte den Stand einer Kritik der Kunst, die die S.I. in den Jahren zuvor erarbeitet hatte.

Der Vortrag gibt einen Einblick in die fünfte Ausgabe der Zeitschrift „Kunst, Spektakel & Revolution“ und erzählt die Geschichte der Ausstellung „Destruction of RSG-6″. Dabei werden Fotos von der Ausstellung gezeigt. Zugleich sollen Ansätze der kritischen Theorie der Situationistischen Internationale eingeführt werden. Die Ausgaben 3-5 von KSR können beim Vortrag erworben werden. [via]

[Audio:http://audioarchiv.k23.in/Referate/Kunst_Spektakel_Revolution/KSR-5-Heftvorstellungen/2016_11_20_Wutpilger_Streifzuege__Destruction_of_RSG_6.MP3]

    Download: via Mediafire (mp3; 1:30 h; 144 MB)

6.) KSR-Heftvorstellung in Berlin

Am 24.07.2016 wurde die fünfte Ausgabe von Kunst, Spektakel & Revolution in Berlin im Laidak vorgestellt. Im Vortrag sprechen Julian Kuppe und ein Redaktionsmitglied, das den im Heft enthaltenen Beitrag von Olga Montseny vorstellt. Julian Kuppe umkreist in seinem Vortrag, wie im Spätkapitalismus bzw. in der Postmoderne Identität und Subjektivität prekär werden und was dies für Gesellschaftskritik und Psychoanalyse für Folgen hat. Der andere Vortrag geht ausgehend von den Hamburger Gefahrengebieten darauf ein, wie der Ausnahmezustand zunehmend ein normaler Bestandteil von Ordnungspolitik wird.

Es gibt keine Herrschaft ohne Gewalt. Die Gewalt sachlich vermittelter Herrschaft ist in den Institutionen verborgen und vollzieht sich als stummer Zwang der Verhältnisse. Offen zutage tritt sie in der Peripherie, an den Grenzen, gegenüber „beschwerdearmen Bevölkerungsgruppen“ und im Ausnahmezustand. Sichtbar wird sie auch in der Deformierung der (post)modernen Subjekte. Herrschaft zwingt ihren Gegnern die Frage der Gewalt auf – ist sie einmal in der Welt, muss mit ihr umgegangen werden. Die äußeren Bedingungen und die Wahl der Mittel entscheiden darüber, ob die Revolution ihr (im doppelten Sinne) erliegt. Die im Juli erscheinende fünfte Ausgabe der Broschüren-Reihe „Kunst, Spektakel & Revolution“ beschäftigt sich auf verschiedenen Ebenen mit der Gewalt der Verhältnisse. Wir wollen im Laidak gemeinsam mit mehreren Autoren einen Einblick in das Heft geben. [via]

[Audio:http://audioarchiv.k23.in/Referate/Kunst_Spektakel_Revolution/KSR-5-Heftvorstellungen/KSR_6_Heftvorstellung_Berlin.mp3]

    Download: via AArchiv (mp3; 1:04:47 h; 88,9 MB)

Wer darüber hinaus weiter hören möchte – die Homepage von Kunst, Spektakel & Revolution enthält auch ein ausführliches Archiv mit Audiodateien, die im Zusammenhang mit der Veranstaltungsreihe und dem Magazin stehen.

Der Maulwurf und die Nelken

Krise & Revolution in Portugal

A toupeira e os cravos – Crise e Revolucão em Portugal – O rizoma … 1974 – 2014 / The mole and the carnations – crisis and revolution in Portugal – the rhizome … 1974 – 2014

This article includes one lecture in english language – please have a look at the third capture.

Im letzten Jahr hat die Leipziger Translib eine Veranstaltungsreihe anlässlich der vierzigsten Jährung der portugiesischen Revolution von 1974/75 organisiert. Nach dem Putsch vom 25.04.1974 gegen das faschistische Regime Salazars explodierten in Portugal die Klassenkämpfe und das Proletariat begann sich in großen Teilen in Räten und Komitees selbst zu organisieren. Gegen diese Selbstorganisierungsansätze setzte sich in Portugal nach erheblichen Auseinandersetzungen schließlich die bürgerliche Demokratie durch – die radikalen Tendenzen der »letzten sozialistisch orientierten Revolutionsbewegung der Arbeiter_innen und der Landarmut im alten Europa« sind heute nahezu vergessen. Die Translib hat es sich im Zuge der Veranstaltungsreihe zur Aufgabe gemacht, diesem Vergessen entgegenzuwirken und zahlreiches Material zutage befördert. Dabei ging es nicht um eine rückblickende Glorifizierung dieser Bewegung, sondern um eine Aufarbeitung – so wurde etwa im Rahmen der Reihe immer wieder der Sexismus der Arbeiterbewegung Portugals jener Zeit problematisiert und die Rolle der Frauen herausgearbeitet. Wir dokumentieren im Folgenden die Mitschnitte der Veranstaltungsreihe. Wir hatten damals bereits schon ein Interview zur Veranstaltungsreihe dokumentiert, das gut zur Einführung und Einstimmung gehört werden kann.

Die Veranstaltungsreihe „Der Maulwurf & die Nelken“ / „Topeira e Cravos“ hat zum Gegenstand die revolutionäre communistische Tendenz in der bürgerlichen Gesellschaft, die in den Ereignissen um die „Nelkenrevolution“ in Portugal vor allem in den Jahren 1974 und 1975 als wirkender Faktor in Erscheinung trat. Dieser Teil der Geschichte, als eine von Klassenkämpfen, ist heute weitgehend vergessen oder überhaupt unbekannt, und an seiner Stelle steht das spektakuläre Bild der Aktionen von Militärs und Politikern. Dabei war der Putsch vom 25.4.1974 gegen das faschistische Regime der Anlass zu einer regelrechten Explosion der Klassenkämpfe, die sich schon durch die vielen Streiks und Demonstrationen der Arbeiter_innen Ende 1973 angekündigt hatte, zu einem Zeitpunkt, an dem sich die portugiesische Gesellschaft in einer tiefen Krise befand. Der proletarische Maulwurf wühlte eben schon, bevor die Nelken zu blühen begannen, die dann zum Symbol des friedlichen Umsturzes des faschistischen Salazar/Caetano-Regimes geworden sind. Diese Periode des Klassenkampfes, die in Portugal als „Processo Revolucionário Em Curso” (anhaltender revolutionärer Prozess; abgekürzt: PREC) bezeichnet wird, begann mit einer großen Welle von Streiks und Demonstrationen. Sofort strömten die Menschenmassen spontan auf die Straße, feierten das Ende des alten Regimes und nahmen den Kampf gegen die faschistischen Überreste in der Gesellschaft (zunächst die Geheimpolizei sowie Faschisten in der Leitung verschiedener Unternehmen) selbsttätig auf. Am 1.Mai 1974 war der Aufbruch von Millionen Menschen auf den Straßen der deutlichste Ausdruck des allgemeinen Willens zur Emanzipation von den alten Mächten. Am Vorabend, dem 30. April („Walpurgisnacht“!) hat sich die organisierte Frauenbewegung in Portugal gegründet – die MLM. Wie schwer sie es hatte, machte aber auch zugleich die fatale Rückständigkeit des proletarischen „Maulwurfs“, seine Blindheit deutlich ! Immerhin: überall gab es nun Streiks und Fabrikbesetzungen, und die Arbeiter_innen organisierten sich selbst, unabhängig von den gewerkschaftlichen Apparaten, um ihre Interessen durchzusetzen und teilweise sogar die Produktion in die eigenen Hände zu nehmen. Auch wurden schliesslich viele Ländereien besetzt, und die Landarbeiter_innen schlossen sich zu Kooperativbetrieben zusammen, begannen sich so aus der Armut und Ohnmacht zu befreien. Nachdem im März 1975 noch einmal ein rechter Putschversuch von Arbeiter_innen und Soldaten abgewehrt werden konnte, wurden zunehmend Fragen der Selbstbewaffnung und der Bildung revolutionärer Räte aufgeworfen. Dieser Macht-Klärungsprozess spitzte sich bis Ende 1975 immer weiter zu und konnte erst durch eine große polizeiliche Aktion der unter dem Schutz der „sozialistischen“ Militärdiktatur neuentstehenden bürgerlichen Demokratie unterbunden werden.

Im offiziellen Gedächtnis ist wenig Wahres von dieser abgebrochenen Revolution übrig geblieben. Die Rolle des Proletariats als Maulwurf und Unterminierer der alten feudalen, kolonialen und ebenso der modernen bürgerlichen Gesellschaft und seine Wühlarbeit als revolutionäre Subversion in den Klassenkämpfen wird kaum begriffen, ist aber darum noch lange nicht aus der Welt geschafft. Das Rhizom bleibt! Denn der gesellschaftliche Gegensatz von gesellschaftlicher Arbeit und privatem Klasseneigentum, der immer wieder zur Krise und zum Klassenkampf treibt, wie die Ereignisse der letzten 6 Jahre auf der ganzen Welt mal wieder gezeigt haben, besteht weiterhin und zwingt uns bei Strafe des Untergangs, ihn auf eine neue Weise aufzuheben. Um den schon begonnenen, aber bisher immer wieder gescheiterten Übergang zu einer communistischen Produktions- und Verteilungsweise erneut anzugehen, müssen wir die revolutionären Versuche der Vergangenheit genau studieren, um nicht dem geschichtlichen Wiederholungszwang zu verfallen, ihre alten Fehler erneut zu begehen. An der „portugiesischen Erfahrung“ können wir vor allem lernen, wie und um welchen Preis das Proletariat die politische Macht an das Militär oder an staatstragende Parteien – trotz ihrer vorübergehenden „sozialistischen“ Programme stets die Hüter der bürgerlichen Eigentumsordnung – abgeben kann und wie es passiert, dass wir im Schatten unserer Repräsentation alle unsere Möglichkeiten aufgeben können, endlich zur geschichtlichen Macht, zum selbstbewussten Subjekt zu werden, das heisst für unsere eigene Aufhebung als Proletariat, als Objekt der Lohnsklaverei. Die Zahlungsbilanz der sozialen Kämpfe an Europas Peripherie wirft nach 40 Jahren im Zentrum der neuen Krise unweigerlich, auf allen Ebenen die Frage der Abrechnung auf. [via]

1.) „Nelkenrevolution“ – 40 Jahre PRECärer Aufbruch in Portugal

Die Veranstaltungsreihe wurde mit einer kommentierten Lesung eröffnet. Nach einer Einleitung zum Titel und zur Intention der Reihe begann die Lesung mit einem Auszug des Textes „Wer hat die Macht in Portugal?“ von Maren Sell aus dem Sommer 1974, worin die Vorgeschichte der Revolution und die Ereignisse und Stimmungen unmittelbar nach ihrem Ausbruch beschrieben werden. Im Text „Portugal vor der Entscheidung“ von Tony Cliff aus dem Herbst 1975 wird dann die Dynamik und Entfaltung der Klassenkämpfe beschrieben. Der Text „Der soziale Krieg in Portugal“ des Situationisten Jaime Semprun charakterisiert die Klassenauseinandersetzungen im Zuge der portugiesischen Revolution und bezieht sich dabei vor allem auf die Ereignisse des Jahres 1975. Der Text des Trotzkisten Peter Robinson, „Arbeiterräte in Portugal 1974/75“, aus dem Jahr 2010 enthält Beschreibungen der rätemäßigen Organisierung der Arbeiter, wobei er die Auseinandersetzung um die Selbstverwaltung mehrer Zeitungen fokussiert, und beschreibt das Auslaufen des revolutionären Prozesses. Der Text „Die portugiesische Erfahrung“ des Zeitzeugen Charles Reeve versucht eine Auswertung der gescheiterten Revolution und eine Bestimmung ihrer inneren Schranke, die er vor allem in der Fixierung auf das Militär sieht. Der zweite Teil widmet sich der Erfahrung von Frauen, die an der Revolution teilgenommen, sich in ihrem Zuge ebenfalls selbst organisiert haben und die dabei auf erheblichen Widerstand der Männer gestoßen sind. So werden Auszüge aus den „Neuen Portugiesischen Briefen“ von Maria Isabel Barreno, Maria Teresa Horta und Maria Velho da Costa verlesen. Außerdem wurden einige Stellungnahmen und Flugblätter der Movimente de Libertação das Mulheres (MLM, Bewegung zur Befreiung der Frauen) verlesen. Eine Literaturliste der verlesenen Texte gibt es hier (PDF). Ein Video von dem in der Lesung erwähnten Angriff auf eine feministische Demonstration in Lissabon kann hier gesehen werden, ein Flugblatt der MLM, das auf dieses Ereignis reagiert, gibt es hier.

“A Revolucâo dos Cravos“ – 40 anos de partida PRECária – „Nelkenrevolution“ –40 Jahre PRECärer Aufbruch in Portugal

Wir wollen diese „vergessene Revolution“ am Rande Europas ins Zentrum der Gegenwart, unserer Wahrnehmung bringen – in eine heute noch weiter verschärft krisenhafte Aktualität, deren Alltag ähnlich prekär ist für lohnabhängige Menschen überall, wie sie es bei dem Aufbruch in Portugal vor 40 Jahren war. Und diese – wie jede – Revolution war selbst äusserst brüchig, ja gebrochen, eben prekär: so in ihrer Klassenzusammensetzung, ihren widerspruchsvollen sozialen Interessen-Triebkräften, was in ihrem politischen Durchbruch, Aufbruch und Abbruch als Tumult und „Chaotisierung“, als „Ordnung“ und „Demokratisierung“ erschien. So im Geschlechterverhältnis, im Aufbruch der Frauen aus dem klerikal-faschistischen und unterentwickelt-kapitalistischen Muff patriarchalischer Ausbeutung … Und auch der feministische Emanzipationsanlauf brach sich zunächst noch während jener Revolution an dem Machismo und Sexismus, der in Portugal – natürlich nicht nur dort — bis heute fast ungebrochen dominant geblieben ist.

Aus Anlass der Gründung der portugiesischen Frauenselbstbefreiungsorganisation MLM (Movimento de Libertaçâo das Mulheres) am 30.April 1974 — wenige Tage nach dem Miltärputsch der antifaschistischen Offiziere & Hauptmänner und am Vorabend des 1.Mai, an dem „die Arbeiterklasse und das Volk“ in Portugals Zentren massenhaft als revolutionäres Subjekt, aber auch als bloße Repräsentation auf die Bildfläche trat – in dieser „Walpurgisnacht“ ist die translib ein Ort der Zugänge und des Zusammentreffens: von Bildern und Dokus, Analysen und Stimmen aus jenen Tagen sowie kritischen Blicken der Jetztzeit … Eine Fete ohne Folklore und Tanz in den Mai. Ein Büffet mit Portwein soll es aber geben. [via]

    Download: via AArchiv (mp3; 153 MB; 2:47:09 h)
    Hören bei Youtube: Teil 1 | Teil 2 | Teil 3

2.) Die Abrechnung steht noch aus – 40 Jahre Klassenkämpfe in Portugal

Am 20. Juni 2014 waren im Rahmen der Portugal-Reihe Charles Reeve und Ricardo Noronha zu Gast. Charles Reeve war selbst an der portugiesischen Revolution beteiligt und hat seit dem mehrere Texte über die revolutionären Prozesse aus linkskommunistischer Sicht veröffentlicht. Nach einer Einleitung durch die Translib referiert Reeve auf portugiesisch und wird von Cornelia Döll ins Deutsche übersetzt. Charles Reeve geht es in seinem Vortrag vor allem darum, mehrere Mythen zu zerstören: Ein demokratischer Teil der Armeeführung habe die Revolution gemacht und das faschistische Regime gestürzt; die Portugiesische Revolution sei eine Revolution gewesen, die das heutige bürgerlich-demokratische System erreichen wollte; die Portugiesische Revolution sei ein staatssozialistischer Putsch gewesen. Außerdem skizziert er die Schwierigkeiten der ökonomischen Organisierung des Landes im Zuge der revolutionären Prozesse und sucht nach Ursachen für das Scheitern der Revolution. Immer wieder setzt er sich dabei mit Äußerungen Guy Debords zur Portugiesischen Revolution auseinander.

Ajustar contas ainda abertas – 40 anos de luta de classes em Portugal. Debate acerca da “Revolução dos Cravos/PREC”, com um participante e um activista de Portugal (colaboradores da revista “Tranvía” e do Vol. 15 da “Biblioteca da Resistência”)

Die Abrechnung steht noch aus – 40 Jahre Klassenkämpfe in Portugal. Diskussionsveranstaltung zur „Nelkenrevolution / PREC“ mit Charles Reeve und Ricardo Noronha

Es gibt Orte und Jahreszahlen, die in linken Ohren sofort vertraut klingen und bei Vielen eine Flut von Assoziationen, Bildern und Namen hervorrufen. St. Petersburg 1917, Barcelona 1936 oder Paris 1968 sind längst zu mythischen Chiffren für die Siege und Niederlagen der sozialen Revolution geworden. „Lissabon 1974“ bringt dagegen nichts zum Klingen, ruft keine Namen, Bilder und Parolen hervor. Lissabon 1974 steht in keiner lebendigen Beziehung mehr zu uns, und das wofür die Chiffre einsteht, ist nahezu völlig aus dem historischen Bewusstsein einer sich revolutionär verstehenden Linken gelöscht. Und das obwohl – oder vielleicht: gerade weil – das, was am 25. April 1974 in Lissabon mit einem linken Militärputsch in Gang kam, sich rasant zu der radikalsten und umfassendsten sozialen Revolution ausweitete, die Westeuropa nach dem 2. Weltkrieg erschüttert hat. Denn auf die Absetzung eines faschistischen und kolonialistischen Regimes folgte in Portugal eine riesige Bewegung der Besetzungen, die sich innerhalb weniger Monate zehntausende Wohnhäuser, Betriebe und Landgüter aneignete und sie unter die räteförmige Selbstverwaltung der ausgebeuteten Klassen stellte. Seither gab es wohl keinen praktischen Angriff auf die bestehenden Eigentumsverhältnisse mehr, der den herrschenden Klassen so gefährlich geworden wäre!

Wir möchten an diesem Abend über jene Ereignisse diskutieren. Dafür konnten wir mit Charles Reeve und Ricardo Noronha zwei ganz besondere internationale Gäste gewinnen.

Charles Reeve (*1945) desertierte 1967 aus der portugiesischen Kolonialarmee und lebt seitdem im Pariser Exil. Er war in den Jahren 1974/75 aktiver Teilnehmer des revolutionären Prozesses in Portugal. Bereits im Frühjahr 1976 legte er eine kritische Analyse des Scheiterns der „Nelkenrevolution“ in seiner Broschüre Die portugiesische Erfahrung vor. Die hierin enthaltenen Einsichten sind bis heute maßgebend und wurden von Reeve in mehreren über die letzten 40 Jahre verfassten Artikeln und Essays zum Thema kontinuierlich vertieft, zuletzt in seinem neusten Text Das Unvorhersehbare – unser Territorium. Reeve schreibt unter anderem für die Zeitschrift Wildcat und berichtet seit den 1970ern aus verschiedenen Kontinenten über die Kämpfe und Lebensbedingungen eines in permanenter Umwälzung begriffenen Weltproletariats. Zuletzt erschien 2001 von ihm Die Hölle auf Erden. Bürokratie, Zwangsarbeit und Business in China in deutscher Übersetzung bei Edition Nautilus.

Ricardo Noronha arbeitet als Sozial- und Wirtschaftshistoriker am Institut für Zeitgeschichte der Universität Lissabon. Er forscht vor allem zur Einbindung des semi-peripheren Portugal in die europäische und weltkapitalistische Ökonomie und zur Nationalisierung des Bankwesens im Rahmen der „Nelkenrevolution“ (siehe seinen Aufsatz “Die Banken im Dienste des Volkes” in dem Buch “Portugal 25. April 1974 – Die Nelkenrevolution” vom Laika-Verlag). Unlängst veröffentlichte er unter dem Titel Never has a winter been so long ein Thesenpapier auf der Homepage der Gruppe Affect (New York), in dem er seine Einschätzung der komplizierten Konflikte und Alternativen 1974-75 prägnant verdichtet. In der Vergangenheit hat Noronha sich auch mit dem Spanischen Bürgerkrieg 1936-39, dem italienischen Operaismus und der Situationistischen Internationale auseinandergesetzt.

Gemeinsam wollen wir danach fragen, wie und warum die damals durch die Aktion der Ausgebeuteten kurzfristig eroberten ungeheuren Möglichkeiten zur Emanzipation wieder zerschlagen werden konnten? Welche Rolle spielten Staat und Kapital, aber auch die linken Organisationen, also Sozialdemokraten und Gewerkschaften, Parteikommunisten und linksradikale Grüppchen in dieser Auseinandersetzung? Worin bestanden die entscheidenden Schwächen der Bewegung, die eine teils gewaltsame, teils „samtene“ Konterrevolution möglich machten? Und nicht zuletzt: wo stehen Portugal und die portugiesische Bewegung heute, nach 40 Jahren bürgerlicher Konterrevolution und 5 Jahren Schuldenkrise? [via]

    Download: via AArchiv (mp3; 66.1 MB; 1:12:09 h)
    Hören bei Youtube: Einleitung | Referat Charles Reeve

3.) Revenge is still outstanding – 40 years of class struggles in Portugal

After a progressive military coup against the fascist Salazar-regime in april 1974 the class struggles exploded in Portugal. What happened then is known as the PREC (permanent revolutionary process): the working class started to organize itself in councils and neighborhood-comittees, workers started to takeover factories and poor farmers began to collectivize the acres. The PREC was ended by a social-democratic counter-coup in november 1975. On 20.06.2014 the historian Ricardo Noronha (Lissabon) was guest of the Translib (a self-organized, far-left-communist library in Leipzig) and talked about the PREC. He held a well-informed lecture about the economic, political, military and psychological reasons of the revolution, described it’s course and how it was possible, that the proletariat first started to organize autonomous in a radical way but then the state was able to takeover the organization of the workers. In his opinion the revolution is still current and it is present in the mind of many people in Portugal. Also in the recording of the discussion you get many interesting informations about the PREC – in the discussion you can also hear Charles Reeve, a left-communist who participated in the PREC. Sorry for any mistakes in this english description.

Download: Lecture (mp3; 30.4 MB; 33:10 min) | Discussion (mp3; 62.3 MB; 1:07:59 h)

Kunst und Gesellschaftskritik in Zeiten der Kulturindustrie (I)

„[…] jede Ware eine Waffe, jeder Supermarkt ein Trainingscamp. Das erhellt die Notwendigkeit der Kunst als Mittel, die Wirklichkeit unmöglich zu machen.“ (Heiner Müller)

Bekanntlich sah Theodor W. Adorno in der Kunst einen Rückzugsraum für unverstümmelte Erkenntnis: In der ästhetischen Erfahrung kann das Subjekt eine Ahnung davon gewinnen, dass die instrumentelle Naturbeherrschung barbarisch ist. An der Möglichkeit ästhetischer Erfahrung entscheidet sich, inwieweit die Menschen überhaupt noch ein Gespür für ihr Leid und einen Sinn für gesellschaftliche Alternativen haben. Auch heute noch stellt sich die Frage, ob Kunstwerke potentiell die Reflexion der gesellschaftlichen Verhältnisse, ihrer Verwerfungen und Widersprüche ermöglicht, oder ob, zumal in Zeiten der alles in Warenform pressenden kapitalistischen Kulturindustrie, nicht einmal mehr die Kunst uns retten kann. Liegt womöglich die Stärke der Kunst in der Macht der Erkenntnis bei gleichzeitiger Ohnmacht in dem, was man Praxis nennt?
Diesen Fragen nähert sich derzeit die Veranstaltungsreihe der Kritischen Interventionen in Halle. Die ersten vier Vorträge – von Christoph Hesse, Marc Grimm, Baumeister & Negator und Lukas Holfeld – können wir hier dokumentieren.

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Das situationistische Ende der Kunst und sein Ausbleiben

Alles falsch — auf verlorenem Posten gegen die Kulturindustrie

Anlässlich des kürzlichen Erscheinens des Buches »Alles falsch. Auf verlorenem Posten gegen die Kulturindustrie« hat Sebastian Dittmann am 3. Juli 2012 in Halle einen Vortrag gehalten, in dem er zunächst eine kurze Einführung in das Theorem der Kulturindustrie von Horkheimer & Adorno gibt und anschließend über die Spektakel-Kritik der Situationisten referiert. Konklusio des Vortrags ist die Gegenüberstellung der verschiedenen Ausgangsbedingungen Adornos und Horkheimers auf der einen und Debords und der Situationisten auf der anderen Seite und wie daraus unterschiedliche Positionen zum Umgang mit der Kunst entspringen.

Während es üblich geworden ist, innerhalb der Kulturwaren zu differenzieren, um so deren vermeintliche Freiheitspotentiale zu entdecken, haben es sich die Autoren eines vor kurzem im VerbrecherVerlag erschienenen Buches vorgenommen, die Kulturindustrie als das zu kritisieren, was sie ist: Produkt und zugleich Produzentin des falschen Ganzen, als welche sie Theodor W. Adorno zu seiner Zeit verurteilte. Konnte der noch damit rechnen, durch Übertreibung ihre Wahrheit zu treffen, hat die Kulturindustrie unterdessen ihren eigenen Superlativismus übertroffen. „Alles falsch – Auf verlorenem Posten gegen die Kulturindustrie“, heißt das betreffende Buch. Mitherausgeber Sebastian Dittmann stellt es nun vor. In den Mittelpunkt rückt Dittmann dabei die Situationisten um Guy Debord. Debord und Adorno versuchten Mitte des letztens Jahrhunderts das Voranschreiten der Entfremdung seit dem Erscheinen von Marx´ ›Kapital‹ zu fassen. Interessanterweise ist ihre Kritik von „Kulturindustrie“ bzw. „Spektakel“ sich dabei recht ähnlich, manchmal bis in die Wortwahl, aber ihre Schlußfolgerungen unterscheiden sich radikal: Bejahte Adorno die Kunst als letztes Medium von Kritik, verneinten die Situationisten sie, da in der von ihnen erwarteten Revolution die in der Kunst in eine eigene Sphäre ge- und verbannte ästhetische Qualität in die wirkliche Welt zurückgenommen, die Poesie mit dem Leben versöhnt werden sollte; in dieser Aufhebung der Kunst erblickten die Situationisten die „Nordwestpassage“ der proletarischen Revolution. Der Vortrag versucht, zuerst einige zentrale situationistische Begriffe darzustellen und davon ausgehend ihre Kritik der Kunst behandeln; abschließend wird es um die Frage gehen, warum die erwartete Aufhebung der Kunst ausblieb. [via]

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Leben ohne tote Zeit

Antje Géra und Claus Baumann haben im Februar in Stuttgart über die theoretische Bestimmung gesellschaftlicher Raum-Zeit-Verhältnisse u.a. bei Marx, Benjamin und der Situationistischen Internationale referiert. Im ersten Teil konzentrieren sie sich dabei auf den Begriff der disponiblen Zeit bei Marx, das Problem der Freizeit und die Formbestimmtheit kapitalistischer Produktion. Der zweite Teil enthält eine sehr sympathische und materialreiche Einführung in die Geschichte und kritische Theorie der Situationisten.

Angesichts der Wiederaufnahme offensiverer kritischer Auseinandersetzungen mit den Bedingungen eines möglichen »richtigen Lebens im Falschen« könnte man konstatieren, dass damit auch die Kämpfe um die gesellschaftliche Raum-Zeit neu justiert und mit Vehemenz geführt werden. Nun scheint es jedoch so, als sei angesichts sinnlich wahrnehmbarer Phänomene wie Gentrifizierung, Kommerzialisierung, Branding von (städtischen) Räumen die Problematik vornehmlich eine des Raumes. Uns wird es in den Vorträgen darum gehen, darzustellen, inwiefern gerade die Problematik der Zeit hierbei nicht vernachlässigt werden darf, inwiefern die Problematik wahrhaft freier Zeit ein grundlegendes Moment einer kritischen Gesellschaftstheorie bilden muss. Der Kampf um die freie Zeit stellte gerade für die Situationisten den entscheidenden strategischen Ansatzpunkt zur Veränderung der Gesellschaft in Richtung einer emanzipativen Gesellschaft, da sie eine der Grundbedingungen für Muße. Diese Überlegungen werden wir einbetten und flankieren in kritisch-theoretische Entwürfe eines Begriffs von wahrhaft freier Zeit, wie er sich bei Marx, Benjamin, Adorno reflektiert findet. [via]

  1. Teil 1: Vortrag: via AArchiv (mp3; 41,9 MB; 1:31:23 h) | via Mediafire (62,8 MB) / Diskussion: via AArchiv (mp3; 17,7 MB; 38:38 min) | via Mediafire (26,5 MB)
  2.  

  3. Teil 2: Vortrag: via AArchiv (mp3; 36,6 MB; 1:19:43 h) | via Mediafire (54,7 MB) / Diskussion: via AArchiv (mp3; 21,7 MB; 47:17 min) | via Mediafire (32,5 MB)

Einführendes zur Situationistischen Internationalen

1. Der öffentliche Raum in der spektakulären Zeit – Im Rahmen des 27. Diskursfestivals des Instituts für angewandte Theaterwissenschaft in Gießen, hat Robert einen einführenden Vortrag über die Psychogeographie und deren wichtigstes Mittel, das dérive (siehe Definitionen) gehalten. Im Zentrum steht dabei die situationistische Entwicklung einer Kritik der Stadt, ausgehend von der Wirklichkeit und der Kritik von Proletarität.

Die moderne Kunst hatte zum kapitalistischen Alltagsleben bereits in den 20er Jahren alles gesagt: Dass es zu überwinden sei. Die damaligen Avantgarden sahen sich als Vorreiter einer umfassenden Revolution, in deren Dienst die Poesie zu stellen sei. Sie griffen die Kunst selbst an, deren „bürgerliche“ Schönheit und Erbaulichkeit sie nur zur Rechtfertigung des Bestehenden für tauglich hielten. Aber die erhoffte Revolution blieb aus und die avantgardistische Kunstkritik verlor ihre destruktive Bedeutung. Die dadaistischen und surrealistischen Werke wurden genießbar und selbst zu hoch gehandelten Kunstwaren.

In den 50er Jahren traten in Paris die Lettristen auf den Plan, von denen einige später die Situationistische Internationale gründeten. Sie erklärten die Versuche der alten Avantgarden für gescheitert und schrieben sich konsequent das Projekt der Aufhebung der Kunst und Verwirklichung der Poesie auf die Fahnen, d.h. die Freisprengung der ästhetischen Vermögen aus der Kunstsphäre als Voraussetzung einer neuen revolutionären Praxis im alltäglichen Leben.

Zu diesem Zweck entwickelten sie Methoden wie la Dérive (das Umherschweifen in Städten als Forschungsmethode), die Psycho-geographie (Wissenschaft von den Wirkungen des geo-graphischen Millieus auf das emotionale Verhalten der Individuen) und das Détournement (bewusste Entwendung vorgefundener kultureller Gegenstände), deren Bedeutung für eine revolutionäre Theorie und Praxis der Vortrag zu disku-tieren unternimmt. [via]

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2. Enfants Perdus: Über die Situationistische Internationale in ihrer Zeit – Im Rahmen der Bildungsreihe am Donnerstag [BaD] haben Philipp (Falken Erfurt) und Lukas (BiKo) am 16.02.12 einen einführenden Vortrag über die Situationistische Internationale gehalten. Im ersten Teil geben sie einen Überblick über die Geschichte der Situationisten, inklusive eines ausführlichen Teils über den Pariser Mai ’68, während sie im zweiten Teil einige Aspekte der kritischen Theorie der Situationisten vorstellen.

Die Situationistische Internationale gehörte von 1957 bis 1972 zu einer der radikalsten Gruppierungen derjenigen Bewegung, die es anstrebt, den jetzigen Zustand aufzuheben. Selbst hervorgegangen aus versprengten Resten der nach dem zweiten Weltkrieg verbliebenen Kunstavantgarde, richtete sich die S.I., ausgehend von Frankreich, gegen die Borniertheit der Künstler-Kreise und die Szene linker Polit-Spezialisten, um außerhalb des akademischen Wissenschaftsbetriebs eine umfassende Kritik der kapitalistischen Gesellschaft auf der Höhe der Zeit zu formulieren und ein Programm der Abschaffungen zu erarbeiten. Während die S.I. vor allem für einen gewissen Stil bekannt wurde, der sich etwa in der Herausgabe einer aufwendig gestalteten Zeitschrift oder in den bekannten Comic-Verfremdungen zeigte, war es jedoch eines ihrer vorrangigen Tätigkeiten, eine von Hegel ausgehende Theorietradition des Marxismus – jedoch nicht mehr als »ismus« – als Theorie der Praxis zu rekonstruieren und hiervon ausgehend eine Kritik der »Gesellschaft des Spektakels« zu entwickeln. Deren Augenmerk ist besonders auf die Bildhaftigkeit kapitalistischer Warenproduktion und -konsumtion gerichtet, begreift das Alltagsleben als Hauptfeld der Auseinandersetzungen, richtet sich zentral gegen das Prinzip der Repräsentation, setzt sich intensiv mit Zeitstrukturen und Geschichtsschreibung in der Warengesellschaft auseinander und widmet sich der Ordnung des urbanen Raums als einem wichtigen Aspekt der Disziplinierung und Zurichtung rund um die Lohnarbeit und ihre Reproduktion. In ihrer Ablehnung des Staatssozialismus und mit ihrer gnadenlosen Kritik des Marxismus-Leninismus kann die S.I., neben Adorno/Horkheimer in Deutschland, Georg Lukács in Ungarn und den rätekommunistischen Zusammenhängen in den Niederlanden, zu einem der wichtigsten Stränge kritischer Theorie gezählt werden. Wir wollen einige wichtige Aspekte der situationistischen Kritik der Gesellschaft vorstellen und dabei auf das Wirken der S.I. in ihrer Zeit eingehen. [via | via]

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  1. Teil 1: via AArchiv (mp3; 42,1 MB; 1 h 13:37 min)
  2. Teil 2: via AArchiv (mp3; 33,3 MB; 58:06 min)

3. Einführung in die Situationistische Internationale – Im Rahmen der Reihe Die Untüchtigen in der Hamburger Kneipe Golem war am 12.02.12 Dr. Roberto Ohrt (u.a. Phantom Avantgarde) zu Gast. Im Gespräch erzählt er einiges darüber, wie es gewesen ist mit den Situationisten – dabei erfährt man einige interessante Fakten, er verbleibt darin m.E. aber auf einer Ebene des Anekdotischen und Kunsthistorischen.

»ne travaillez jamais« – Jeder kennt dieses Bild, oder zumindest diesen Ausspruch. Doch wer waren die Situationisten, die von 1957 – bis zu ihrer Auflösung im Jahre 1972 an der Schnittstelle zwischen Kunst und Politik operierten, deren maßgebliche Rolle in den Pariser Maiunruhen von 1968 sie für eine kurze Zeit berühmt machte? Auf dem revolutionären Programm der SI stand die Abschaffung jeder Form von Repräsentation, also die Untergrabung jeder Autorität, die Zerstörung aller Machtsymbole, die Abschaffung der Kunst, die Rückgewinnung der in der Konsum- und Warengesellschaft enteigneten Lebenswirklichkeit – kurzum der Kampf gegen die spätkapitalistischen Enteignung. Sie kämpften mit Trinkgelagen und Straßen-Aktionen, mit Anschlägen auf Kunstwerke und den Eiffelturm, mit Anti-Filmen und Mauer-Graffitis gegen die Gesellschaft. Ihre Ideen finden weiter Verbreitung, in der Kunst, Politik, Architektur und Pop, bis in die heutige Gegenwart hinein, ihre Methoden tauchen unter anderem in Fluxus, Punk, sowie bei den Aktionen der »Globalisierungsgegner« des 21. Jahrhunderts, auf, stehen geistig Pate für auch heute noch die Gemüter erhitzende Schriften wie »Der kommende Aufstand«. Die SI, deren Kritik am Spektakel, begegnet uns als Referenz an so vielen Orten, dennoch bleibt es durch seine Komplexität und Radikalität für die meisten unbegreifbar. Und dieses möchten wir mit dem Beginn einer Reihe auflösen. Es geht uns bei der ersten Veranstaltung um eine sehr grundlegende Annährung an die SI, sie aus der Ecke des Mythos herausholen, ihre Ursprünge, die Lettristische Bewegung und ihrem Vordenker, Guy Debord, zu umreißen. Was können wir für unsere heutige politische Praxis daraus lernen? [via]

    Download: via AArchiv (mp3; 59,9 MB; 1 h 44:44 min) | anhören via Soundcloud

Bild & Ideologie

Wär’ nicht das Auge sonnenhaft,
Wie könnten wir das Licht erblicken?
Lebt’ nicht in uns des Gottes eig’ne Kraft,
Wie könnt’ uns Göttliches entzücken?

Mit diesem Vers des alten Goethe beginnt Christopher Zwi seinen Vortrag über »Bildlichkeit und Sehen in der Gesellschaft des Spektakels«, den er am 27.10. in Weimar im Rahmen der Reihe »Kunst, Spektakel und Revolution« gehalten hat. In Kontrast zu diesem göttlichen Sehen der Aufklärung stellt Zwi dann die Erfahrungen des französichen Buchenwaldhäftlings Jaques Lusseyran, der blind gewesen ist und der Buchenwald dementsprechend mit den verbleibenden vier Sinnen erfuhr: »Das Licht kommt nicht von außen; es ist in uns, auch wenn wir keine Augen haben« [Jaques Lusseyran: Das wiedergefundene Licht, München 1966, dtv]. Anhand dieser Gegenüberstellung rekonstruiert er eine geschichtlich-gesellschaftliche Dialektik von Sehen und Blindheit. Das Theorem des Verhältnisses von Bild, Wirklichkeit, Widerspiegelung und Reflexion umkreist er mit Marxens Anthropologie der Sinne und der Dialektik der Auflärung von Adorno und Horkheimer (hier vor allem das letzte Fragment »Zur Genese der Dummheit«). Im Übergang von der kritischen Theorie Adornos zu jener der Situationisten thematisiert er zudem das Proletariat im Bezug zu den Fetischformen der bürgerlichen Gesellschaft. Entscheidend sind am Ende dann drei thematische Stränge: die Spektakeltheorie der Situationisten, die Reflexionsbestimmungen Hegels und die kritische Ontologie des späten Lukács und gibt damit schon einen kleinen Einblick in den demnächst im ça ira-Verlag erscheinenden Lukács-Band.

Teil 1

    Download: via AArchiv (mp3; 29,8 MB; 52:08 min)

Teil 2

    Download: via AArchiv (mp3; 41,3 MB; 1h 12:12 min)

Die weiteren Vorträge der Reihe »Kunst, Spektakel und Revolution«, die zum größten Teil bereits hier dokumentiert sind, werden nach und nach direkt auf den AArchiv-Server hochgeladen.

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Klassen, Kämpfe & Revolte: Der Mai ’68 in Frankreich

Die antikapitalistische Gruppe Revolta hat am 19. April in Jena zusammen mit der Jour Fix Initiative Berlin einen Vortrag über die Ereignisse des Mai/Juni 1968 in Frankreich organisiert. Elfriede Müller referiert über Hintergründe und Bedingungen mit denen es dort zu einer Massenstreikbewegung kommen konnte, welche die Wirtschaft des ganzen Landes für einige Wochen nahezu zum Erliegen brachte. Sie gibt einen Überblick über die Abläufe, die beteiligten Gruppierungen und die Gegenreaktionen und zieht dann Schlüsse, die aus einer revolutionären Perspektive aus diesen Ereignissen zu ziehen wären. Besonders betont sie den individualistischen Charakter der Revolte und setzt die Perspektive auf das Subjekt, die in diesen Kämpfen gewonnen wurde, in Beziehung zur Gegenwart. Neben dem zum Thema erschienenen Band der Jour Fix Initiative empfehle ich die Lektüre des Buches „Wütende und Situationisten in der Bewegung der Besetzungen„, in dem der Situationist René Viénet unmittelbar nach den Ereignissen im Mai ’68 auf das Scheitern dieses revolutionären Anlaufs reflektiert und insbesondere ein Licht auf die Rolle der Situationisten wirft, die Elfriede Müller nur am Rande erwähnt. Ebenfalls sei auf die zur Zeit laufende Veranstaltungsreihe der Jour Fix Initiative verwiesen, die einige vielversprechende Programmpunkte enthält.

Download: via AArchiv (mp3; 19 MB; 0:56 h)

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Traditionalität und Aktualität. Zur Aufgabe kritischer Theorie

Heinz Maus, marxistischer Soziologe und Agitator der linken Studentenbewegung, gehörte in den 60er Jahren zusammen mit Wolfgang Abendroth und Werner Hofmann zum sogenannten „Marburger Dreigestirn“. Mit diesen Namen ist die Stadt Marburg als ein zweites Zentrum der Kritischen Theorie bekannt geworden. Heinz Maus‘ Wirken gilt im Rückblick als „bar jeglicher taktischer Opportunität“, „unbürokratisch bis zur Inkorrektheit“ und es umgab ihn „neben der politischen Komponente ein starkes Element persönlicher Intransigenz gegenüber jeder Ordnung, jedem Establishment“. (via) Seinen hundertsten Geburtstag nahm die AG Kritische Theorie der Uni Marburg zum Anlass, um eine Tagung mit dem Titel „Traditionalität und Aktualtität. Zur Aufgabe Kritischer Theorie“ zu organisieren (zum Programm). Die OrganisatorInnen der Tagung haben uns freundlicher Weise sämtliche Mitschnitte der dort gehaltenen Vorträge1 zukommen lassen (insbesondere Dank an David für’s Schneiden des Audiomaterials und den freundlichen Kontakt), die wir hier zur Verfügung stellen:

Im Folgenden sind relativ große Dateien (128 kBit/s) verlinkt. Kleinere Fassungen (48 kBit/s) sind auf unserem Server abgelegt.

1. BegrüßungAG Kritische Theorie

Zur Einführung referieren Oliver Römer und Christian Spiegelberg von der AG Kritische Theorie über Ausgangsfragen und Intention der Konferenz, über den Hintergrund an der Marburger Uni, insbesondere am Institut für Soziologie, sowie über die Rolle des Soziologen Heinz Maus.

    Download: via AArchiv (mp3; 11 MB; 11:58 min)

2. Zur Soziologie von Heinz Maus – David Salomon

David Salomon (Universität Marburg) stellt zunächst einige Überlegungen über die Relevanz der Begriffe Traditionalität und Aktualität für kritische Theorie im Allgemeinen an, um dann über die intellektuelle Sozialisation von Heinz Maus zu referieren. Im Anschluss nimmt er das besondere Verhältnis von Philosophie und Marxismus (Karl Korsch, Georg Lukács) zum Ausgangspunkt und rekonstruiert auf welche Weise Heinz Maus dieses bearbeitet und präzisiert hat. Zentral sind dabei die Rolle der Soziologie für den modernen Marxismus (Positivismusstreit etc.) und das Problem der Historizität im marxistischen Denken (Karl Marx, Walter Benjamin, Friedrich Nietzsche). Er endet mit einem Umweg über Bertolt Brecht mit einigen Überlegungen zu den Mausschen Ausführungen zum Verhältnis von Leid und Glück als materialistische Maßstäbe der Kritik und als Kategorien, denen nach wie vor eine dringende Aktualität für eine kritische Theorie der Gesellschaft als Ganzer zukommt.

    Download (via AArchiv): Vortrag (mp3; 45,2 MB; 49:19 min)

3. »Politisierung der Kunst« oder »die Kunst wegschaffen«?Zum Verhältnis von Politik und Kunst bei Walter Benjamin und bei der Situationistischen Internationale – Claus Baumann

Seinem Vortrag über den Vergleich der benjaminschen und situationistischen Perspektive auf das Verhältnis von Kunst und Politik stellt Claus Baumann (Universität Stuttgart, Duale Hochschule Stuttgart, Autorenkollektiv Biene Baumeister Zwi Negator) einige grundsätzliche Überlegungen zum nachträglichen, reflexiven Charakter dieser Kategorien voran (wie sie ähnlich in schriftlicher Form hier veröffentlicht wurden). Dann stellt er jeweils die ästhetischen Konzepte von Benjamin und den Situationisten vor, um sie u.a. anhand der Stellung zur surrealistischen Parole, dass die Poesie in den Dienst der Revolution zu stellen sei, aneinander abzuarbeiten.

Die Situationistische Internationale (1958–1972) um Guy Debord sprach sich einerseits für »neue Aktionsformen gegen Politik und Kunst« aus. Andererseits kritisierten sie die Surrealisten um André Breton dafür, dass diese »Poesie in den Dienst der Revolution« stellen wollten (la poésie au service de la révolution); es komme vielmehr darauf an, »die Revolution in den Dienst der Poesie zu stellen« (la révolution au service de la poésie). Prima facie scheint das situationistische Projekt den Überlegungen von Walter Benjamin zu widersprechen, der 1936 in seinem Aufsatz »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« die Auffassung vertreten hat, dass es für gesellschaftskritische, communistische Bestrebungen auf eine »Politisierung der Kunst« ankomme, während der Faschismus eine »Ästhetisierung der Politik« betreibe. Ziel des Vortrags ist es, die jeweiligen Spezifika der situationistischen sowie benjaminischen Überlegungen zum Verhältnis von Politik und Kunst darzulegen und daran anknüpfend der Frage nachzugehen, wie eine aktuelle und kritische Reflexion dieses Verhältnisses angesichts der derzeitigen Lage der bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse aussehen könnte.

Claus Baumann (*1967) promovierte im Fach Philosophie an der Universität Stuttgart. Er ist Lehrbeauftrager der Universität Stuttgart im Fachbereich Philosophie sowie an der Dualen Hochschule in Stuttgart im Fachbereich Sozialwesen. Seine derzeitigen Forschungsschwerpunkte sind Dialektik, Kritik der politischen Ökonomie, Gesellschaftstheorie, politische Philosophie und Philosophie der Ästhetik.

    Download: Vortrag (mp3; 34,4 MB; 37:33 min), Diskussion (mp3; 22,8 MB; 24:54 min)

4. Gehirn und Geist. Über das Verhältnis von Material und Freiheit zum Gegensatz von empirischer Forschung und Reflexivität – Christine Zunke

Christine Zunke (Universität Oldenburg, siehe auch ihren Beitrag hier) eröffnet die Problemstellung ihres Vortrags mit einer einführenden Überlegung zur descartschen Unterscheidung von denkender und materieller Substanz, um hiervon zu aktuellen Problemen der Gehirnforschung überzugehen: inwiefern lässt sich das Denken aus den physikalischen Prozessen im Gehirn erklären, inwiefern geht es darüber hinaus? Diese Problemstellung führt notwendiger Weise zur Frage nach der Freiheit des Willens, bzw. grundlegender nach der Frage, ob es das Denken überhaupt gibt. Dass diese Frage mit Ja zu beantworten ist, ist für Zunke nur möglich, indem die Gegensätze von Geist|Körper, Materialität|Immaterialität, physikalischen Prozessen im Gehirn|Immaterialität des Denkens als Antinomien zu begreifen sind: weder als Dualität, noch als Identität verhalten sich die widerstreitenden Seiten wechselseitig konstitutiv zueinander, so die These des Vortrags.

Die modernen Neurowissenschaften scheitern trotz immenser Fortschritte beständig an der Frage nach der Schnittstelle zwischen Gehirn und Geist. Diese Frage nach der Entstehung des (reflexiven und freien) Denkens aus dem physischen Material kann nirgendwo hinführen. Eine im naturwissenschaftlichen Sinne befriedigende Antwort hierauf kann es prinzipiell nicht geben, denn dann müsste das Material die kausale Ursache des Ideellen sein, was das Ideelle als physikalische Wirkung zu einem materiellen Gegenstand machen würde, welcher seiner Bestimmung nach kein Ideelles sein kann. Die konsequenteste Antwort der Neurophysiologie lautet darum, dass das Ideelle bloßer Schein sei, dem keine Wirklichkeit korrespondiere. Der Geist sei eben nicht reflexiv und frei, sondern eine bloß natürliche Funktion des Gehirns, die in der Innenwahrnehmung als Bewusstsein erscheine. Unser Geist sei nicht materiell und darum nicht wirklich. Wir denken ihn bloß. Dass das Denken Gedachtes ist, hat die Philosophie schon immer gewusst. Doch wenn diese Erkenntnis unter den Vorzeichen der empirischen Wissenschaften von der Geistes- und Gesellschaftswissenschaft aufgenommen wird, bekommt sie einen reaktionären Gehalt: Da Reflexionen als gegenstandslos erscheinen, wird Kritik methodisch unmöglich und es bleibt allein der Weg der Affirmation des Bestehenden offen.

Dr. Christine Zunke lehrt Philosophie an der Universität Oldenburg und hat mit ihrer 2008 im Akademie-Verlag erschienenen Dissertation „Kritik der Hirnforschung“ eine der ersten grundlegenden Kritiken der Neurophilosophie vorgelegt. Ihre Forschung fokussiert die moralischen und politischen Implikationen moderner Naturwissenschaften.

    Download: Vortrag (mp3; 42,9 MB; 46:53 min), Diskussion (mp3; 19,3 MB; 21:03 min)

5. Intellektuelle und die Genealogie der Kritischen Theorie – Alex Demirović

Alex Demirović (TU Berlin, „PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft“) greift die Auseinandersetzung mit Heinz Maus wieder auf, um ihn als eine besondere Figur der älteren Generation der Kritischen Theorie zu verorten und dessen Rolle für die kritische Soziologie in Deutschland und sein Verhältnis zum Institut für Sozialforschung in Frankfurt zu rekonsturieren. Hiervon ausgehend arbeitet sich Demirović an der bundesdeutschen Historisierung der Kritischen Theorie und ihrer Einordnung in (nach seiner eigenen ironischen Berechnung) mittlerweile 7 Generationen ab, um dafür zu plädieren, dass sich kritische Theorie zwar permanent selbst zu reflektieren habe, in ihrer kritischen Selbsthistorisierung aber nicht in der selbstreferentiellen und inhaltsentleerten Frage stecken bleiben darf, wer denn nun zur Kritischen Theorie gehört und wer nicht. Gegenüber dem akademischen Leerlauf beharrt Demirović darauf, dass die Begriffe wieder in Bezug auf die Gesellschaft und ihren Wandel entwickelt werden müssen und vor Allem nicht nach dem besseren Funktionieren der Gesellschaft, sondern nach ihrer praktischen Veränderung zu trachten haben. An diesem Vortrag fällt m.E. das Faktum der Trennung von institutionalisierter Kritischer Theorie in der Akademie und radikaler Linker auf, die bei Demirović ebenfalls überhaupt nicht vorkommt.

    Download: Vortrag (mp3; 36,1 MB; 39:23 min), Diskussion (mp3; 21,8 MB; 23:47 min)

6. Gewalt als Grenze des Anerkennens – Thomas Bedorf

Der Vortrag von Thomas Bedorf (Fernuniversität Hagen) sticht ein wenig aus dem Programm heraus, da dieser sich selbst nach eigener Angabe nicht in der „Großfamilie“ der Kritischen Theorie verortet, dafür aber gewissermaßen von außen eine Auseinandersetzung mit einem Theorem (bzw. Verfallsprodukt) der Kritischen Theorie sucht: die Theorie der Anerkennung von Axel Honneth. Er diskutiert dabei grundlegende Fragen: Ist Gewalt hermeneutisch in den Bereich des Verstehbaren hineinzuholen? Ist Anerkennung überhaupt ein geeigneter Schlüsselbegriff um Interaktion in ihrer Konflikthaftigkeit zu begreifen? Welchen Platz räumt eine Theoretisierung von Anerkennungsverhältnissen der Gewalt ein? Er arbeitet sich zu nächst an Honneths Theorie der Anerkennung ab, vergleicht diese dann mit anderen Auseinandersetzungen mit Anerkennung (Judith Butler, u.a.), um schließlich seine eigene Position zu begründen: Anerkennung implizert auch immer Verkennung, sie kann zwar ohne Gewalt, nicht aber ohne Macht gelingen.

Ob es um die Themen von Protestbewegungen geht, um die Belange ethnischer und sexueller Minderheiten oder um Nationen im Kampf um einen eigenen Staat – stets geht es um die Anerkennung von Anderen, die zum Gegenstand von Verhandlungen, aber auch politischem Widerstand und sozialen Konflikten wird. Der Vortrag wird die Gewalt, die das Ringen um Anerkennung auslösen kann im Horizont eines Modells „verkennender Anerkennung“ zum Thema haben. Anerkennungstheorien, die das Ideal gelingender Anerkennung unterstellen, schließen Gewalt prinzipiell aus. Sie betrachten Missachtungen lediglich als Signale für Ansprüche auf Anerkennung. Anerkennungstheorien, die die Subjektivierungsdispositive in den Vordergrund stellen, behaupten hingegen Gewalt als für die Subjektkonstitution unausweichlich. Ein Modell „verkennender Anerkennung“, das auf der Einsicht beruht, dass es vollkommene Anerkennung nicht geben kann, da moderne Identitäten nichts fixierbares, sondern ständig in Bewegung sind, droht zur Affirmation von Gewalt genötigt zu sein, da es ihm an normativen Kriterien fehlt, sie von vornherein auszuschließen. Als Lösungsvorschlag soll der Gedanke dienen, dass, wo Machtformen irreduzibel zum Anerkennen hinzugehören, Gewalt als Abbruch des Prozesses des Anerkennens dennoch ausgeschlossen werden kann.

Dr. Thomas Bedorf ist Privatdozent für Philosophie und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fernuniversität Hagen. Im Wintersemester 2009/2010 war er Gastprofessor für Politische und Sozialphilosophie an der Universität Wien.

    Download: Vortrag (mp3; 40,9 MB; 44:40 min), Diskussion (mp3; 32,4 MB; 35:24 min)

7. Zweite Natur: Kritik und Affirmation – Christoph Menke Besonders hörenswert

Christoph Menke (Goethe Universität Frankfurt am Main) referiert in seinem Beitrag über den Begriff der 2. Natur, wie ihn Hegel entwickelt hat. Das Theorem der zweiten Natur versucht selbstauferlegten Zwang, selbstverschuldete Unmündigkeit zu erklären, indem es die soziale Struktur in den Blick nimmt – es soll der Umschlag des aus Freiheit selbst gemachten in ein selbstständig Seiendes, Unmittelbares erklärt werden. Menke erklärt die Ausführungen Hegels zu diesem Problem vor Allem am Begriff der Gewohnheit als unbewusstes bzw. unbewusst geleitetes Handeln und rekonstruiert hierbei zwei Seiten der Gewohnheit: einmal als Bildung zur Fähigkeit Zwecke zu setzen, auf der anderen Seite als selbst mechanischer Vollzug. An dieser Doppelseitigkeit macht Menke deutlich, dass Hegel nicht einfach abstrakt negierend vorgeht: es geht nicht um eine Gegenüberstellung vom Prozess des Setzens als etwas Gutem und der Verselbstständigung der Setzung gegenüber dem Setzenden als etwas Schlechtem – Kritik und Affirmation sind bei Hegel auf unlösbare Weise miteinander verquickt. Menke streift die Relevanz der Hegelschen Reflexion auf die zweite Natur für die Kritische Theorie (für Marx, Lukács, Adorno und Benjamin) nur am Rande, macht aber deutlich, dass Hegel die Grundlagen materialistischer Kritik gelegt hat. – Ein wirklich guter und hörenswerter Hegel-Vortrag!

    Download: Vortrag (mp3; 45,1 MB; 49:16 min), Diskussion (mp3; 13,5 MB; 14:44 min)

8. Negativität. Adorno und Hegel – Michael Städtler

Negativität fasst Michael Städtler in seinem Vortrag als Formbestimmung kritischer Theorie und setzt Adorno und Hegel unter diesem Aspekt in Bezug zueinander. Er zeigt warum Adorno Zweifel an einer Geistesgeschichte hegte, deren Triumph Hegel bloß zu rekonstruieren suchte – während Hegel die Verwirklichung der Vermittlung von Vernunft und Wirklichkeit am Ende der Philosophiegeschichte zu sehen glaubte, bestreitet Adorno die so definierte Verwirklichung der Philosophie. Städtler macht dabei deutlich, dass Adorno jedoch gegenüber Hegel nicht nur Skepsis hegt – gerade an Adornos Kritik des Positivismus wird deutlich, dass er mit dem Anspruch, dass das Denken über das bloß Gegebene hinauszuweisen habe, an Hegel festhält. Ziel Adornos ist es, Theorie und Praxis miteinander zu verwirklichen, ohne sie jedoch wechselseitig zueinander aufzuheben – hieran wird deutlich, dass Adorno zu Kant zurückkehrt, nicht jedoch ohne Hegels Kritik an Kant zu verwerfen. Vielmehr gilt es die Spannung von Widersprüchen aufrecht zu erhalten, die in Hegels Versuch der Aufhebung zu einer verkehrten Totalität eingeebnet zu werden drohen. Was dies bedeutet macht Städtler u.a. an der negativen Theologie deutlich, die versucht Gott aus der Summe dessen zu bestimmen, was Gott nicht ist – Adorno macht die Widersprüchlichkeit dieses Denkversuchs für materialistische Kritik fruchtbar, die Hegel im Versuch, aus dieser Negativität ein System absoluten Wissens zu machen, einebnet.

Das Verhältnis Adornos zu Hegel ist gespalten. Einerseits sei die Hegelsche Philosophie unübergehbare Voraussetzung jedes „theoretische[n] Gedankens von einiger Tragweite heute“ (Adorno, Aspekte), andererseits sei das System Ausdruck der Angst des Bürgertums vorm eigenen Untergang „[i]m Schatten der Unvollständigkeit der eigenen Emanzipation“. (Adorno, Negative Dialektik) Damit aber gilt diese Form von Philosophie der Kritik nicht einfach als eine falsche, sondern in der Kritik ihrer Fehler werden Einsichten über den Stand der Entwicklung von Selbstbewußtsein und Freiheit möglich, die sonst unsichtbar blieben. Die Kritik des bürgerlichen Bewußtseins setzt dessen selbstbewußt durchformulierten Begriff voraus. Noch strikter: Das Bewußtsein in der bürgerlichen Gesellschaft ist, wie diese selbst, realisierte Freiheit, aber in verkehrter Gestalt. Das Ziel radikaler Befreiung ist diesem Bewußtsein ebenso fremd, wie es selbst diesem Ziel vorausgesetzt ist. Mit diesem Gedanken begibt sich aber das Bewußtsein kritischer Theorie in Widerspruch zu sich selbst: Es verdankt seine wesentlichen Einsichten einer Geschichte, die abzulehnen, aber nicht mehr aufzuheben ist; ein durchaus unbefriedigender Zustand, der dazu führt, daß Adorno eine Dialektik entwirft, an deren Ende keine affirmativen Urteile mehr stehen. Die Kritik wird nicht konstruktiv gewendet, sondern sie bleibt kritisch. Dieser Gedanke ist offenkundig so frustrierend, daß nicht bloß die Schulphilosophie des 20. Jahrhunderts ihn nie wahrhaben wollte, sondern daß selbst diejenigen, die seit Adorno unter dem zum Label gewordenen Ausdruck ‚Kritische Theorie‘ firmieren, ihn aus ihrem Sortiment genommen haben. Was es dagegen heißt, bei der Kritik zu bleiben und wer eigentlich deren Subjekt sein kann, warum schließlich der auf Kritik beharrende Gedanke nicht nichts ist, soll in dem um die Bedeutung von Negativität zentrierten Vortrag über das Verhältnis Adornos zu Hegel überlegt werden.

PD Dr. Michael Städtler, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Exzellenzcluster „Religion und Politik“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Vorstand des Gesellschaftswissenschaftlichen Instituts Hannover.

    Download: Vortrag (mp3; 48,9 MB; 53:22 min), Diskussion (mp3; 12,1 MB; 13:10 min)

9. Glückliche Ehe oder liaison dangereuse? Fragen nach der Verbindung von Feministischer und Kritischer Theorie – Cornelia Klinger

Cornelia Klinger (Eberhard Karls Universität Tübingen) beginnt ihren Vortrag mit einigen Vorüberlegungen zur Entstehung und zu Schwierigkeiten feministischer Bewegung und Theorie, um dann Kritische Theorie und Feministische Theorie unter drei Aspekten in Beziehung zueinander zu setzen: 1. Kritik, 2. Negation und Negativität und 3. Utopie. Sie legt im ersten Teil sehr ausführlich dar, welche Bedeutung diese drei Aspekte für die Kritische Theorie haben und referiert in einem zweiten, kürzeren Teil, wie feministische Kritik diese drei Aspekte auf spezifische Weise bewusst oder unbewusst aufgreift und erweitert. Sie schließt mit der Formulierung eines Anspruchs, den sie an feministische Theorie heute heranträgt: dass diese wieder vermehrt an die Kritische Theorie Adornos/Horkheimers anknüpfen möge. Trotz der Genauigkeit ihrer Ausführungen zur Kritischen Theorie bleibt deren Verbindung zum Feminismus oberflächlich und müsste selbst noch konkret bestimmt werden. Sympathisch ist ihre Betonung der außer(!)akedemischen Dimension kritischer Theorie im Anspruch auf allgemeine Emanzipation.

Feminismus wurde nicht als Theorie geboren, sondern verdankt seine Entstehung einer gesellschaftlichen und politischen Bewegung, die erst im Verlauf ihrer Entwicklung – nicht zuletzt infolge der Widerstände, auf die sie gestoßen ist – begonnen hat, sich ein theoretisches Fundament zu erarbeiten. An verschiedene unterschiedliche Theoriegebäude (Liberalismus, Marxismus, Psychoanalyse u.a.) hat feministische Theorie mehr oder weniger erfolgreich Anschluss gesucht und gefunden. Vor diesem Hintergrund geht der Vortrag der Frage nach dem Verhältnis von Feminismus und kritischer Theorie nach. Ausgehend von der These, dass feministische Theorie per se kritische Theorie ist, das heißt mit der älteren kritischen Theorie der Frankfurter Schule im Ansatz mehr Gemeinsamkeiten aufweist als mit irgend einem anderen Theoriegebäude wird zu zeigen sein, dass feministische Theorie die ‚bessere‘, konsequentere und vollständigere Kritische Theorie sein bzw. werden könnte – unter der Voraussetzung, dass sie ausgerechnet einige besonders traditional erscheinende Elemente der kritischen Theorie aufzunehmen und zu aktualisieren vermöchte.

Cornelia Klinger ist außerplanmäßige Professorin an der Eberhard Karls Universität Tübingen und ständiges wissenschaftliches Mitglied am Institut für die Wissenschaften am Menschen in Wien. Sie hatte Lehraufträge und Gastprofessuren an den Universitäten Wien, Zürich, Bielefeld, Frankfurt, Klagenfurt, Innsbruck, Tübingen, München, Luzern und Berlin inne. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Politische Philosophie und Geschichte der Moderne, Feministische Theorie/gender studies und Ästhetische Theorie.

    Download: Vortrag (mp3; 40,5 MB; 44:13 min), Diskussion (mp3; 26,6 MB; 29:02 min)

10. Im Handgemenge des SprechensGibt es eine „verdrängte Sprachphilosophie“ der Kritischen Theorie? – Jan Müller

Jan Müller (TU Darmstadt) widerspricht in seinem Vortrag der sprachpragmatischen Deutung Adornos (u.a. Jürgen Habermas, Martin Seel), alles Denken und Sprechen sei per se verdinglicht, womit Sprache selbst in einer tragischen Auffassung von Geschichte aufgehen müsse und nur der Ausweg einer sprachlosen Offenbarung bliebe. Hierzu referiert er ausführlich Benjamins frühen Text „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen„, um dann Benjamin und Adorno in Beziehung zueinander zu setzen. Ein sehr komplexer und kompakter sprachtheoretischer Vortrag.

Die Aneignung der ersten (oder Gründungs-)Phase der kritischen Theorie steht allgemein unter Metaphysikverdacht, eine Befürchtung, die insbesondere das Verständnis von Sprechen und Sprache betrifft. Theodor W. Adorno habe, darin inspiriert von Walther Benjamin, eine Fundamentalkritik der Sprache unter dem „eisigen Strahlen“ instrumenteller Vernunft verfolgt. Die Konsequenz dieser unterstellten Absicht ist ein Dilemma: Entweder – das sei der Ausweg Benjamins – sei Zuflucht zu einem theologischen Sprachmodell genommen, oder – so unterstellt man Adorno – eine Delegation der sonst dem Sprechen zugeschriebenen
Funktionen an eine (damit aber überlastete) „ästhetische Erfahrung“ unternommen worden. Würde die frühere kritische Theorie an einem romantisch überhöhten Bild der Sprache leiden, dann wäre seine Korrektur durch die Erfordernisse kommunikativer Rationalität eine wünschenswerte und sachlich unvermeidbare Konsequenz. Der Vortrag möchte dagegen die – allmählich vernehmbarere, aber noch immer randständige – Vermutung stark machen: (1) Die Kritik an den sprachphilosophischen Überlegungen Benjamins und Adornos gewinnt ihre Plausibilität vor allem aus der Übernahme von Grundunterscheidungen der analytischen Theorie des Sprachhandelns – sie artikuliert den Sachverhalt, dass Adorno und Benjamin Sprache anders thematisieren als die Tradition z.B. Searles. (2) Diese andere Thematisierungsform lässt sich nicht als bloß alternatives Modell von Sprechen und Sprache verstehen; Benjamin und Adorno liefern, in offener und verdeckter Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen sprachphilosophischen Diskussion, eine „Metakritik“ – sie fragen präsuppositionsanalytisch nach den Voraussetzungen und Angemessenheitskriterien vernünftigen Nachdenkens über Sprache. (3) Das Resultat dieser Auseinandersetzung ist eine Verortung der Funktion und Reichweite des Modells propositionaler Sprachreflexion. Sie zeigt (a) das Ungenügen einer am Kommunikationsparadigma orientierten Reflexionsform, die Funktion des Sprechens als Medium der Bildung und Reproduktion unserer Praxisform zu thematisieren, und provoziert (b) eine für die gegenwärtige Diskussion provozierende Blickumkehr, die Sprache nicht einfach Medium „des Politischen“ , sondern als politisches Medium begreifbar macht.

Dr. Jan Müller (*1979) studierte Philosophie und Deutsche Sprache und Literatur in Marburg. Promotion 2010 in Stuttgart, derzeit wiss. Mitarbeiter am Institut für Philosophie der TU Darmstadt. Er beschäftigt sich vor allem mit dialektischer Handlungs- und Tätigkeitstheorie, Sprachphilosophie und politischer Philosophie (und ihrem Verhältnis zueinander).

    Download: Vortrag (mp3; 42,3 MB; 46:08 min), Diskussion (mp3; 31,9 MB; 34:49 min)

11. Podiumsdiskussion: Zur Praxis kritischer Theorie. Formen der Gesellschafrkskritik heute

Moderiert von Christoph Demmerling (Philipps-Universität Marburg) diskutieren auf dem ersten Podium Alexander Garciá Düttman, Christoph Henning (Universität St. Gallen, u.a. „Philosophie nach Marx„), Philip Hogh (Goethe Universität Frankfurt a.M., u.a. Jungle World) und Cornelia Klinger über die Anforderungen einer tatsächlichen Weiterführung und Aktualisierung Kritischer Theorie. Für Düttman stellt sich eine solche Aktualisierung als eine kritische Selbstreflexion der AkademikerInnen dar: er verbindet die adornitischen Theoreme der sozialen Kälte und des universellen Verblendungszusammenhangs mit einer Kritik der neoliberalen Universität. Henning plädiert dafür, einige Themen der Klassiker der Kritischen Theorie (insbeondere nennt er Honneth) liegen zu lassen und fordert gleichzeitig dazu auf, wieder an die ältere Generation der Kritischen Theorie anzuknüpfen und von ihr zu lernen – in seinem Statement geht er auf einige Vorträge ein, die auf der Konferenz gehalten worden sind und gibt Anstoß, noch einmal über einzelne Aspekte zu diskutieren. Hogh schließt noch einmal an die sprachtheoretische Diskussion an, um unter diesem Aspekt Adorno und Habermas kritisch in Beziehung zueinander zu setzen. Klinger hält die Frage, ob es eine Praxis der Kritischen Theorie geben kann, für verkehrt – ihr Statement: die Praxis der Kritischen Theorie ist die Theorie. Eine revolutionäre Perspektive scheint in der Abschlussdiskussion nicht auf.

    Download: Statements (mp3; 65,1 MB; 1 h 11:08 min), Diskussion (mp3; 34,6 MB; 37:48 min)
  1. Dazu sei angemerkt, dass der Vortrag von Ingo Elbe aus gesundheitlichen Gründen leider ausfallen musste und der Mitschnitt des Vortrags von Frank Benseler aufgrund der zu geringen Lautstärke nicht verwendbar war. [zurück]

Existentialism Revisited

Die Beschäftigung mit Camus, Sartre, Heidegger oder de Beauvoir wirft ein neues Licht auf die theoretischen Fragen, die uns bis heute nicht loslassen, weil wir im Wesentlichen nicht über sie hinaus sind. Von den gewissermaßen ewigen philosophischen Fragen abgesehen, handelt es sich um ganz konkrete Probleme kritischer Theorie“ – so lautet der Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung mit dem Existentialismus, die in Form einer Veranstaltungsreihe (Flyer als PDF) zur Zeit in der translib im Institut für vergleichende Irrelevanz in Frankfurt geführt wird. Drei der bisher gehaltenen Vorträge stellen wir hier zur Verfügung:

1. Andrea Trumann – Vortrag über Simone de Beauvoir

Nach einem kurzen Input-Referat der Veranstalter_innen über den kritischen Bezug Simone de Beauvoirs auf das Werk Jean-Paul Sartres, referiert Andrea Trumann (u.a. Autorin des theorie.org-Buches „Feministische Theorie. Frauenbewegung und weibliche Subjektbildung im Spätkapitalismus„) zunächst über ihre persönliche Rezeptionsgeschichte de Beauvoirs, um anschließend im Hauptteil des Vortrags einen kritischen Überblick über de Beauvoirs Vorstellung von Emanzipation zu geben. Hauptkritikpunkt ist dabei, dass de Beauvoir eine männlich-naturbeherrschende Form von Subjektivität auch für Frauen für erstrebenswert hält und damit kaum über kapitalistische Verhältnisse hinausstrebt.

    Download (via AArchiv): Vortrag (mp3; 56 min, 45 sec; 19,5 MB), Diskussion (mp3; 1h, 30 min; 31 MB)

2. Paul Stephan – Sartre und der Marxismus

Paul Stephan (Irrelevanzcluster für vergleichende Exzellenz, Translib) gibt hier eine sehr gelungene und hörenswerte Einführung in das Denken Jean-Paul Sartres und zeigt insbesondere anhand der Begriffe Situation und Freiheit, wie sich Sartre auf den Marxismus und ein revolutionäres Projekt bezieht. Der Vortrag ist unter Anderem deswegen sehr sympathisch, da er die Aktualität der Sartreschen Kategorien anhand aktueller Beispiele demonstriert; etwa an den jüngsten Unruhen im arabischen Raum oder der Illusion autonomer Subjektivität im flexiblen Kapitalismus.

    Download (via AArchiv): Vortrag (mp3; 35 min 48 sec; 12,3 MB), Diskussion (mp3; 19 min, 26 sec; 6,7 MB)

3. Christoph Zwi – Existentialismus und Marxismus

Christoph Zwi (Biene Baumeister Zwi Negator) skizziert zunächst die historische Situation, in der sowohl die Situationisten als auch Georg Lukács, auf je unterschiedliche Weise eine an Marx und Hegel orientierte kritische Theorie zu entwickeln beginnen, um dann sehr ausführlich und mit vielen Verweisen darzustellen, wie beide eine Kritik am Existentialismus, insbesondere an Heidegger, formulieren. Zwi legt dabei einen besonderen Augenmerk darauf, dass sowohl Heidegger, als auch Lukács und die Situationisten auf sehr unterschiedliche Weise den Versuch angehen, eine Ontologie zu entwerfen.

    Download (via AArchiv): Teil 1 (mp3; 59 min, 58 sec; 20,6 MB), Teil 2 (mp3; 55 min, 54 sec; 19,2 MB), Diskussion (mp3; 17 min, 37 sec; 6 MB)

Es sei auf die weiterhin folgenden und sehr spannenden Vorträge im Rahmen der Reihe hingewiesen, die wir nach Beendigung der Reihe ebenfalls dokumentieren werden:

  • Do 14.4.2011, 19h im IVI-Saal: Vortrag “Der dritte Mann oder Albert Camus” (Andreas Trottnow).
  • Fr 6.5.2011, 19h im IVI-Saal: Vortrag “Sartres Aufhebung des Existenzialismus” (Fabian Schmidt).
  • Fr 13.5.2011, 19h im IVI-Saal: Vortrag “Simone de Beauvoir heute” (Roswitha Scholz).

Ankündigungstext der Reihe: Weiterlesen

Die Situationisten und die Aufhebung der Kunst

Die Dokumentation des internationalen Symposiums Interventionen, das im Oktober 2010 in Paderborn stattfand, enthält den Mitschnitt eines Vortrags von Anselm Jappe (u.a. Autor der Zeitschrift Exit!) mit dem Titel „Die Situationisten und die Aufhebung der Kunst: was bleibt davon nach fünfzig Jahren?„. Jappe gibt dort einen Überblick über die Geschichte und Aspekte der kritischen Theorie der Situationistischen Internationalen, besonders mit einem Fokus auf den Gegenstand der Kunst. Besonders interessant werden die Ausführungen Jappes m.E. am Ende des Vortrags, wo er den Fortschrittsglauben der S.I. kritisiert und die Perspektive der S.I. auf die Aufhebung der Kunst mit ähnlichen und doch entscheidend anderen Ansätzen aus der Ästhetischen Theorie Adornos konfrontiert. Um diesen Aspekt dreht sich dann auch die Diskussion, die wegen des Mittagessens leider vorzeitig abgebrochen werden musste. Die anderen auf dem Symposium gehaltenen Vorträge sind hier dokumentiert. Ein Text von Anselm Jappe zum Vergleich von Adorno und Guy Debord gibt es hier.

Abstract: Weiterlesen