Archiv für den Monat: Mai 2011

Identität und Geschlecht

Die AG Queer Weimar hat anlässlich des Internationalen Tags gegen Homophobie eine Veranstaltungsreihe organisiert, in deren Rahmen zwei Vorträge gehalten wurden, die wir hier dokumentieren:

1. Identitätspolitik und Anti-Identitätspolitik

Michel von der Gruppe Wider die Natur und vom Bildungskollektiv Erfurt demonstriert in seinem Vortrag zunächst anhand der deutschen Identität, wie Identitäten entstehen und was sie auszeichnet. Anhand schwuler Identitätspolitik zeigt er, dass diese durchaus emanzipative Fortschritte erringen kann und geht dann darauf ein, wieso mit diesen Errungenschaften dennoch neue Ausschlüsse entstehen. Er hält dann nach Perspektiven von Anti-Identitätspolitk Ausschau und plädiert dafür, ein Spannungsverhältnis von Identitätspolitik und Anti-Identitätspolitik aufrecht zu erhalten.

Identitäten organisieren die Subjektivität in der modernen Welt. Fahnen, Pässe und „Du bist Deutschland“ stärken die nationale Identität, „Ich bin halt so“ erklärt Verhalten mit der persönlichen Identität. Identität ist aber auch Mittel emanzipatorischer Kämpfe: Die Frauenbewegung ist oft nur deswegen so stark, weil sie auf weibliche Identität pocht, ähnliches gilt für die Schwulenbewegung und manchmal – ungewollt – sogar für queeres Aufbegehren. Die Veranstaltung schärft das Verständnis für Identität und den politischen Umgang damit. Die zugrundeliegende These ist: Bei politischen Kämpfen ist ein Identitätsbewusstsein vonnöten, um nicht in die Identitätsfalle zu stolpern. [via]

    Download: via AArchiv (mp3; 25,9 MB; 45:20 min)


2. Queer und Kapitalismuskritik

Heinz-Jürgen Voß (siehe auch das zahlreiche Audiomaterial auf seiner Homepage und im FRN, sowie das Interview hier) arbeitet im ersten Teil seines Vortrags fragmentarisch heraus, warum Ökonomiekritik und eine queere Kritik der Geschlechterverhältnisse notwendig zusammengehören. Im zweiten Teil begründet er warum Körperlichkeit und Wahrnehmung immer schon gesellschaftlich sind. Einen besonderen Augenmerk legt er dabei auf biologistische Begründungszusammenhänge.

Unterschiede zwischen Menschen – so geschlechtliche – sind nicht vorgegeben, sondern resultieren aus Ungleichbehandlungen. Anstatt noch immer über die Berechtigung der 1949 gewagten These von Beauvoir „Kein biologisches […] Schicksal bestimmt die Gestalt, die das weibliche Menschenwesen […] annimmt“ zu diskutieren, gilt es, radikal weiterzudenken. Die Kategorie „Geschlecht“ soll einer genauen Analyse unterzogen und Ableitungen für Veränderung erarbeitet werden, die ein gutes Leben für alle Menschen ermöglichen. Kapitalismuskritik braucht queere Perspektiven, genau wie zu Queer unbedingt Kapitalismuskritik gehört.
Dr. Heinz-Jürgen Voß forscht und lehrt zu Geschlecht, Biologie und Queer. [via]

    Download: via AArchiv (mp3; 66,8 MB; 1 h 56:45 min)

Re-thinking Marx. Konferenzbericht vom DLF

Wie ich erwartet habe, hat der Deutschlandfunk (Studiozeit) einen Bericht zur Berliner Konferenz Re-Thinking Marx gesendet. Zu Wort kommen Rahel Jaeggi, Axel Honneth und Christine Löw. Lesen, Hören (8 min, 3 MB). Beim FSK wird am kommenden Montag übrigens der Vortrag von Moishe Postone gesendet. Fragt sich nur, ob es diesen auch zum Download gibt. Ein paar kleinere Vorträge von zwei der Panels wird es jedenfalls in nächster Zeit hier geben.

Schule der Nation

Die Redaktion Sachzwang FM ist weiterhin produktiv und nimmt sich in der aktuellen Sendung (Ende April) die Schule als kapitalistische Konditionierungsanstalt vor. Im ersten Teil der Sendung kommt Freerk Huisken (GSP) zu Wort: »Wieso, weshalb, warum macht die Schule dumm?«. Im Anschluss nimmt Magnus Klaue die sog. Bildungsproteste unter die Lupe und kritisiert en passant Reformpädagogik und das deutsche Bildungsbürgertum. Sein Vortrag trägt den Titel »Die Bildung als Widersacher des Geistes« (Dr. Indoctrinator hat in seiner Eröffnungsmoderation offenbar die beiden Substantive vertauscht) und wurde im November 2010 in Wien von der Basisgruppe Politikwissenschaft aufgezeichnet. Er kann einzeln heruntergeladen werden.

    Download
    Sendung: via AArchiv | MF (2 h, 41 MB)
    Vortrag Klaue:
    Edit: nachbearbeitet, daher nun ohne blechernen Klang: via AArchiv | via MF (0:46 h, 33 MB) | Original via BaGruPoWi (21 MB, leiser und mit blechernem Klang)

Ankündigungstext zum Vortrag Klaues: Weiterlesen

Fukushima und das atomare Zeitalter

Die Reaktorunfälle im Kernkraftwerk Fukushima liegen knapp zwei Monate zurück. Auch wenn es nach wie vor bundesweite Demonstrationen für den sofortigen Atomausstieg gibt, scheint das Thema inzwischen aus den Tagesordnungsdebatten, auch der Linken, verschwunden zu sein – ohne dass sich etwas grundlegend an der Situation in Fukushima verändert hätte. Wir stellen im Folgenden eine Auswahl von Radiobeiträgen zur Verfügung, die deutlich machen, dass eine Kritik der militärischen und zivilen „Nutzung“ der Kernenergie Bestandteil linksradikaler Gesellschaftskritik sein muss. In den meisten Beiträge liefern die Texte von Günther Anders Stichworte zur Auseinandersetzung mit den möglichen Folgen der Kernenergie. Dabei sei angemerkt, dass Günther Anders der Verdinglichung der gesellschaftlichen Verhältnisse dahingehend Rechnung trägt, indem er darauf hinweist, dass wir von „Geräten“ beherrscht werden, uns ihre Logik aufzwingen lassen. Gleichzeitig sitzt er dieser Verdinglichung selbst auf, da er das Problem nur im Charakter der Dinge erkennen kann – welche aber demgegenüber als gesellschaftliche Objektivationen, auch in ihrer konkret-dinglichen Beschaffenheit, nur als gesellschaftlich vermittelt (konkret: durch die kapitalistischen Verhältnisse) begriffen werden können.

1. Be trusted – be sad

6 Tage nach dem Bekanntwerden der Ereignisse in Japan sendete das Freie Senderkombinat (FSK) ein ausführliches Gespräch mit Günther Jacob über Atomkraft als gesellschaftlichen Zusammenhang und über die Lehren, die aus Fukushima zu ziehen wären. Themen sind u.a. die Geschichte der Anti-Atombewegung und Muster der Rechtfertigung der Nutzung von Atomkraft.

Vor sechs Tagen sind in Japan mehr als 10.000 Menschen durch einen Tsunamie getötet worden. Eine überlebende Frau sagte, daß sie nicht wisse, ob es überhaupt o.k. sei, daß sie noch lebe. Die Sorge, die umtreibt lautet: Strahlung. Die Ereignisse und die Politik, die sich um sie herum entwickelt, sind nicht kommentierbar hinsichtlich eines Auswegs. Die Sorge aber um die Handlungsfähigkeit gewinnt die Überhand. Ein Motiv darin: Bestätigung. Ein Lehrstück über das Denken 2011 während der Reaktorkatastrophe in Fukushima.[via]

    Download: via FRN (mp3; 53,4 MB; 58:22 min)

2. Wutpilger-Streifzüge März 2011

Die Märzausgabe der Sendereihe „Wutpilger-Streifzüge“ (Radio Lotte / Radio Corax) hat ebenfalls die Ereignisse in Fukushima zum Themenschwerpunkt – verlesen wird der Text „Steinzeit? Nein Danke!“ von Roger Behrens, der anschließend in einem Interview selbst zum Thema zu Wort kommt. Das Interview ist leicht gekürzt inzwischen in schriftlicher Form im Programmheft von Radio Corax erschienen (als PDF oder als html via aergernis).

  • Sendung komplett: via MF (mp3; 55,2 MB; 1 h)
  • Roger Behrens: „Steinzeit? Nein Danke!“: via AArchiv (mp3; 6,4 MB; 11:13 min)
  • Roger Behrens im Interview: via AArchiv (mp3; 21,9 MB; 23:53 min)

3. Wutpilger-Streifzüge April 2011

Auch die April-Ausgabe der Sendereihe „Wutpilger-Streifzüge“ hat die Ereignisse in Japan noch einmal zum Thema – diesmal werden die „Gebote des atomaren Zeitalters“ von Günther Anders vollständig vorgelesen.

  • Sendung komplett: via MF (mp3; 54,9 MB; 1 h)
  • Günther Anders: „Gebote des Atomzeitalters“: via AArchiv (mp3; 14,2 MB; 24:52 min)

4. Das Philosophische Radio März 2011

Vielleicht eher als Hintergrundwissen denn als gesellschaftskritischer (geschweige denn kapitalismuskritischer) Beitrag: Beim Philosophischen Radio (WDR5) ging es im März um Günther Anders. Studiogast war Konrad Paul Liessmann, durch den man einige interessante Aspekte über Günther Anders erfahren kann. Natürlich wird auch über die Ereignisse in Fukushima diskutiert.

    Download: via WDR oder via MF (mp3; 23,6 MB; 51:28 min)

Re-Thinking Marx

Karl Marx scheint in akademischen Kreisen wieder hip zu sein – die Kommunismuskongresse und Klassenkonferenzen werden am nächsten Wochenende durch eine Tagung in der Hauptstadt ergänzt: Re-Thinking Marx. Solvejg Beier von Radio Corax hat sich mit einem der OrganisatorInnen unterhalten: hören. Das Audioarchiv, mindestens so flexibel wie Karl Marx, wird das kostenlos-revolutionäre Angebot wahrnehmen und vor Ort nach Audio-Material Ausschau halten.

Klassen, Kämpfe & Revolte: Der Mai ’68 in Frankreich

Die antikapitalistische Gruppe Revolta hat am 19. April in Jena zusammen mit der Jour Fix Initiative Berlin einen Vortrag über die Ereignisse des Mai/Juni 1968 in Frankreich organisiert. Elfriede Müller referiert über Hintergründe und Bedingungen mit denen es dort zu einer Massenstreikbewegung kommen konnte, welche die Wirtschaft des ganzen Landes für einige Wochen nahezu zum Erliegen brachte. Sie gibt einen Überblick über die Abläufe, die beteiligten Gruppierungen und die Gegenreaktionen und zieht dann Schlüsse, die aus einer revolutionären Perspektive aus diesen Ereignissen zu ziehen wären. Besonders betont sie den individualistischen Charakter der Revolte und setzt die Perspektive auf das Subjekt, die in diesen Kämpfen gewonnen wurde, in Beziehung zur Gegenwart. Neben dem zum Thema erschienenen Band der Jour Fix Initiative empfehle ich die Lektüre des Buches „Wütende und Situationisten in der Bewegung der Besetzungen„, in dem der Situationist René Viénet unmittelbar nach den Ereignissen im Mai ’68 auf das Scheitern dieses revolutionären Anlaufs reflektiert und insbesondere ein Licht auf die Rolle der Situationisten wirft, die Elfriede Müller nur am Rande erwähnt. Ebenfalls sei auf die zur Zeit laufende Veranstaltungsreihe der Jour Fix Initiative verwiesen, die einige vielversprechende Programmpunkte enthält.

Download: via AArchiv (mp3; 19 MB; 0:56 h)

Ankündigungstext: Weiterlesen

Traditionalität und Aktualität. Zur Aufgabe kritischer Theorie

Heinz Maus, marxistischer Soziologe und Agitator der linken Studentenbewegung, gehörte in den 60er Jahren zusammen mit Wolfgang Abendroth und Werner Hofmann zum sogenannten „Marburger Dreigestirn“. Mit diesen Namen ist die Stadt Marburg als ein zweites Zentrum der Kritischen Theorie bekannt geworden. Heinz Maus‘ Wirken gilt im Rückblick als „bar jeglicher taktischer Opportunität“, „unbürokratisch bis zur Inkorrektheit“ und es umgab ihn „neben der politischen Komponente ein starkes Element persönlicher Intransigenz gegenüber jeder Ordnung, jedem Establishment“. (via) Seinen hundertsten Geburtstag nahm die AG Kritische Theorie der Uni Marburg zum Anlass, um eine Tagung mit dem Titel „Traditionalität und Aktualtität. Zur Aufgabe Kritischer Theorie“ zu organisieren (zum Programm). Die OrganisatorInnen der Tagung haben uns freundlicher Weise sämtliche Mitschnitte der dort gehaltenen Vorträge1 zukommen lassen (insbesondere Dank an David für’s Schneiden des Audiomaterials und den freundlichen Kontakt), die wir hier zur Verfügung stellen:

Im Folgenden sind relativ große Dateien (128 kBit/s) verlinkt. Kleinere Fassungen (48 kBit/s) sind auf unserem Server abgelegt.

1. BegrüßungAG Kritische Theorie

Zur Einführung referieren Oliver Römer und Christian Spiegelberg von der AG Kritische Theorie über Ausgangsfragen und Intention der Konferenz, über den Hintergrund an der Marburger Uni, insbesondere am Institut für Soziologie, sowie über die Rolle des Soziologen Heinz Maus.

    Download: via AArchiv (mp3; 11 MB; 11:58 min)

2. Zur Soziologie von Heinz Maus – David Salomon

David Salomon (Universität Marburg) stellt zunächst einige Überlegungen über die Relevanz der Begriffe Traditionalität und Aktualität für kritische Theorie im Allgemeinen an, um dann über die intellektuelle Sozialisation von Heinz Maus zu referieren. Im Anschluss nimmt er das besondere Verhältnis von Philosophie und Marxismus (Karl Korsch, Georg Lukács) zum Ausgangspunkt und rekonstruiert auf welche Weise Heinz Maus dieses bearbeitet und präzisiert hat. Zentral sind dabei die Rolle der Soziologie für den modernen Marxismus (Positivismusstreit etc.) und das Problem der Historizität im marxistischen Denken (Karl Marx, Walter Benjamin, Friedrich Nietzsche). Er endet mit einem Umweg über Bertolt Brecht mit einigen Überlegungen zu den Mausschen Ausführungen zum Verhältnis von Leid und Glück als materialistische Maßstäbe der Kritik und als Kategorien, denen nach wie vor eine dringende Aktualität für eine kritische Theorie der Gesellschaft als Ganzer zukommt.

    Download (via AArchiv): Vortrag (mp3; 45,2 MB; 49:19 min)

3. »Politisierung der Kunst« oder »die Kunst wegschaffen«?Zum Verhältnis von Politik und Kunst bei Walter Benjamin und bei der Situationistischen Internationale – Claus Baumann

Seinem Vortrag über den Vergleich der benjaminschen und situationistischen Perspektive auf das Verhältnis von Kunst und Politik stellt Claus Baumann (Universität Stuttgart, Duale Hochschule Stuttgart, Autorenkollektiv Biene Baumeister Zwi Negator) einige grundsätzliche Überlegungen zum nachträglichen, reflexiven Charakter dieser Kategorien voran (wie sie ähnlich in schriftlicher Form hier veröffentlicht wurden). Dann stellt er jeweils die ästhetischen Konzepte von Benjamin und den Situationisten vor, um sie u.a. anhand der Stellung zur surrealistischen Parole, dass die Poesie in den Dienst der Revolution zu stellen sei, aneinander abzuarbeiten.

Die Situationistische Internationale (1958–1972) um Guy Debord sprach sich einerseits für »neue Aktionsformen gegen Politik und Kunst« aus. Andererseits kritisierten sie die Surrealisten um André Breton dafür, dass diese »Poesie in den Dienst der Revolution« stellen wollten (la poésie au service de la révolution); es komme vielmehr darauf an, »die Revolution in den Dienst der Poesie zu stellen« (la révolution au service de la poésie). Prima facie scheint das situationistische Projekt den Überlegungen von Walter Benjamin zu widersprechen, der 1936 in seinem Aufsatz »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« die Auffassung vertreten hat, dass es für gesellschaftskritische, communistische Bestrebungen auf eine »Politisierung der Kunst« ankomme, während der Faschismus eine »Ästhetisierung der Politik« betreibe. Ziel des Vortrags ist es, die jeweiligen Spezifika der situationistischen sowie benjaminischen Überlegungen zum Verhältnis von Politik und Kunst darzulegen und daran anknüpfend der Frage nachzugehen, wie eine aktuelle und kritische Reflexion dieses Verhältnisses angesichts der derzeitigen Lage der bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse aussehen könnte.

Claus Baumann (*1967) promovierte im Fach Philosophie an der Universität Stuttgart. Er ist Lehrbeauftrager der Universität Stuttgart im Fachbereich Philosophie sowie an der Dualen Hochschule in Stuttgart im Fachbereich Sozialwesen. Seine derzeitigen Forschungsschwerpunkte sind Dialektik, Kritik der politischen Ökonomie, Gesellschaftstheorie, politische Philosophie und Philosophie der Ästhetik.

    Download: Vortrag (mp3; 34,4 MB; 37:33 min), Diskussion (mp3; 22,8 MB; 24:54 min)

4. Gehirn und Geist. Über das Verhältnis von Material und Freiheit zum Gegensatz von empirischer Forschung und Reflexivität – Christine Zunke

Christine Zunke (Universität Oldenburg, siehe auch ihren Beitrag hier) eröffnet die Problemstellung ihres Vortrags mit einer einführenden Überlegung zur descartschen Unterscheidung von denkender und materieller Substanz, um hiervon zu aktuellen Problemen der Gehirnforschung überzugehen: inwiefern lässt sich das Denken aus den physikalischen Prozessen im Gehirn erklären, inwiefern geht es darüber hinaus? Diese Problemstellung führt notwendiger Weise zur Frage nach der Freiheit des Willens, bzw. grundlegender nach der Frage, ob es das Denken überhaupt gibt. Dass diese Frage mit Ja zu beantworten ist, ist für Zunke nur möglich, indem die Gegensätze von Geist|Körper, Materialität|Immaterialität, physikalischen Prozessen im Gehirn|Immaterialität des Denkens als Antinomien zu begreifen sind: weder als Dualität, noch als Identität verhalten sich die widerstreitenden Seiten wechselseitig konstitutiv zueinander, so die These des Vortrags.

Die modernen Neurowissenschaften scheitern trotz immenser Fortschritte beständig an der Frage nach der Schnittstelle zwischen Gehirn und Geist. Diese Frage nach der Entstehung des (reflexiven und freien) Denkens aus dem physischen Material kann nirgendwo hinführen. Eine im naturwissenschaftlichen Sinne befriedigende Antwort hierauf kann es prinzipiell nicht geben, denn dann müsste das Material die kausale Ursache des Ideellen sein, was das Ideelle als physikalische Wirkung zu einem materiellen Gegenstand machen würde, welcher seiner Bestimmung nach kein Ideelles sein kann. Die konsequenteste Antwort der Neurophysiologie lautet darum, dass das Ideelle bloßer Schein sei, dem keine Wirklichkeit korrespondiere. Der Geist sei eben nicht reflexiv und frei, sondern eine bloß natürliche Funktion des Gehirns, die in der Innenwahrnehmung als Bewusstsein erscheine. Unser Geist sei nicht materiell und darum nicht wirklich. Wir denken ihn bloß. Dass das Denken Gedachtes ist, hat die Philosophie schon immer gewusst. Doch wenn diese Erkenntnis unter den Vorzeichen der empirischen Wissenschaften von der Geistes- und Gesellschaftswissenschaft aufgenommen wird, bekommt sie einen reaktionären Gehalt: Da Reflexionen als gegenstandslos erscheinen, wird Kritik methodisch unmöglich und es bleibt allein der Weg der Affirmation des Bestehenden offen.

Dr. Christine Zunke lehrt Philosophie an der Universität Oldenburg und hat mit ihrer 2008 im Akademie-Verlag erschienenen Dissertation „Kritik der Hirnforschung“ eine der ersten grundlegenden Kritiken der Neurophilosophie vorgelegt. Ihre Forschung fokussiert die moralischen und politischen Implikationen moderner Naturwissenschaften.

    Download: Vortrag (mp3; 42,9 MB; 46:53 min), Diskussion (mp3; 19,3 MB; 21:03 min)

5. Intellektuelle und die Genealogie der Kritischen Theorie – Alex Demirović

Alex Demirović (TU Berlin, „PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft“) greift die Auseinandersetzung mit Heinz Maus wieder auf, um ihn als eine besondere Figur der älteren Generation der Kritischen Theorie zu verorten und dessen Rolle für die kritische Soziologie in Deutschland und sein Verhältnis zum Institut für Sozialforschung in Frankfurt zu rekonsturieren. Hiervon ausgehend arbeitet sich Demirović an der bundesdeutschen Historisierung der Kritischen Theorie und ihrer Einordnung in (nach seiner eigenen ironischen Berechnung) mittlerweile 7 Generationen ab, um dafür zu plädieren, dass sich kritische Theorie zwar permanent selbst zu reflektieren habe, in ihrer kritischen Selbsthistorisierung aber nicht in der selbstreferentiellen und inhaltsentleerten Frage stecken bleiben darf, wer denn nun zur Kritischen Theorie gehört und wer nicht. Gegenüber dem akademischen Leerlauf beharrt Demirović darauf, dass die Begriffe wieder in Bezug auf die Gesellschaft und ihren Wandel entwickelt werden müssen und vor Allem nicht nach dem besseren Funktionieren der Gesellschaft, sondern nach ihrer praktischen Veränderung zu trachten haben. An diesem Vortrag fällt m.E. das Faktum der Trennung von institutionalisierter Kritischer Theorie in der Akademie und radikaler Linker auf, die bei Demirović ebenfalls überhaupt nicht vorkommt.

    Download: Vortrag (mp3; 36,1 MB; 39:23 min), Diskussion (mp3; 21,8 MB; 23:47 min)

6. Gewalt als Grenze des Anerkennens – Thomas Bedorf

Der Vortrag von Thomas Bedorf (Fernuniversität Hagen) sticht ein wenig aus dem Programm heraus, da dieser sich selbst nach eigener Angabe nicht in der „Großfamilie“ der Kritischen Theorie verortet, dafür aber gewissermaßen von außen eine Auseinandersetzung mit einem Theorem (bzw. Verfallsprodukt) der Kritischen Theorie sucht: die Theorie der Anerkennung von Axel Honneth. Er diskutiert dabei grundlegende Fragen: Ist Gewalt hermeneutisch in den Bereich des Verstehbaren hineinzuholen? Ist Anerkennung überhaupt ein geeigneter Schlüsselbegriff um Interaktion in ihrer Konflikthaftigkeit zu begreifen? Welchen Platz räumt eine Theoretisierung von Anerkennungsverhältnissen der Gewalt ein? Er arbeitet sich zu nächst an Honneths Theorie der Anerkennung ab, vergleicht diese dann mit anderen Auseinandersetzungen mit Anerkennung (Judith Butler, u.a.), um schließlich seine eigene Position zu begründen: Anerkennung implizert auch immer Verkennung, sie kann zwar ohne Gewalt, nicht aber ohne Macht gelingen.

Ob es um die Themen von Protestbewegungen geht, um die Belange ethnischer und sexueller Minderheiten oder um Nationen im Kampf um einen eigenen Staat – stets geht es um die Anerkennung von Anderen, die zum Gegenstand von Verhandlungen, aber auch politischem Widerstand und sozialen Konflikten wird. Der Vortrag wird die Gewalt, die das Ringen um Anerkennung auslösen kann im Horizont eines Modells „verkennender Anerkennung“ zum Thema haben. Anerkennungstheorien, die das Ideal gelingender Anerkennung unterstellen, schließen Gewalt prinzipiell aus. Sie betrachten Missachtungen lediglich als Signale für Ansprüche auf Anerkennung. Anerkennungstheorien, die die Subjektivierungsdispositive in den Vordergrund stellen, behaupten hingegen Gewalt als für die Subjektkonstitution unausweichlich. Ein Modell „verkennender Anerkennung“, das auf der Einsicht beruht, dass es vollkommene Anerkennung nicht geben kann, da moderne Identitäten nichts fixierbares, sondern ständig in Bewegung sind, droht zur Affirmation von Gewalt genötigt zu sein, da es ihm an normativen Kriterien fehlt, sie von vornherein auszuschließen. Als Lösungsvorschlag soll der Gedanke dienen, dass, wo Machtformen irreduzibel zum Anerkennen hinzugehören, Gewalt als Abbruch des Prozesses des Anerkennens dennoch ausgeschlossen werden kann.

Dr. Thomas Bedorf ist Privatdozent für Philosophie und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fernuniversität Hagen. Im Wintersemester 2009/2010 war er Gastprofessor für Politische und Sozialphilosophie an der Universität Wien.

    Download: Vortrag (mp3; 40,9 MB; 44:40 min), Diskussion (mp3; 32,4 MB; 35:24 min)

7. Zweite Natur: Kritik und Affirmation – Christoph Menke Besonders hörenswert

Christoph Menke (Goethe Universität Frankfurt am Main) referiert in seinem Beitrag über den Begriff der 2. Natur, wie ihn Hegel entwickelt hat. Das Theorem der zweiten Natur versucht selbstauferlegten Zwang, selbstverschuldete Unmündigkeit zu erklären, indem es die soziale Struktur in den Blick nimmt – es soll der Umschlag des aus Freiheit selbst gemachten in ein selbstständig Seiendes, Unmittelbares erklärt werden. Menke erklärt die Ausführungen Hegels zu diesem Problem vor Allem am Begriff der Gewohnheit als unbewusstes bzw. unbewusst geleitetes Handeln und rekonstruiert hierbei zwei Seiten der Gewohnheit: einmal als Bildung zur Fähigkeit Zwecke zu setzen, auf der anderen Seite als selbst mechanischer Vollzug. An dieser Doppelseitigkeit macht Menke deutlich, dass Hegel nicht einfach abstrakt negierend vorgeht: es geht nicht um eine Gegenüberstellung vom Prozess des Setzens als etwas Gutem und der Verselbstständigung der Setzung gegenüber dem Setzenden als etwas Schlechtem – Kritik und Affirmation sind bei Hegel auf unlösbare Weise miteinander verquickt. Menke streift die Relevanz der Hegelschen Reflexion auf die zweite Natur für die Kritische Theorie (für Marx, Lukács, Adorno und Benjamin) nur am Rande, macht aber deutlich, dass Hegel die Grundlagen materialistischer Kritik gelegt hat. – Ein wirklich guter und hörenswerter Hegel-Vortrag!

    Download: Vortrag (mp3; 45,1 MB; 49:16 min), Diskussion (mp3; 13,5 MB; 14:44 min)

8. Negativität. Adorno und Hegel – Michael Städtler

Negativität fasst Michael Städtler in seinem Vortrag als Formbestimmung kritischer Theorie und setzt Adorno und Hegel unter diesem Aspekt in Bezug zueinander. Er zeigt warum Adorno Zweifel an einer Geistesgeschichte hegte, deren Triumph Hegel bloß zu rekonstruieren suchte – während Hegel die Verwirklichung der Vermittlung von Vernunft und Wirklichkeit am Ende der Philosophiegeschichte zu sehen glaubte, bestreitet Adorno die so definierte Verwirklichung der Philosophie. Städtler macht dabei deutlich, dass Adorno jedoch gegenüber Hegel nicht nur Skepsis hegt – gerade an Adornos Kritik des Positivismus wird deutlich, dass er mit dem Anspruch, dass das Denken über das bloß Gegebene hinauszuweisen habe, an Hegel festhält. Ziel Adornos ist es, Theorie und Praxis miteinander zu verwirklichen, ohne sie jedoch wechselseitig zueinander aufzuheben – hieran wird deutlich, dass Adorno zu Kant zurückkehrt, nicht jedoch ohne Hegels Kritik an Kant zu verwerfen. Vielmehr gilt es die Spannung von Widersprüchen aufrecht zu erhalten, die in Hegels Versuch der Aufhebung zu einer verkehrten Totalität eingeebnet zu werden drohen. Was dies bedeutet macht Städtler u.a. an der negativen Theologie deutlich, die versucht Gott aus der Summe dessen zu bestimmen, was Gott nicht ist – Adorno macht die Widersprüchlichkeit dieses Denkversuchs für materialistische Kritik fruchtbar, die Hegel im Versuch, aus dieser Negativität ein System absoluten Wissens zu machen, einebnet.

Das Verhältnis Adornos zu Hegel ist gespalten. Einerseits sei die Hegelsche Philosophie unübergehbare Voraussetzung jedes „theoretische[n] Gedankens von einiger Tragweite heute“ (Adorno, Aspekte), andererseits sei das System Ausdruck der Angst des Bürgertums vorm eigenen Untergang „[i]m Schatten der Unvollständigkeit der eigenen Emanzipation“. (Adorno, Negative Dialektik) Damit aber gilt diese Form von Philosophie der Kritik nicht einfach als eine falsche, sondern in der Kritik ihrer Fehler werden Einsichten über den Stand der Entwicklung von Selbstbewußtsein und Freiheit möglich, die sonst unsichtbar blieben. Die Kritik des bürgerlichen Bewußtseins setzt dessen selbstbewußt durchformulierten Begriff voraus. Noch strikter: Das Bewußtsein in der bürgerlichen Gesellschaft ist, wie diese selbst, realisierte Freiheit, aber in verkehrter Gestalt. Das Ziel radikaler Befreiung ist diesem Bewußtsein ebenso fremd, wie es selbst diesem Ziel vorausgesetzt ist. Mit diesem Gedanken begibt sich aber das Bewußtsein kritischer Theorie in Widerspruch zu sich selbst: Es verdankt seine wesentlichen Einsichten einer Geschichte, die abzulehnen, aber nicht mehr aufzuheben ist; ein durchaus unbefriedigender Zustand, der dazu führt, daß Adorno eine Dialektik entwirft, an deren Ende keine affirmativen Urteile mehr stehen. Die Kritik wird nicht konstruktiv gewendet, sondern sie bleibt kritisch. Dieser Gedanke ist offenkundig so frustrierend, daß nicht bloß die Schulphilosophie des 20. Jahrhunderts ihn nie wahrhaben wollte, sondern daß selbst diejenigen, die seit Adorno unter dem zum Label gewordenen Ausdruck ‚Kritische Theorie‘ firmieren, ihn aus ihrem Sortiment genommen haben. Was es dagegen heißt, bei der Kritik zu bleiben und wer eigentlich deren Subjekt sein kann, warum schließlich der auf Kritik beharrende Gedanke nicht nichts ist, soll in dem um die Bedeutung von Negativität zentrierten Vortrag über das Verhältnis Adornos zu Hegel überlegt werden.

PD Dr. Michael Städtler, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Exzellenzcluster „Religion und Politik“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Vorstand des Gesellschaftswissenschaftlichen Instituts Hannover.

    Download: Vortrag (mp3; 48,9 MB; 53:22 min), Diskussion (mp3; 12,1 MB; 13:10 min)

9. Glückliche Ehe oder liaison dangereuse? Fragen nach der Verbindung von Feministischer und Kritischer Theorie – Cornelia Klinger

Cornelia Klinger (Eberhard Karls Universität Tübingen) beginnt ihren Vortrag mit einigen Vorüberlegungen zur Entstehung und zu Schwierigkeiten feministischer Bewegung und Theorie, um dann Kritische Theorie und Feministische Theorie unter drei Aspekten in Beziehung zueinander zu setzen: 1. Kritik, 2. Negation und Negativität und 3. Utopie. Sie legt im ersten Teil sehr ausführlich dar, welche Bedeutung diese drei Aspekte für die Kritische Theorie haben und referiert in einem zweiten, kürzeren Teil, wie feministische Kritik diese drei Aspekte auf spezifische Weise bewusst oder unbewusst aufgreift und erweitert. Sie schließt mit der Formulierung eines Anspruchs, den sie an feministische Theorie heute heranträgt: dass diese wieder vermehrt an die Kritische Theorie Adornos/Horkheimers anknüpfen möge. Trotz der Genauigkeit ihrer Ausführungen zur Kritischen Theorie bleibt deren Verbindung zum Feminismus oberflächlich und müsste selbst noch konkret bestimmt werden. Sympathisch ist ihre Betonung der außer(!)akedemischen Dimension kritischer Theorie im Anspruch auf allgemeine Emanzipation.

Feminismus wurde nicht als Theorie geboren, sondern verdankt seine Entstehung einer gesellschaftlichen und politischen Bewegung, die erst im Verlauf ihrer Entwicklung – nicht zuletzt infolge der Widerstände, auf die sie gestoßen ist – begonnen hat, sich ein theoretisches Fundament zu erarbeiten. An verschiedene unterschiedliche Theoriegebäude (Liberalismus, Marxismus, Psychoanalyse u.a.) hat feministische Theorie mehr oder weniger erfolgreich Anschluss gesucht und gefunden. Vor diesem Hintergrund geht der Vortrag der Frage nach dem Verhältnis von Feminismus und kritischer Theorie nach. Ausgehend von der These, dass feministische Theorie per se kritische Theorie ist, das heißt mit der älteren kritischen Theorie der Frankfurter Schule im Ansatz mehr Gemeinsamkeiten aufweist als mit irgend einem anderen Theoriegebäude wird zu zeigen sein, dass feministische Theorie die ‚bessere‘, konsequentere und vollständigere Kritische Theorie sein bzw. werden könnte – unter der Voraussetzung, dass sie ausgerechnet einige besonders traditional erscheinende Elemente der kritischen Theorie aufzunehmen und zu aktualisieren vermöchte.

Cornelia Klinger ist außerplanmäßige Professorin an der Eberhard Karls Universität Tübingen und ständiges wissenschaftliches Mitglied am Institut für die Wissenschaften am Menschen in Wien. Sie hatte Lehraufträge und Gastprofessuren an den Universitäten Wien, Zürich, Bielefeld, Frankfurt, Klagenfurt, Innsbruck, Tübingen, München, Luzern und Berlin inne. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Politische Philosophie und Geschichte der Moderne, Feministische Theorie/gender studies und Ästhetische Theorie.

    Download: Vortrag (mp3; 40,5 MB; 44:13 min), Diskussion (mp3; 26,6 MB; 29:02 min)

10. Im Handgemenge des SprechensGibt es eine „verdrängte Sprachphilosophie“ der Kritischen Theorie? – Jan Müller

Jan Müller (TU Darmstadt) widerspricht in seinem Vortrag der sprachpragmatischen Deutung Adornos (u.a. Jürgen Habermas, Martin Seel), alles Denken und Sprechen sei per se verdinglicht, womit Sprache selbst in einer tragischen Auffassung von Geschichte aufgehen müsse und nur der Ausweg einer sprachlosen Offenbarung bliebe. Hierzu referiert er ausführlich Benjamins frühen Text „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen„, um dann Benjamin und Adorno in Beziehung zueinander zu setzen. Ein sehr komplexer und kompakter sprachtheoretischer Vortrag.

Die Aneignung der ersten (oder Gründungs-)Phase der kritischen Theorie steht allgemein unter Metaphysikverdacht, eine Befürchtung, die insbesondere das Verständnis von Sprechen und Sprache betrifft. Theodor W. Adorno habe, darin inspiriert von Walther Benjamin, eine Fundamentalkritik der Sprache unter dem „eisigen Strahlen“ instrumenteller Vernunft verfolgt. Die Konsequenz dieser unterstellten Absicht ist ein Dilemma: Entweder – das sei der Ausweg Benjamins – sei Zuflucht zu einem theologischen Sprachmodell genommen, oder – so unterstellt man Adorno – eine Delegation der sonst dem Sprechen zugeschriebenen
Funktionen an eine (damit aber überlastete) „ästhetische Erfahrung“ unternommen worden. Würde die frühere kritische Theorie an einem romantisch überhöhten Bild der Sprache leiden, dann wäre seine Korrektur durch die Erfordernisse kommunikativer Rationalität eine wünschenswerte und sachlich unvermeidbare Konsequenz. Der Vortrag möchte dagegen die – allmählich vernehmbarere, aber noch immer randständige – Vermutung stark machen: (1) Die Kritik an den sprachphilosophischen Überlegungen Benjamins und Adornos gewinnt ihre Plausibilität vor allem aus der Übernahme von Grundunterscheidungen der analytischen Theorie des Sprachhandelns – sie artikuliert den Sachverhalt, dass Adorno und Benjamin Sprache anders thematisieren als die Tradition z.B. Searles. (2) Diese andere Thematisierungsform lässt sich nicht als bloß alternatives Modell von Sprechen und Sprache verstehen; Benjamin und Adorno liefern, in offener und verdeckter Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen sprachphilosophischen Diskussion, eine „Metakritik“ – sie fragen präsuppositionsanalytisch nach den Voraussetzungen und Angemessenheitskriterien vernünftigen Nachdenkens über Sprache. (3) Das Resultat dieser Auseinandersetzung ist eine Verortung der Funktion und Reichweite des Modells propositionaler Sprachreflexion. Sie zeigt (a) das Ungenügen einer am Kommunikationsparadigma orientierten Reflexionsform, die Funktion des Sprechens als Medium der Bildung und Reproduktion unserer Praxisform zu thematisieren, und provoziert (b) eine für die gegenwärtige Diskussion provozierende Blickumkehr, die Sprache nicht einfach Medium „des Politischen“ , sondern als politisches Medium begreifbar macht.

Dr. Jan Müller (*1979) studierte Philosophie und Deutsche Sprache und Literatur in Marburg. Promotion 2010 in Stuttgart, derzeit wiss. Mitarbeiter am Institut für Philosophie der TU Darmstadt. Er beschäftigt sich vor allem mit dialektischer Handlungs- und Tätigkeitstheorie, Sprachphilosophie und politischer Philosophie (und ihrem Verhältnis zueinander).

    Download: Vortrag (mp3; 42,3 MB; 46:08 min), Diskussion (mp3; 31,9 MB; 34:49 min)

11. Podiumsdiskussion: Zur Praxis kritischer Theorie. Formen der Gesellschafrkskritik heute

Moderiert von Christoph Demmerling (Philipps-Universität Marburg) diskutieren auf dem ersten Podium Alexander Garciá Düttman, Christoph Henning (Universität St. Gallen, u.a. „Philosophie nach Marx„), Philip Hogh (Goethe Universität Frankfurt a.M., u.a. Jungle World) und Cornelia Klinger über die Anforderungen einer tatsächlichen Weiterführung und Aktualisierung Kritischer Theorie. Für Düttman stellt sich eine solche Aktualisierung als eine kritische Selbstreflexion der AkademikerInnen dar: er verbindet die adornitischen Theoreme der sozialen Kälte und des universellen Verblendungszusammenhangs mit einer Kritik der neoliberalen Universität. Henning plädiert dafür, einige Themen der Klassiker der Kritischen Theorie (insbeondere nennt er Honneth) liegen zu lassen und fordert gleichzeitig dazu auf, wieder an die ältere Generation der Kritischen Theorie anzuknüpfen und von ihr zu lernen – in seinem Statement geht er auf einige Vorträge ein, die auf der Konferenz gehalten worden sind und gibt Anstoß, noch einmal über einzelne Aspekte zu diskutieren. Hogh schließt noch einmal an die sprachtheoretische Diskussion an, um unter diesem Aspekt Adorno und Habermas kritisch in Beziehung zueinander zu setzen. Klinger hält die Frage, ob es eine Praxis der Kritischen Theorie geben kann, für verkehrt – ihr Statement: die Praxis der Kritischen Theorie ist die Theorie. Eine revolutionäre Perspektive scheint in der Abschlussdiskussion nicht auf.

    Download: Statements (mp3; 65,1 MB; 1 h 11:08 min), Diskussion (mp3; 34,6 MB; 37:48 min)
  1. Dazu sei angemerkt, dass der Vortrag von Ingo Elbe aus gesundheitlichen Gründen leider ausfallen musste und der Mitschnitt des Vortrags von Frank Benseler aufgrund der zu geringen Lautstärke nicht verwendbar war. [zurück]

»Bewältigungsversuche eines Überwältigten«. Nie geführte Interviews mit Jean Améry

Die Göttinger Gruppe OLAfA hat in einem Anfang 2011 gesendeten, hörenswerten Radioprojekt Auszüge aus Schriften Jean Amérys zu einem fiktiven Interview komponiert. Améry (1912-1978), der als (areligiöser) Jude in der Résistance die Nazis bekämpfte und das KZ überlebte, berichtet in seinen Texten u.a. von seinen Erfahrungen als von Antisemiten Verfolgter und von seinem Engagement für die juristische Belangung der Täter nationalsozialistischer Verbrechen. Schließlich geht es auch um Israel und den Antizionismus der Linken.

  1. »Ich verliere jeden Tag von Neuem das Weltvertrauen«
    Download via AArchiv, via MF (0:40 h, 14MB) | via OLAfA (36 MB)
  2. Teil 2: »Ich gehörte zur mißbilligten Minderheit derer, die nachtrugen«
    Download via AArchiv, via MF (0:43 h, 15 MB) | via OLAfA (40 MB)
  3. Teil 3: Making of – die OLAfA im Interview
    Download via AArchiv, via MF (0:32 h, 11 MB) | via OLAfA (29 MB)

Skript Teil 1: via AArchiv, via MF, via OLAfA (PDF)
Skript Teil 2: via AArchiv, via MF, via OLAfA (PDF)

Die politische Ökonomie des Antisemitismus. Über die sogenannten »Protokolle der Weisen von Zion«

Beim Freiburger ça ira Verlag wird zur Zeit ein Band über die bekannten »Protokolle der Weisen von Zion« vorbereitet. Die schon vor langer Zeit und mehrfach als Fälschung aus dem Dunstkreis der zaristischen Geheimpolizei entlarvten Protokolle zählen noch heute zu den einflussreichsten Schriften des Antisemitismus und haben maßgeblich zur ideologischen Wahnvorstellung einer »jüdischen Weltverschwörung« beigetragen. Joachim Bruhn als Mitarbeiter des ça ira Verlages hatte im März 2011 mehrfach Gelegenheit, den o.g. Band vorzustellen. In seinen Vorträgen behandelt er – auch in Abgrenzung zur, wie er sagt, »liberalen Antisemitismusbeforschung« – weniger die Entstehung der Protokolle, als vielmehr die ihnen wie ihrem anhaltenden Erfolg und ihrer Aufklärungsimmunität zugrunde liegende politische Ökonomie, die er in einen Zusammenhang mit der »orientalischen Despotie« (Marx) stellt.

1. Zur materialistischen Kritik des Antisemitismus, veranstaltet und dokumentiert von der Gruppe Sur l’eau Lübeck, vom 19.03.2011.

    Download: via aarchiv (1:25 h; 30 MB) [Die 40 MB große Originaldatei gibt es via Divshare]

2. Die politische Ökonomie des Antisemitismus, aus der Reihe Wahlverwandschaften: Antisemitismus Islamismus Deutschland, vom 16.03.2011, Jüdische Gemeinde Pinneberg

    Download: via aarchiv (1:03 h; 22 MB), via FRN (58 MB)

Da die beiden Versionen weder identisch, noch überschneidungsfrei sind, empfehlen wir allen, die nicht beides hören möchten den erstgenannten, längeren Vortrag.

Ankündigungstext: Weiterlesen

Entwertet! Wie die globale Krise die Systemfrage stellt

… – und wie diese zu beantworten ist.

Norbert Trenkle (Autor der wertkritischen Zeitschrift „Krisis„) geht in seinem Vortrag vom populistischen Konsens aus, dass infolge der sogenannten Finanzkrise gespart werden müsse, um daran anschließend die Frage zu stellen, warum angesichts der enormen Reichtumsproduktion der kapitalistischen Weltgesellschaft ein Sparzwang unausweichlich scheint. Davon ausgehend erklärt er grundlegende Widersprüche der kapitalistischen Produktion und wieso die Krisenhaftigkeit den Wertvergesellschaftungsprozess unvermeidbar kennzeichnet.

Die globale Krise wird von den meisten Beobachtern auf die “entfesselte Spekulation” zurückgeführt, die von “gierigen Heuschrecken” angefacht worden sei. Tatsächlich jedoch ist die Aufblähung des Finanzüberbaus nicht Ursache, sondern Folgewirkung und Verlaufsform einer strukturellen Krise des Kapitalismus, die seit gut dreißig Jahren durch Kredit und Spekulation immer wieder aufgeschoben wurde. Diese Methode des Krisenaufschubs stößt nun an ihre Grenzen – mit dramatischen Folgen für die gesamte Gesellschaft. Nicht die “Spekulanten” sind das Problem, sondern der Widersinn einer Produktionsweise, die Reichtum nur als Abfallprodukt von Warenproduktion und Kapitalverwertung produziert. [via]

Download: via FRN (mp3; 45,6 MB; 49,46 min)

50 Jahre Eichmann-Prozess

Über Twitter sind die einzelnen Teile dieser Reihe von DLF Essay und Diskurs schon gegangen. Hier folgt nun die gesammelte Archivierung der drei ganz hörenswerten Beiträge.

1. Beim ersten handelt es sich um einen Essay von Wolfgang Dreßen:
Abstrakte Arbeit und destruktive Sehnsucht. Hannah Arendt und der banale Antisemitismus

Vor 50 Jahren wurde dem Naziverbrecher Adolf Eichmann in Jerusalem der Prozess gemacht. Die Philosophin und Publizistin Hannah Arendt hat das Verfahren vor Ort verfolgt. Ihre Charakterisierung Eichmanns als „Banalität des Bösen“ löste damals heftige Kontroversen aus.

Die anderen beiden Beiträge bestehen aus Gesprächen, die Jochanan Shelliem geführt hat:

2. Eine Epoche vor Gericht. Zeitzeugengespräch mit dem damaligen Stellvertretenden Ankläger Gabriel Bach. Eindrucksvoll!

Bach wurde in Deutschland geboren, ehe er mit seiner Familie nach Palästina entkommen konnte. 1960 leitete er die Untersuchung der ermittelnden Polizeibehörde gegen Eichmann und im Prozess war er stellvertretender Ankläger.

3. Die Shoah als Grundlage nationaler Identität. Gespräch mit dem israelischen Philosophen und Schriftsteller Avraham Burg

Der Sohn des langjährigen israelischen Ministers, Josef Burg, beschreibt die seit 50 Jahren anhaltenden traumatischen Folgen des Prozesses für die jüdische Nation. Er sieht den Staat Israel in seiner Fixierung auf den Holocaust als erstarrt an. Burg war von 1999 bis 2003 Sprecher der Knesset. Im August wird sein Buch „Hitler besiegen“ im Campus-Verlag erscheinen.

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Die Nazis und der Swing

1. SWR2 Wissen: Goebbels‘ Swing-Band. Musik als Propagandamittel.
Von Mechthild Müser

Swing und Jazz waren im nationalsozialistischen Deutschland als „entartete Musik“ diffamiert und verboten. Das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda selbst veranlasste jedoch 1939, vermutlich sogar angestoßen von Joseph Goebbels, die Gründung einer Big-Band: Charlie and his Orchestra. Mit Sendung der Lieder dieser Combo im Auslandrundfunk sollte der Feind demoralisiert und verspottet werden – einige der bekanntesten und begabtesten Jazzmusiker Deutschlands schlossen sich so zu einer NS-Propaganda-Jazz-Band zusammen. Das Feature von Mechthild Müser berichtet über Geschichte und Hintergründe der Band „Charlie and his Orchestra„.

Download: via SWR2 (mp3; 25,7 MB; 28:01 min)

2. »… in the way of Lindy Hop«. Swingtanzen zwischen Anpassung und Widerstand
Vortrag mit Juliane Hummitzsch

Juliane Hummitzsch zeigt in ihrem Vortrag, wie sich in der Form des Tanzstils „Lindy Hop“ auf spezifische Weise die Widersprüchlichkeit kapitalistischer Subjektivität widerspiegelt. Dazu rekonstruiert sie in einem historischen Teil die Geschichte der Jazz-Musik, die Entstehung des Lindy Hop in den USA und die Rolle der Swing-Kultur in Deutschland, um anschließend mit Bezug auf Adorno, Kracauer und Gerhard Scheit einige Überlegungen zum Verhältnis von Anpassung und Widerstand in der Kulturindustrie im Allgemeinen und im Lindy Hop im Besonderen anzustellen. Der Versuch, einen Zusammenhang zwischen Tanztheorie und Gesellschaftskritik herzustellen, macht den Vortrag sehr interessant. Der Vortrag ist in Textform in der Bremer Zeitschrift Extrablatt erschienen.

Download: via archive.org (mp3; 24,9 MB; 43:24 min)

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