Vom Mythos der russischen Kommune
zum Spektakel um 1917
Im Oktober 2017 haben Zwi und Negator auf Einladung des Anachistischen Netzwerks Stuttgart einen Vortrag zur Geschichte der Oktoberrevolution gehalten. Schwerpunkte des Vortrags liegen auf den trügerischen Bildern, die um die „große sozialistische Oktoberrevolution“ entstanden sind; dem Bezugspunkt der Kommune in der Revolution (Pariser Commune, die bäuerliche Kommune bzw. Obshchina bzw. commune rural); dem Antisemitismus, der sich gegen die Revolution richtet und sie begleitet.
In der herrschenden Geschichtsschreibung wirkt der Oktober 1917 wie ein riesenhafter retrospektiver Zerrspiegel. Die Verhältnisse zwischen den Gesellschaftsklassen, Organisationen, Nationen und Personen erscheinen darin bis heute in der Regel als Personenkult mit positiven oder negativen Vorzeichen, zugleich entzünden sich hier wie in einem Brennspiegel immer neu die linken Rivalitäten um die Repräsentation der Revolution. In der Jahrhundertbilanz gar hat sich eine totale Spiegelverkehrung im Blick auf das «sowjetische System» 1917-1991 eingestellt: «Das war der Kommunismus» (Schwarzbuch). Und so können die für jene Ära aufgerechneten zig Millionen Menschenopfer des «Realsozialismus» als dessen notwendige Betriebskosten verbucht werden: mit Lamento oder Achselzucken, je nachdem, aus welcher Perspektive der jeweils «besten aller möglichen Welten». Was von der «Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ seine Legitimation für den «Arbeiter- und Bauern-Staat» als angeblicher «Übergangsgesellschaft» zur Abschaffung der Herrschaft von Menschen über Menschen bezog, ist von der andauernden Herrschaft totaler Warenproduktion und -konsumtion über die Menschen, von einer «klassenlosen Klassengesellschaft» die keinen Widerspruch mehr duldet, integriert worden. Gerade auch in Russland.
Radikale Kritik der seit 1917 dergestalt veränderten weltkapitalistischen Herrschaft erfordert die Reflexion auf ihre wirklichen historischen Grundlagen, d.h. die besonderen Produktionsverhältnisse und den Charakter ihrer Umwälzung. Diese Arbeit einer materialistischen Erklärung der gesellschaftlichen «Spiegelbilder» und ideologischen Spiegelverkehrungen wurde von der situationistischen Spektakelkritik angegangen, um «das 20. Jahrhundert verlassen» zu können. Die Frage ist aber, ob Letzteres «nach hinten», in einen vor- und antimodernen romantischen Antikapitalismus, oder in Richtung auf eine communistische Produktionsweise und Zivilisation im Weltmaßstab des 21. Jahrhunderts geht.
Im Versuch einer spektakelkritischen Skizze soll an diesem Abend der besondere russische Ursprung und Verlauf der «Revolution in Permanenz“ vor und nach 1917 vor Augen geführt werden. Die Reflexion der bäuerlichen, bürgerlichen und proletarischen Revolutionszwecke ineinander wird als blutig roten Faden auch etwas sichtbar machen, was sich als spiegelverkehrende Konter-Revolution schlechthin gegen alle diese wirklichen Bewegungsmomente gekehrt hat. Immer wieder, bis in das Welt-Bild des heutigen Russland hinein.
Vom Autorenkollektiv Biene Baumeister Zwi Negator stammen zwei Bände über „Situationistische Revolutionstheorie“ in der Reihe theorie.org [via]
Wir veröffentlichen einen weiteren Sammelbeitrag im Anschluss an die Beitragsreihe Talkin‘ bout a revolution und dokumentieren den siebten Teil der Weimarer Veranstaltungsreihe Kunst, Spektakel & Revolution (Teaser zur Reihe hier). „Das Leben ändern, die Welt verändern“ ist eine Reminiszenz an ein Zitat von André Breton: »›Die Welt verändern‹, hat Marx gesagt; ›das Leben ändern‹, hat Rimbaud gesagt. Diese beiden Losungen sind für uns eine einzige.« Gleichzeitig ist es Titel eines Sammelbandes von Edition Nautilus, in dem Dokumente und Berichte der 68er-Revolte zusammengestellt sind. Die Veranstaltungsreihe dreht sich um 1968, verweigert jedoch die Blickverengung auf ein einziges Jahr und bildet stattdessen einen Zyklus der Revolte von den 50er-Jahren bis in die 80er-Jahre ab.
Den Vortragsmitschnitten sind jeweils Interviews von Radio Corax mit den ReferentInnen vorangestellt, die im Vorfeld der Veranstaltungen entstanden sind. Die Interviews behandeln zum Teil bereits den Gegenstand des jeweiligen Vortrags, enthalten zum Teil aber auch Wissenswertes jenseits des engeren Veranstaltungsprogramms.
1.) »Geht doch arbeiten!« – Nicht-Arbeit und soziale Diskriminierung vom ›Halbstarken‹ bis zum ›Gammler‹
Interview mit Bodo Mrozek über Gammler und andere Sozialtypen in den 50er- und 60er-Jahren:
Ansammlungen von sogenannten Gammlern erregten in den ’60er Jahren großes Aufsehen und sorgten mitunter für äußerst aggressive Reaktionen. Anhand der Figur des Gammlers wurde verhandelt, wie die Öffentlichkeit, die Rollen der Geschlechter und das Verhältnis von Arbeit und Freizeit ausgerichtet sein sollen. Der Historiker Bodo Mrozek hat sich mit der Figur des Gammlers auseinandergesetzt. Da die Forschungen von Bodo Mrozek oft einen popgeschichtlichen Zugang haben, haben wir ihn zunächst gefragt, aus welcher Perspektive und mit welchen Fragestellungen er auf die Bewegung der Gammler blickt. (via)
Im Vortrag schildert Bodo Mrozek (Zentrum für zeithistorische Forschung Potzdam) wie bereits in den 50er-Jahren Subkulturen entstehen, die sich der vorgesehenen Lebensplanung verweigern, in der die Lohnarbeit im Zentrum steht: Eckensteher, Halbstarke, Langhaarige, Gammler… Er geht insbesondere darauf ein, wie die Gesellschaft auf diese Art von Delinquenz reagiert hat und blickt sowohl in die BRD als auch in die DDR.
Ab den 50er Jahren treten in der BRD verschiedene Sozialtypen ins Zentrum von gesellschaftlichen Debatten – etwa Eckensteher, Halbstarke, Langhaarige oder Gammler. An diesen Figuren verdichteten sich auf je unterschiedliche Weise Diskurse über jugendliches Verhalten, Männlichkeit und Weiblichkeit, die Nutzung des öffentlichen Raumes und die Zuständigkeit des Staats. Zentral war dabei auch die tatsächliche oder unterstellte Verweigerung der (Lohn-)Arbeit. Die gegen Abweichler*innen in Stellung gebrachte Nützlichkeitsideologie wurde von Denormalisierungsängsten grundiert und mobilisierte neue Regierungstechnologien, führte aber langfristig zu veränderten Rollenbildern. Bodo Mrozek (Historiker am Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam) geht auf diese Debatten und auf Selbstbeschreibung und Fremdzuschreibung dieser Jugendlichen ein. (via)
2.) Beat und Gammler, Konsum und Verweigerung – Jugend in Westdeutschland
Interview mit Wolfgang Seidel über die „Long Sixties“ in Westdeutschland:
„Alle reden von 1968 – Wir auch.“ Das ist in der aktuellen Programmzeitung von Radio Corax zu lesen. Es ist zugleich hinzugefügt, dass wir einen Unterschied machen wollen: wenn wir das Jubiläum „50 Jahre 1968“ thematisieren, dann mit einer gehöriger Portion Misstrauen gegenüber dem offiziellen Gedenk-Kanon. Die Fokussierung auf das Jahr 1968 ist verkehrt – es geht um eine langfristigere Entwicklung. Und diese Entwicklung war am wenigsten von der Studentenbewegung geprägt, wenngleich sich aus ihren Reihen diejenigen erhoben haben, die für Hartz IV und die Agenda 2010 verantwortlich sind. Das sagt Wolfgang Seidel – Drummer in der Gründungskonstellation der Ton-Steine-Scherben, Musiker und Autor. Wir sprachen mit ihm über seine Perspektive auf 1968 und fragten ihn zunächst, wie er den Jubiläums-Hype um 1968 wahrnimmt. (via)
Im Vortrag formuliert Wolfgang Seidel (u.a. „Wir müssen hier raus! Krautrock, Freebeat, Reeducation“ – Interview zum Buch hier) eine Kritik der sogenannten 68er-Bewegung – er rekonstruiert, wie der studentische Teil der Bewegung in der Selbsthistorisierung den proletarischen Teil der Bewegung verdrängt hat. Er kritisiert in essayistischer Weise außerdem einige regressive Gehalte der 68er-Bewegung.
Kaum ist das Luther-Jahr vorbei, wird dieses Jahr 1968 als historische Wegmarke gefeiert. Dabei kommt 68 oder „die 68er“ untrennbar angekettet daher an die Begriffe Studentenbewegung oder Studentenrevolte. Die sollen, so der Tenor des Jubiläumsjahres, zwar nicht ihre sozialistischen Träume verwirklicht haben. Aber sie hätten eine Kulturrevolution vollbracht, die gescheiterte bürgerliche Revolution von 1848 vollendet, das Land demokratisiert und entnazifiert – also das moderne Deutschland geschaffen, das mit moralischem Überlegenheitsanspruch in der Welt auftreten darf.
Dazu eine Binsenweisheit: Geschichte wird von den Siegern geschrieben. Aus den Studenten von damals sind die Professoren, Journalisten, Autoren von heute geworden, die die Geschichtsschreibung bestimmen. Tatsächlich war die Zahl der Studenten gering. In den 1960ern machten nicht einmal 10% eines Jahrgangs Abitur. Davon waren nur wenige Teil des linken Spektrums, das heute als „die 68er“ erscheint. Dementsprechend begrenzt war ihre politische Wirkmacht. In Frankreich wurden die Studentenproteste erst dann für die Regierung De Gaulles bedenklich, als die Arbeiter von Renault die Fabriken besetzten. Der nicht studentische Teil des Protestes gegen die alten, autoritären Strukturen wie die Lehrlingsbewegung ist heute aber weitgehend vergessen.
Im Medien-Zeitalter hängt die Diskurshoheit ganz wesentlich davon ab, wer die einprägsamsten Bilder produziert. Im Jubiläumsjahr werden wir durch alle Medien hindurch eine Wiederholungsschleife erleben mit Bildern von untergehakt unter roten Fahnen voranstürmenden Demonstranten, der von einem Polizisten erschossene Benno Ohnesorg, oder den nackt posierenden Mitgliedern der Kommune und Uschi Obermaier mit dem Joint in der Hand. Bei dieser doppelt gefilterten Geschichtsschreibung fällt sehr viel unter den Tisch wie die Rolle junger Arbeiter und Lehrlinge oder die Rolle der Frauen.
Auch die Fixierung auf die Jahreszahl 68 ist fraglich. Die meisten Veränderungen, die das Land in dem Jahrzehnt von 1960 bis 1970 erfuhr, waren nicht das Ergebnis singulärer Ereignisse oder der Taten heldenhafter Revolutionäre sondern Prozesse, die sich auch ohne die Studentenbewegung auf Grund ökonomischer Entwicklungen und des Generationenwechsels vollzogen hätten. Das fing lange vor 68 an mit den Halbstarkenkrawallen, den Ostermärschen, der Beat-Musik oder den Gammlern, zumeist proletarischen Aussteigern, die die Gemüter der Spießer Mitte der 60er erregten. Man könnte die Frage stellen, ob nicht die von den Gewerkschaften durchgesetzte 5-Tage-Woche mehr für die kulturelle Veränderung getan hat, als die gesamte Textproduktion des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes.
Die 5-Tage-Woche war das Ergebnis des nach dem Krieg notwendig gewordenen Kompromisses zwischen Kapital und Arbeit und des Nachkriegsbooms. Freizeit ist auch ein Vorgeschmack auf Freiheit. Durch die gestiegenen Einkommen und das Mehr an Freizeit wurde erst so etwas wie eine Jugend- oder Popkultur möglich. Die ist zwar durchaus ambivalent in ihrer Mischung aus Freiheitsversprechen und Konsumismus. Für die Ideologen der Studentenbewegung aber war sie vor allem eines: angepasst. Die bogen sich das falsch verstandene Wort von der Kulturindustrie zurecht, indem sie es mit dem bürgerlichen antimodernen und antiwestlichen Kulturchauvinismus vermählten. Der Arbeiter, der endlich mehr wollte als nur malochen, war für sie der vom Konsum verblödete „eindimensionale Mensch“, weswegen sie sich ihr „revolutionäres Subjekt“ lieber in einer romantisierten Ferne bei nationalen Befreiungsbewegungen der Dritten Welt suchten. Man könnte die provokante Frage stellen, ob es eine gerade Linie gibt von der, trotz aller sozialistischer Rhetorik, Verachtung des Arbeiters hin zur Agenda 2010. Die haben die 68er ausgeheckt, die es beim Marsch durch die Institutionen an die Spitze geschafft hatten. (via)
Im Interview und Vortrag werden zwei Filme angesprochen: »Das ist unser Haus« (1971), »Allein machen sie dich ein« (1973). Eine schriftliche Version des Vortrags findet sich hier. Eine Reaktion auf Seidels SDS-Kritik findet sich in einem Interview mit Peter Cardorff, das wir hier dokumentiert haben (direkt Nachhören hier).
3.) Politik und Psychedelik: Ostblock-Popkultur zwischen Nonkonformismus und “Normalisierung” 1968 – 1978
Interview mit Alexander Pehlemann über Ostblock-Popkultur 1968 – 1978:
Für die Jugendrevolten um das Jahr 1968 herum gaben Beat und Rock’n’Roll entscheidende Impulse. Dies war nicht nur im Westen der Fall, sondern auch im damaligen Ostblock. Dort gab es zum Teil ganz ähnliche pop- und subkulturelle Entwicklungen, die sich jedoch unter anderen Bedingungen entfalteten: Repression und Auftrittsverbote ließen einen Untergrund im tatsächlichen Wortsinn entstehen. (via)
Alexander Pehlemann (Zonic) erkundet in seinem Vortrag musikalisch-subkulturelle Milieus des Ostblocks im Jahrzehnt nach 1968. Er schildert kenntnis- und anekdotenreich subkulturelle Zusammenhänge und Szenen in verschiedenen Ländern des Ostblocks und befördert dabei Radikales wie Skurriles zutage. Es ist im Grunde der gleiche Vortrag, den wir bereits hier dokumentiert haben.
Das Jahr 1968 war weltweit ein Aufbruch in vehementer Ablehnung der Verhältnisse, oft getragen vom Nonkonformismus der Hippie-Bewegung, die sich schnell auch in den Ländern des Warschauer Pakts etablierte. Deren „Love, Peace & Happiness“ wurde dort wegen der transportierten radikal-demokratischen, sexuell libertären, pazifistischen oder spirituellen Ideen schnell zur Provokation, auf die repressiv reagiert wurde. Am extremsten in der ČSSR nach dem Einmarsch des Warschauer Pakts im August 1968, der den „Prager Frühling“ beendete und die sogenannte „Normalisierung“ auslöste. Aber die Saat der Subkultur konnte nicht komplett unterdrückt werden, zumal das System sich im Widerspruch bewegte, den antikapitalistischen Jugend-Bewegungen des Westens wie der Dritten Welt aufgeschlossen gegenüber wirken zu wollen. Parallel entwickelten sich so auch Tendenzen der Tolerierung und sogar Förderung, die mit Einhegung und Reglementierung einhergingen, jedoch auch zu einer einzigartigen Phase gegenseitigen kulturellen Austauschs führte. Die mehrmedial unterfütterte Präsentation von „Post ´68“ wird daher nicht nur die jugendkulturelle und künstlerische Opposition betrachten, sondern zugleich das widerspruchsreiche Einsickern ihrer Ästhetik, in dessen Vor- und oft auch Rückbewegungen. Dabei geht es quer durch den gesamten Ostblock mit den jeweiligen Landesbedingungen sowie einmal durch die Dekade 1968-1978, an deren Ende mit Punk ganz neue radikale Ansätze kamen. An dem mit der Charta 77, gegründet in Reaktion auf die Unterdrückung künstlerischen Ausdrucks, sowie in Polen mit dem Komitee zur Verteidigung der Arbeiter zudem auch zwei politische Gruppen existierten, die den Beginn des Wegs zum Systemkollaps von 1989 markierten. (via)
Download: via AArchiv (mp3; 217.2 MB; 2:15:35 min)
4.) Der Beginn einer Epoche? Eine kurze Geschichte von Detournement und Récupération des Mai ’68
Im Rahmen der KSR-Veranstaltungsreihe fand zum einen ein Vortrag über die Situationistische Internationale, andererseits ein Wochenendseminar über 1968 in Frankreich, Italien und weltweit statt. Im Vorfeld beider Veranstaltungen hat Radio Corax ein Interview mit Negator (der den Vortrag gehalten hat) und Kazimir (der am Wochenendseminar beteiligt war) über die Situationisten und den französischen Mai 1968 geführt, das wir bereits hier dokumentiert haben (hier zum Nachhören). Im Vortrag rekonstruiert Negator (Biene Baumeister Zwi Negator) die Ereignisse des Mai 1968 in Frankreich und geht dabei insbesondere auf die Situationistische Internationale ein, deren Vorgeschichte und Revolutionstheorie er einführt.
Sie haben „Deutschland wahlweise gründlich zivilisiert“ oder „an die Wand gefahren“: DIE 68er, vor dreißig, vierzig Jahren von den Punks noch als jener kumpelige Führungsnachwuchs gehasst, der nun die Zwänge im mitbestimmbaren Gewand exekutierte; Modernisierungsadel, Minister, Avantgarde für jeden Scheiß; in der Toskana, in Rente, verarmt – oder auch schon längst tot, verzweifelt daran, dass alles so weiterging. Aber auch in Italien, England, Mexiko, Japan oder den USA, ganz besonders aber Frankreich hat sich ein spektakuläres Bild von 68 in den Gencode nationaler Modernisierungserzählungen eingefressen, das vom allgegenwärtigen rechtsnationalistischen Backlash vehement bekämpft, inzwischen mit seinen Protagonisten von der Bühne abtritt. Was bleibt? Global scheint von der mit 68 konnotierten Erinnerung kaum mehr anderes kenntlich als die Modernisierung des Antisemitismus und des Antiamerikanismus. Das Projekt des Antiimperialismus und Kulturrelativismus, um 68 so gründlich modernisiert, hat sich im Islamismus wiedergefunden oder im Staat als letztlicher Appellationsinstanz.
Wars das? Dann wären alle jene massenhaft in den 60er Jahren weltweit manifest gewordenen Sehnsüchte und Hoffnungen nichts weiter als notwendiges Vorspiel zum gegenwärtigen dystopischen Resultat gewesen, jenes spektakulären Monologs des Weltzustands, der von sich nichts anderes mehr zu sagen weiß als: Es ist.
Wie aber die Arbeit der Widersprüche in der wechselhaften Epoche um dieses zum spektakulären Bild geronnenen Jahres 68 herum vor sich ging, wie ein Bewusstsein der Möglichkeiten über die Wiederaufnahme revolutionärer Kritik sich bildete und wieder verfiel, soll an einer der damals bewusstesten Assoziationen und ihrem Vorgehen namentlich in Frankreich dargestellt werden: der Situationistischen Internationale.
Erwartet werden darf eine kurze Geschichte von Detournement und Récupération im Mai ’68 – anlässlich des Jubiläums multimedial dargeboten durch Teile des Autor_en*kollektief Biene Baumeister Zwi Negator. (via)
Die Radiosendung, die Negator im Vortrag anspielt, ist vollständig zum Nachhören hier dokumentiert.
5.) Zur Geschichte eines Bruchs: 1968 in globaler Perspektive
Vom Weimarer Wochenendseminar gibt es den Mitschnitt eines Input-Referats von Bernd Gehrke (AK Geschichte sozialer Bewegungen Ost-West). Im Vortrag rekonstruiert er global-gesellschaftliche und ökonomische Bedingungen der 68er-Revolte, macht einen Durchgang durch verschiedene Länder des Ostblocks und geht dabei auch auf marxistische Debatten jener Zeit ein.
7.) Das Unvorstellbare ist nicht das Unmögliche: Herrschaftskritik und Literatur in der Zeitschrift ‚Die Schwarze Botin‘
Interview mit Katharina Lux über die Zeitschrift „Die Schwarze Botin“:
Die Zeitschrift „Die Schwarze Botin“ erschien von 1976 bis 1987 in 31 Ausgaben. Diese Zeitschrift zeichnete sich durch einen Anspruch auf Radikalität und Negativität aus, formulierte eine feministische Kritik am Feminismus und kam äußerst stilbewusst daher.
Katharina Lux (u.a. „Outside the Box“) wird am 07.06.2018 in der ACC Galerie Weimar einen Vortrag über „Die Schwarze Botin“ halten. Im Gespräch mit Radio Corax rekonstruiert sie die Entstehung und Entwicklung der Frauenbewegung, aus der heraus „Die Schwarze Botin“ entstand. Zunächst fragten wir sie, wie sie auf die Zeitschrift gestoßen ist. (via)
Im Vortrag schildert Katharina Lux (Outide the Box) die Entstehung der autonomen Frauenbewegung und deren unterschiedliche Flügel. Im Zentrum des Vortrags steht dann die Kritik, die die Schwarze Botin an der Frauenbewegung aus feministischer Perspektive entwickelt hat, wobei sie auch auf Widersprüche und Schwachstellen dieser Kritik eingeht.
In Mitten der Revolte von 1968 und des Auflösungsprozesses des SDS nahm die Frauenbewegung mit der Gründung sozialistischer Frauengruppen wie dem Aktionsrat zur Befreiung der Frau und dem Frankfurter Weiberrat ihren Anfang. Das Ziel der Linken, alle Verhältnisse umzuwälzen, in denen der Mensch ein geknechtetes Wesen ist, verfolgte die Frauenbewegung konsequent: Kein Verhältnis – auch nicht das hierarchische Geschlechterverhältnis – sollte so bleiben wie es war. Bis Mitte der 1970er Jahre gründeten sich zahlreiche Frauenzentren und Frauengesundheitszentren, Selbsterfahrungsgruppen und Zeitschriften, die autonom von den gemischtgeschlechtlichen Gruppen der Linken, den Parteien und Gewerkschaften agierten. Sie waren die Orte, an denen eine gemeinsame Sprache gesucht und Erfahrungen geteilt, Begriffe und Theorien entwickelt und diskutiert wurden. Als Organe der Selbstverständigung und Kommunikation gründeten sich 1976/77 drei der wichtigen überregionalen Zeitschriften der autonomen Frauenbewegung, wenn auch mit unterschiedlichen Zielen: Courage. Berliner Frauenzeitung, Emma und Die Schwarze Botin.
Herausgeberin der Schwarzen Botin war die Historikerin Brigitte Classen. In der Redaktion arbeiteten neben Classen in unterschiedlicher Besetzung die Journalistin und spätere Schriftstellerin Gabriele Goettle, die Juristin Branka Wehowski, die Schriftstellerin Elfriede Jelinek und die Übersetzerin Marie-Simone Rollin mit. Ab 1983 war die Architektin Marina Auder Verlegerin der Zeitschrift. Bis zur letzte Ausgabe 1987 erschien die Schwarze Botin einunddreißig Mal in einer Auflage zwischen 3000 und 5000 Exemplaren. Die Zeitschrift versammelt wissenschaftliche Aufsätze, Essays, literarische Texte und Gedichte, Collagen, Glossen und satirische Kommentare. Sie lässt sich nicht eindeutig zuordnen: Sie ist weder ein wissenschaftliches Journal im akademischen Sinne, noch eine reine Literaturzeitschrift, noch ist sie eine Szene-Zeitschrift der Frauenbewegung, in der Informationen über Frauenzentren und Frauenfeste veröffentlicht werden, wie es in anderen Zeitschriften der autonomen Frauenbewegung der Fall war. Eindeutig aber ist die Zeitschrift in ihrem Anspruch, der „kritischen Auseinandersetzung mit feministischer Theorie und Praxis einerseits und der Zerstörung patriarchalischen Selbstverständnisses andererseits“ (Die Schwarze Botin) dienen zu wollen. Feministische Ideologiekritik war für die Zeitschrift die Kritik des gesellschaftlichen Bewusstseins und damit auch die (Selbst)Kritik des feministischen Bewusstseins. Was die Zeitschrift zu einem ungewöhnlichen Zeugnis ihrer Zeit macht, ist jedoch weniger die feministische Kritik des Feminismus als vielmehr die Mittel und der Modus der Kritik: Die Ideologiekritik der Schwarzen Botin vereinte provokative Satire und das Beharren auf der Negativität der Kritik. (via)
8.) Züri brännt: Über die Jugendrevolten der ’70er und ’80er Jahre in der Schweiz
Der 7. Teil der KSR-Veranstaltungsreihe endete mit einer Doppelveranstaltung: Einem Vortrag von Miklós Klaus Rózsa und einer Vorführung des Films „STAATENLOS – Klaus Rózsa, Fotograf“ von Erich Schmid. Der Film zeigt Lebenswege von Klaus Rózsa und wie er sich mit der Polizeigewalt, die er dokumentiert hat und von der er betroffen war, und mit seiner jüdischen Vergangenheit auseinandersetzt. Hier zunächst das Interview mit Erich Schmid:
Klaus Rózsa ein bekannter, politisch engagierter Fotograf, lebte jahrzehntelang staatenlos in Zürich.Der Film arbeitet chronologisch und dokumentarisch das bisherige Leben von Klaus Rózsa auf. 1956 aus Ungarn geflohen, wuchs er in der Schweiz mit einem jüdischen Vater auf, der Auschwitz überlebte. Klaus Rózsa dokumentierte über Jahrzehnte die politischen Bewegungen von unten. Rozsa wurde mit 17 Jahren bei Protesten zu der Schließung des AJZ Bunker 1972 politisiert und diese Zeit fing er auch an zu fotografieren und Protest und polizeiliche Gewalt zu dokumentieren. Fokus des Films liegt auch auf der Staatenlosigkeit von Rozsa. Jahrzentelang lebte Klaus Rozsa in Zürich, alle seine Einbürgerungsversuche, 3 an der Zahl, wurden aus politischen Gründen abgelehnt. Wir haben uns mit Erich Schmid über seinen Film unterhalten und über die Hintergründe der Entstehung, und welche Prozesse der Film bei den Mitwirkenden ausgelöst hat. (via)
1968 fand – wenn auch mit etwas Verzögerung – auch in der Schweiz statt. Die Kämpfe wurden dort vor allem immer wieder um Autonome Jugendzentren geführt – so im Jahr 1968 bei den Globuskrawallen oder 1980 beim Opernhauskrawall.
Am kommenden Donnerstag wird Miklós Klaus Rózsa in der ACC Galerie Weimar über die Jugendrevolten in den 70’er und 80’er Jahren in der Schweiz sprechen. Wir sprachen mit ihm vorab am Telefon über sein Vortragsthema und fragten ihn zunächst, was die Chiffre „1968“ in der Schweiz bedeutete. Zuletzt fragten wir ihn nach seiner Erfahrung mit Antisemitismus in linken Zusammenhängen. (via)
Im Vortrag schildert Miklós Klaus Rózsa Verläufe der 68er-Bewegung in der Schweiz und deren Übergang in die Schweizer Jugendrevolten der 80er-Jahre. In der Schweiz drehten sich die Konflikte immer wieder um den Kampf um autonome Jugendzentren.
Am 30. Oktober 1970 eröffnete der Zürcher Stadtrat in einem Luftschutzkeller den Lindenhof-Bunker. Es sollte ein Autonomes Jugendzentrum sein. Der Bunker wird in der Folge rege frequentiert. Bereits Ende Dezember wird die, inzwischen besetzte, Autonome Republik Bunker durch die Polizei geräumt. Wenig später entsteht dort die Tiefgarage Urania. Hätte der Stadtrat (Exekutive) geahnt, was diese Schließung bewirken wird, er hätte wohl auf die Eröffnung des Zentrums oder auf die Schließung verzichtet.
Auf jeden Fall haben die 68-er Unruhen das Leben zumindest in Zürich, wenn nicht in der ganzen Schweiz, verändert. Die Jugend war nicht mehr bereit, alles als göttlich gegebene Ordnung hinzunehmen. In den 70er Jahren war natürlich die Anti-AKW Bewegung im Brennpunkt. Neben dem Dauerbrenner um den Kampf für autonome Räume, alternative Lebensformen und gegen die totale Kommerzialisierung des Lebensraumes.
Die 8oer Jahre waren geprägt von der Radikalisierung der Jugend: Nach Jahrzehntelangem Kampf um selbstverwaltete Räume, war die Jugend nicht mehr bereit, es bei friedlichen Protesten zu belassen. Dass die Repression in der Schweiz extreme Ausmaße annahm, dürfte immer noch – oder wieder, überraschen.
Die zweite Hälfte des Jahrzehnts war geprägt von einer kulturellen Entwicklung und dem Versuch, das von der Jugendbewegung erreichte nicht wieder zu verlieren. Die Wohnungsnot wurde immer drängender, die Gentrifizierung forderte ihre Opfer: Die Drogenszene nahm gigantische Ausmaße an und Zürich wurde zum Zentrum der europäischen Hausbesetzerszene. (via)
Der Titel des Vortrags ist eine Reminiszenz an den Film „Züri brännt„. Ein Interview mit Christian Koller über die im Vortrag erwähnten Opernhauskrawalle gibt es hier.
1868 war ein multipolares, mehrdimensionales Weltereignis. Nicht nur, dass die von 68 ausgehende Bewegung in ihrem Selbstverständnis internationalistisch war – weltweit brachen in den Fabriken und Universitäten ähnliche Konflikte auf, in der sogenannten 3. Welt formierten sich anti-koloniale Befreiungsbewegungen. Es verallgemeinerte sich die Jugend als eigenständiger Lebensabschnitt, der mit einem spezifischen Warenangebot versehen und mit diversen Konflikten verbunden ist. Es formieren sich überall Gruppen, die sich dissident zum damals vorherrschenden Modell kommunistischer Parteien verhielten und eine Revision des Marxismus vornahmen (später bezeichnet als „Neue Linke“). All dies ist verbunden mit einer wechselseitigen Bezugnahme und gegenseitigen Beeinflussung. (Siehe auch diesen Text.) Im zweiten Teil unser 68er-Reihe (Teil 1 hier) beleuchten wir die internationale Dimension von 1968.
1.) Die Situationisten und der Pariser Mai 1968
Die Situationistische Internationale gehört zu den oben genannten dissidenten Gruppierungen, die bereits ab Mitte der 50er Jahre zu wirken begannen und später zu wichtigen Stichwortgebern der 68er-Revolte geworden sind – wobei es den Situationisten selbst darum ging, der radikalste und theoretisch versierteste Ausdruck der revolutionären Bewegung zu sein. Im Gespräch rekonstruieren Kazimir und Negator (BBZN) die Rolle der Situationisten im Pariser Mai 68 und gehen dabei auf die historische Situation im Frankreich der 60er Jahre ein. (Siehe auch die Buchbesprechung zu „Paris Mai 68 – Die Phantasie an die Macht„. Siehe auch „Midnight Notes: Zwei Sendungen über 1968„.)
In der Nachkriegszeit bildeten sich überall neue, linksradikale Gruppen heraus, die nach Organisierungsmodellen jenseits der kommunistischen/sozialistischen Parteien und der traditionellen Gewerkschaften suchten. Zu ihnen gehörte auch die „Situationistische Internationale“ (1957 – 1972). Die Situationisten waren auch während der Maitage 1968 in Frankreich aktiv. Wir sprachen mit Negator und Kazimir über die Situationisten und den französischen Mai ’68. [via]
Eine weitere dissidente neo-marxistische Strömung ist später mit dem Stichwort „Operaismus“ bezeichnet worden und ist eng mit den Klassenkämpfen in Italien verbunden. Das besondere an der italienischen Situation besteht darin, dass hier radikale Studentenbewegung und militante Fabrikkämpfe eine Verbindung eingegangen sind und sich die Kämpfe über beinahe zwei Jahrzehnte hinweg zogen – bis hin zu bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen in den 70er Jahren. Über diesen Kampfzyklus und den Operaismus war Christian Frings im Gespräch. (Über Italien siehe auch ein Gespräch mit Thomas Bremer.)
Die Ereignisse, die üblicherweise mit der Chiffre „1968“ bezeichnet werden, zogen sich in Italien über beinahe drei Jahrzehnte hin. Die Auseinandersetzungen waren in Italien besonders intensiv. Wir sprachen mit Christian Frings über die italienische Gesellschaft der Nachkriegszeit, die Ereignisse von 1960 und 1962, die Operaisten, den heißen Herbst 1969, die 77er-Bewegung und die Strategie der Spannung. Am Ende schlagen wir den Bogen zur Gegenwart.
Zunächst fragten wir nach der Nachkriegszeit in Italien. Italien hatte eine faschistische Vergangenheit, hier hatte es jedoch eine starke Resistenza-Bewegung gegeben. Inwiefern hat dies die Nachkriegszeit bestimmt? [via]
3.) 1968 international – ein grenzenloser Aufbruch
Unter dem Titel „1968 international – ein grenzenloser Aufbruch“ hat die Zeitschrift iz3w im Januar/Februar 2018 eine Schwerpunktausgabe veröffentlicht. Die Ausgabe hat sich nicht nur mit 1968 im globalen Süden auseinandergesetzt, sondern auch mit der Geschichte der Zeitschrift selbst – denn 50 Jahre 1968 und 50 Jahre iz3w fielen zusammen (in diesem Zusammenhang hat iz3w auch einiges Audiomarterial veröffentlicht: hier). Im Gespräch mit dem iz3w-Redakteur Christian Stock gibt es einen kusorischen Überblick über 1968 im globalen Süden.
Im Rahmen unserer Sendereihe über 1968 wollen wir den Rahmen des nationalen Geschichtsbewusstseins verlassen und 1968 als ein globales Geschehen in den Blick nehmen. Dazu passend hat die Zeitschrift „iz3w“ im Januar/Februar ein Themenheft veröffentlicht. Wir sprachen mit dem Redakteur Christian Stock über diese Ausgabe und 1968 im globalen Süden. Zunächst baten wir ihn, das iz3w vorzustellen. [via]
In der im April/Mai 2018 folgenden Ausgabe von iz3w hat Bernhard Schmid einen Artikel mit dem Titel „1968: Révolution Afrique“ geschrieben. Im Gespräch mit Radio Dreyeckland skizziert er Ereignisse um das Jahr 1968 herum in Afrika.
Das magische Revoltenjahr gab es nicht nur in Europa und den USA auch in Mexiko und im frankophonen Afrika war es ein Jahr der Revolte und mehr als ein Anhängsel von Paris oder Westberlin. Der Frankreichskorrespondent von Radio Dreyeckland, Bernard Schmid vertritt sogar die These, dass es den Mai 68 in Paris ohne den Kontakt der französischen Linken jenseits der KP so garnicht gegeben hätte. Das Interview könnt Ihr hier nachhören oder den Artikel im neuen Heft der iz3w nachlesen. [via]
Im oben dokumentierten Gespräch mit Christian Stock (iz3w) wird die harte Repression des mexikanischen Staates gegen die Studentenbewegung von 1968 erwähnt. Zentral war dabei das Massaker von Tlaltelolco – ein Massenmord an 200 bis 300 friedlich demonstrierenden Studenten im Stadtteil Tlatelolco von Mexiko-Stadt. Über diesen Massenmord und seine (ungenügende) Aufarbeitung sprach Radio Dreyeckland mit dem Historiker Julián. (Siehe ein weiteres Gespräch mit Julián über Proteste und Gewalt vor dem 02.10.1968.)
Historiker Julián erzählt uns von einem menschenverachtenden Kapitel der mexikanischen Geschichte, als am 2. Oktober 1968 der Staat der Studierendenbewegung gewaltsam ein Ende setzte. Das „Bataillon Olympia“, war eigentlich für die Sicherheit der olympischen Spiele verantwortlich und verursachte heute vor 50 Jahren ein Blutbad.
Während des ganzen sogenannten „Schmutzigen Krieges“ in Mexiko verschwanden etwa 1.200 Personen; man spricht von Folter und politischen Gefangenen, sogar von einer Geheimpolizei. [via]
6.) 1968 in der DDR, der Tschechoslowakei und Polen
Auch im Ostblock war 1968 ein Jahr der Bewegungen und Proteste – und die Entstehung der „Neuen Linken“ im Westen ist auch von zentralen Verschiebungen im Ostblock beeinflusst (die Geheimrede Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU, der Aufstand in Ungarn 1956, der Prager Frühling 1968). In der DDR lässt sich kaum von einer 68er-Bewegung sprechen – und doch war es auch hier ein Jahr der Proteste und Konflikte. Das ist die These von Bernd Gehrke (AK Geschichte Sozialer Bewegungen Ost West), der im Gespräch einen Überblick über Bewegungen und Ereignisse um 1968 herum in der DDR, der Tschechoslowakei und Polen gibt. (Siehe auch Bernd Gehrke über das „proletarische 1968“ hier.)
Auch wenn in der DDR 1968 keine vergleichbare Revolte stattfand wie in der BRD, war es doch auch hier ein Jahr außerordentlicher Proteste. Dabei ging es sowohl um subkulturelle Bewegungen als auch um Auseinandersetzungen um Öffentlichkeit in den Betrieben.
In der Tschechoslowakei und in Polen fanden unterdessen Ereignisse statt, die für 1968 zentral waren: In der CSSR leuteten Gewerkschaften und kritische Intelligenz den Prager Frühling ein, der schließlich niedergeschlagen wurde. Auch in Polen gab es eine Studentenbewegung, die für eine Demokratisierung des Sozialismus eintrat – sie wurde niedergeschlagen und die Partei leitete eine antisemitische Kampagne ein.
Hinter all dem steht ein längerer Entwicklungsprozess, für den das Jahr 1956 zentral ist: Anfang dieses Jahres sprach Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU über die Verbrechen Stalins – am Ende des Jahres wurde die Räte-Bewegung in Ungarn niedergeschlagen. Die Räte sind immer wieder Bezugspunkt in den nachfolgenden Ereignissen.
Über diese Ereignisse sprach Radio Corax mit Bernd Gehrke. Wir fragten ihn zunächst nach der Quellenlage und danach, woran es liegt, dass „1968 in der DDR“ in der heutigen Öffentlichkeit kaum präsent ist. [via]
Auch in Japan gab es 1968 eine starke Studentenbewegung, die dort besonders radikal und militant auftrat. Die in Japan geführten Kämpfe, in deren Zusammenhang die Zengakuren zentral waren, wurden weltweit zu einem Vorbild und diese suchten ihrerseits Kontakte zu Gruppierungen der Neuen Linken in anderen Ländern. Die Entwicklung der Bewegung, ihre Militarisierung und Sektenbildung, hat für die Japanische Linke bis heute traumatisierende Folgen. William Andrews hat eine Forschungsarbeit unter dem Titel „Japanese Radicalism and Counterculture, from 1945 to Fukushima“ veröffentlicht. Ein erweiterter Auszug aus diesem Buch über die Japanische Rote Armee ist in deutscher Übersetzung bei Bahoe Books erschienen. Andrews sprach mit Corax über 1968 in Japan. Das Interview wurde in englischer Sprache geführt.
Die Stärke der japanischen Linken strahlte in den 1960er Jahren in die ganze Welt. Die Studierendengewerkschaft Zengakuren machte aus den japanischen Universitäten verbarrikadierte Stützpunkte und Ausbildungszentren des Klassenkrieges. Auf riesigen Demonstrationen kämpften tausende behelmte und mit Stöcken bewaffnete Studenten gegen die Polizei. Auf internationalen Konferenzen mit Gruppen wie den Students for a Democratic Society, dem Weather Underground, den Black Panthers oder dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund, wurde versucht durch intensive Vernetzung eine weltweite simultane Revolution denkbar zu machen. Hierzulande ist über 1968 in Japan jedoch relativ wenig bekannt.
William Andrews lebt in Tokyo und forscht zur Geschichte der sozialen Bewegungen in Japan. Wir sprachen mit ihm per Skype und fragten ihn zunächst, wie sein Interesse an der japanischen Geschichte zustandekam und nach den Gründen, letztlich nach Japan zu ziehen. [via]
8.) DRUM Beats Detroit – Schwarze Fabrikrevolten 1968
1968 war Detroit ein Zentrum der Fabrikrevolten, die eng mit antirassistischen Kämpfen verbunden waren. Die Heftigkeit und Militanz der Bewegung in Detroit ist historisch verbunden mit der Rolle der Stadt im 2. Weltkrieg, den ökonomischen Verschiebungen nach 1945 und der rassistischen Segregation. Auch in Detroit enstanden Gruppierungen der Neuen Linken, die marxistische Analyse und eine Thematisierung der spezifischen Situation schwarzer FabrikarbeiterInnen miteinander verbanden. Christian Frings, Felix Klopotek, Malte Meyer und Peter Scheiffele haben einen Text darüber geschrieben. Auf Basis dieses Textes und eines Interviews mit Felix Klopotek ist im Rahmen der Sendereihe Wutpilger-Streifzüge ein einstündiges Feature entstanden. (Siehe auch ein Interview in der Jungle World.)
„[…] jede Ware eine Waffe, jeder Supermarkt ein Trainingscamp. Das erhellt die Notwendigkeit der Kunst als Mittel, die Wirklichkeit unmöglich zu machen.“ (Heiner Müller)
Bekanntlich sah Theodor W. Adorno in der Kunst einen Rückzugsraum für unverstümmelte Erkenntnis: In der ästhetischen Erfahrung kann das Subjekt eine Ahnung davon gewinnen, dass die instrumentelle Naturbeherrschung barbarisch ist. An der Möglichkeit ästhetischer Erfahrung entscheidet sich, inwieweit die Menschen überhaupt noch ein Gespür für ihr Leid und einen Sinn für gesellschaftliche Alternativen haben. Auch heute noch stellt sich die Frage, ob Kunstwerke potentiell die Reflexion der gesellschaftlichen Verhältnisse, ihrer Verwerfungen und Widersprüche ermöglicht, oder ob, zumal in Zeiten der alles in Warenform pressenden kapitalistischen Kulturindustrie, nicht einmal mehr die Kunst uns retten kann. Liegt womöglich die Stärke der Kunst in der Macht der Erkenntnis bei gleichzeitiger Ohnmacht in dem, was man Praxis nennt?
Diesen Fragen nähert sich derzeit die Veranstaltungsreihe der Kritischen Interventionen in Halle. Die ersten vier Vorträge – von Christoph Hesse, Marc Grimm, Baumeister & Negator und Lukas Holfeld – können wir hier dokumentieren.
Wär’ nicht das Auge sonnenhaft,
Wie könnten wir das Licht erblicken?
Lebt’ nicht in uns des Gottes eig’ne Kraft,
Wie könnt’ uns Göttliches entzücken?
Mit diesem Vers des alten Goethe beginnt Christopher Zwi seinen Vortrag über »Bildlichkeit und Sehen in der Gesellschaft des Spektakels«, den er am 27.10. in Weimar im Rahmen der Reihe »Kunst, Spektakel und Revolution« gehalten hat. In Kontrast zu diesem göttlichen Sehen der Aufklärung stellt Zwi dann die Erfahrungen des französichen Buchenwaldhäftlings Jaques Lusseyran, der blind gewesen ist und der Buchenwald dementsprechend mit den verbleibenden vier Sinnen erfuhr: »Das Licht kommt nicht von außen; es ist in uns, auch wenn wir keine Augen haben« [Jaques Lusseyran: Das wiedergefundene Licht, München 1966, dtv]. Anhand dieser Gegenüberstellung rekonstruiert er eine geschichtlich-gesellschaftliche Dialektik von Sehen und Blindheit. Das Theorem des Verhältnisses von Bild, Wirklichkeit, Widerspiegelung und Reflexion umkreist er mit Marxens Anthropologie der Sinne und der Dialektik der Auflärung von Adorno und Horkheimer (hier vor allem das letzte Fragment »Zur Genese der Dummheit«). Im Übergang von der kritischen Theorie Adornos zu jener der Situationisten thematisiert er zudem das Proletariat im Bezug zu den Fetischformen der bürgerlichen Gesellschaft. Entscheidend sind am Ende dann drei thematische Stränge: die Spektakeltheorie der Situationisten, die Reflexionsbestimmungen Hegels und die kritische Ontologie des späten Lukács und gibt damit schon einen kleinen Einblick in den demnächst im ça ira-Verlag erscheinenden Lukács-Band.
Download: via AArchiv (mp3; 41,3 MB; 1h 12:12 min)
Die weiteren Vorträge der Reihe »Kunst, Spektakel und Revolution«, die zum größten Teil bereits hier dokumentiert sind, werden nach und nach direkt auf den AArchiv-Server hochgeladen.
Eine der wesentlichen Intentionen Moishe Postones, die er in seinem Buch »Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft« begründet, ist die Kritik einer einseitigen Kritik der Distributionsverhältnisse vom Standpunkt der Arbeit aus, welche Produktion selbst aus dem analytischen Blick verliert. Die wertkritische Kritik der Arbeit soll nicht vom Standpunkt des Proletariats aus formuliert werden. Während unter Postones Einfluss ein Teil der MarxistInnen hierzulande also diejenige Klasse, »die ihr eignes Produkt als Kapital producirt« (Marx), ein für allemal abgeschrieben hat, erfreut sie sich an der Universität vielerorts einer erneuten liebevollen Zuwendung in sozialarbeiterischer Manier. Dass »die Klasse« kein äußerer Garant der Revolutionäre für die Revolution ist, sollte klar sein. Dass das Proletariat im Nationalsozialismus zu Pöbel und das Bürgertum zu Gesindel wurde (Bruhn), macht eine gnadenlose Kritik der traditionellen ArbeiterInnenbewegung zur notwendigen Voraussetzung von Kritik überhaupt. Ob aber die Kategorie der Klasse für eine kritische Theorie der Gesellschaft und damit eine Kritik als intendierte Selbstaufhebung des Proletariats (deren Voraussetzung heute eine Kriegserklärung an den Antisemitismus sein müsste) damit gleich mit null und nichtig sind, ist m.E. keine ausgemachte Sache. Zur Diskussion hierüber sollen die folgenden Audiogespräche beitragen:
1. Anlässlich der zweiten Jenaer »Klassenkonferenz«, die im Juni diesen Jahres unter dem Titel »Klassen Kämpfe der Gegenwart« stattfand (siehe Programm), habe ich mit Tilman Reitz (Uni Jena) über den Begriff der Klasse gesprochen.
Am 1. und 2. Juni 2011 organisiert die Rosa Luxemburg Stiftung Thüringen in Zusammenarbeit mit Teilen des Instituts für Soziologie der Uni Jena eine Konferenz über „(Klassen)Kämpfe der Gegenwart“. „Stuttgart – Hamburg – Neukölln“ sind die Städtenamen, die dabei als Stichworte für gegenwärtige Auseinandersetzungen auf der politischen Schaubühne der Bundesrepublik stehen und deren Klassencharakter auf der zweiten Jenaer Klassenkonferenz diskutiert werden soll. Ich habe mich mit Tilman Reitz, Juniorprofessor am soziologischen Institut der Uni Jena und Mitorganisator der Klassenkonferenz, getroffen, mit ihm über den Begriff der Klasse gesprochen und ihn gefragt, was uns in der nächsten Woche in den Rosensälen der Uni Jena erwartet. [via]
2. Sehr ausführlich hat mir Christopher Zwi auf ähnliche Fragen wie im obigen Interview geantwortet. Für die geplante Radiosendung haben wir zwei Durchläufe des Interviews gemacht – hier stehen beide zur Verfügung (die Fragen bleiben gleich, inhaltlich sind die beiden Interviews nicht 100%ig deckungsgleich).
HeinzMaus, marxistischer Soziologe und Agitator der linken Studentenbewegung, gehörte in den 60er Jahren zusammen mit WolfgangAbendroth und Werner Hofmann zum sogenannten „Marburger Dreigestirn“. Mit diesen Namen ist die Stadt Marburg als ein zweites Zentrum der Kritischen Theorie bekannt geworden. Heinz Maus‘ Wirken gilt im Rückblick als „bar jeglicher taktischer Opportunität“, „unbürokratisch bis zur Inkorrektheit“ und es umgab ihn „neben der politischen Komponente ein starkes Element persönlicher Intransigenz gegenüber jeder Ordnung, jedem Establishment“. (via) Seinen hundertsten Geburtstag nahm die AG Kritische Theorie der Uni Marburg zum Anlass, um eine Tagung mit dem Titel „Traditionalität und Aktualtität. Zur Aufgabe Kritischer Theorie“ zu organisieren (zum Programm). Die OrganisatorInnen der Tagung haben uns freundlicher Weise sämtliche Mitschnitte der dort gehaltenen Vorträge1 zukommen lassen (insbesondere Dank an David für’s Schneiden des Audiomaterials und den freundlichen Kontakt), die wir hier zur Verfügung stellen:
Im Folgenden sind relativ große Dateien (128 kBit/s) verlinkt. Kleinere Fassungen (48 kBit/s) sind auf unserem Server abgelegt.
1. Begrüßung – AG Kritische Theorie
Zur Einführung referieren Oliver Römer und Christian Spiegelberg von der AG Kritische Theorie über Ausgangsfragen und Intention der Konferenz, über den Hintergrund an der Marburger Uni, insbesondere am Institut für Soziologie, sowie über die Rolle des Soziologen Heinz Maus.
David Salomon (Universität Marburg) stellt zunächst einige Überlegungen über die Relevanz der Begriffe Traditionalität und Aktualität für kritische Theorie im Allgemeinen an, um dann über die intellektuelle Sozialisation von Heinz Maus zu referieren. Im Anschluss nimmt er das besondere Verhältnis von Philosophie und Marxismus (Karl Korsch, Georg Lukács) zum Ausgangspunkt und rekonstruiert auf welche Weise Heinz Maus dieses bearbeitet und präzisiert hat. Zentral sind dabei die Rolle der Soziologie für den modernen Marxismus (Positivismusstreit etc.) und das Problem der Historizität im marxistischen Denken (Karl Marx, Walter Benjamin, Friedrich Nietzsche). Er endet mit einem Umweg über Bertolt Brecht mit einigen Überlegungen zu den Mausschen Ausführungen zum Verhältnis von Leid und Glück als materialistische Maßstäbe der Kritik und als Kategorien, denen nach wie vor eine dringende Aktualität für eine kritische Theorie der Gesellschaft als Ganzer zukommt.
3. »Politisierung der Kunst« oder »die Kunst wegschaffen«? – Zum Verhältnis von Politik und Kunst bei Walter Benjamin und bei der Situationistischen Internationale – Claus Baumann
Seinem Vortrag über den Vergleich der benjaminschen und situationistischen Perspektive auf das Verhältnis von Kunst und Politik stellt Claus Baumann (Universität Stuttgart, Duale Hochschule Stuttgart, Autorenkollektiv Biene Baumeister Zwi Negator) einige grundsätzliche Überlegungen zum nachträglichen, reflexiven Charakter dieser Kategorien voran (wie sie ähnlich in schriftlicher Form hier veröffentlicht wurden). Dann stellt er jeweils die ästhetischen Konzepte von Benjamin und den Situationisten vor, um sie u.a. anhand der Stellung zur surrealistischen Parole, dass die Poesie in den Dienst der Revolution zu stellen sei, aneinander abzuarbeiten.
Die Situationistische Internationale (1958–1972) um Guy Debord sprach sich einerseits für »neue Aktionsformen gegen Politik und Kunst« aus. Andererseits kritisierten sie die Surrealisten um André Breton dafür, dass diese »Poesie in den Dienst der Revolution« stellen wollten (la poésie au service de la révolution); es komme vielmehr darauf an, »die Revolution in den Dienst der Poesie zu stellen« (la révolution au service de la poésie). Prima facie scheint das situationistische Projekt den Überlegungen von Walter Benjamin zu widersprechen, der 1936 in seinem Aufsatz »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« die Auffassung vertreten hat, dass es für gesellschaftskritische, communistische Bestrebungen auf eine »Politisierung der Kunst« ankomme, während der Faschismus eine »Ästhetisierung der Politik« betreibe. Ziel des Vortrags ist es, die jeweiligen Spezifika der situationistischen sowie benjaminischen Überlegungen zum Verhältnis von Politik und Kunst darzulegen und daran anknüpfend der Frage nachzugehen, wie eine aktuelle und kritische Reflexion dieses Verhältnisses angesichts der derzeitigen Lage der bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse aussehen könnte.
Claus Baumann (*1967) promovierte im Fach Philosophie an der Universität Stuttgart. Er ist Lehrbeauftrager der Universität Stuttgart im Fachbereich Philosophie sowie an der Dualen Hochschule in Stuttgart im Fachbereich Sozialwesen. Seine derzeitigen Forschungsschwerpunkte sind Dialektik, Kritik der politischen Ökonomie, Gesellschaftstheorie, politische Philosophie und Philosophie der Ästhetik.
4. Gehirn und Geist. Über das Verhältnis von Material und Freiheit zum Gegensatz von empirischer Forschung und Reflexivität – Christine Zunke
Christine Zunke (Universität Oldenburg, siehe auch ihren Beitrag hier) eröffnet die Problemstellung ihres Vortrags mit einer einführenden Überlegung zur descartschen Unterscheidung von denkender und materieller Substanz, um hiervon zu aktuellen Problemen der Gehirnforschung überzugehen: inwiefern lässt sich das Denken aus den physikalischen Prozessen im Gehirn erklären, inwiefern geht es darüber hinaus? Diese Problemstellung führt notwendiger Weise zur Frage nach der Freiheit des Willens, bzw. grundlegender nach der Frage, ob es das Denken überhaupt gibt. Dass diese Frage mit Ja zu beantworten ist, ist für Zunke nur möglich, indem die Gegensätze von Geist|Körper, Materialität|Immaterialität, physikalischen Prozessen im Gehirn|Immaterialität des Denkens als Antinomien zu begreifen sind: weder als Dualität, noch als Identität verhalten sich die widerstreitenden Seiten wechselseitig konstitutiv zueinander, so die These des Vortrags.
Die modernen Neurowissenschaften scheitern trotz immenser Fortschritte beständig an der Frage nach der Schnittstelle zwischen Gehirn und Geist. Diese Frage nach der Entstehung des (reflexiven und freien) Denkens aus dem physischen Material kann nirgendwo hinführen. Eine im naturwissenschaftlichen Sinne befriedigende Antwort hierauf kann es prinzipiell nicht geben, denn dann müsste das Material die kausale Ursache des Ideellen sein, was das Ideelle als physikalische Wirkung zu einem materiellen Gegenstand machen würde, welcher seiner Bestimmung nach kein Ideelles sein kann. Die konsequenteste Antwort der Neurophysiologie lautet darum, dass das Ideelle bloßer Schein sei, dem keine Wirklichkeit korrespondiere. Der Geist sei eben nicht reflexiv und frei, sondern eine bloß natürliche Funktion des Gehirns, die in der Innenwahrnehmung als Bewusstsein erscheine. Unser Geist sei nicht materiell und darum nicht wirklich. Wir denken ihn bloß. Dass das Denken Gedachtes ist, hat die Philosophie schon immer gewusst. Doch wenn diese Erkenntnis unter den Vorzeichen der empirischen Wissenschaften von der Geistes- und Gesellschaftswissenschaft aufgenommen wird, bekommt sie einen reaktionären Gehalt: Da Reflexionen als gegenstandslos erscheinen, wird Kritik methodisch unmöglich und es bleibt allein der Weg der Affirmation des Bestehenden offen.
Dr. Christine Zunke lehrt Philosophie an der Universität Oldenburg und hat mit ihrer 2008 im Akademie-Verlag erschienenen Dissertation „Kritik der Hirnforschung“ eine der ersten grundlegenden Kritiken der Neurophilosophie vorgelegt. Ihre Forschung fokussiert die moralischen und politischen Implikationen moderner Naturwissenschaften.
5. Intellektuelle und die Genealogie der Kritischen Theorie – Alex Demirović
Alex Demirović (TU Berlin, „PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft“) greift die Auseinandersetzung mit Heinz Maus wieder auf, um ihn als eine besondere Figur der älteren Generation der Kritischen Theorie zu verorten und dessen Rolle für die kritische Soziologie in Deutschland und sein Verhältnis zum Institut für Sozialforschung in Frankfurt zu rekonsturieren. Hiervon ausgehend arbeitet sich Demirović an der bundesdeutschen Historisierung der Kritischen Theorie und ihrer Einordnung in (nach seiner eigenen ironischen Berechnung) mittlerweile 7 Generationen ab, um dafür zu plädieren, dass sich kritische Theorie zwar permanent selbst zu reflektieren habe, in ihrer kritischen Selbsthistorisierung aber nicht in der selbstreferentiellen und inhaltsentleerten Frage stecken bleiben darf, wer denn nun zur Kritischen Theorie gehört und wer nicht. Gegenüber dem akademischen Leerlauf beharrt Demirović darauf, dass die Begriffe wieder in Bezug auf die Gesellschaft und ihren Wandel entwickelt werden müssen und vor Allem nicht nach dem besseren Funktionieren der Gesellschaft, sondern nach ihrer praktischen Veränderung zu trachten haben. An diesem Vortrag fällt m.E. das Faktum der Trennung von institutionalisierter Kritischer Theorie in der Akademie und radikaler Linker auf, die bei Demirović ebenfalls überhaupt nicht vorkommt.
6. Gewalt als Grenze des Anerkennens – Thomas Bedorf
Der Vortrag von Thomas Bedorf (Fernuniversität Hagen) sticht ein wenig aus dem Programm heraus, da dieser sich selbst nach eigener Angabe nicht in der „Großfamilie“ der Kritischen Theorie verortet, dafür aber gewissermaßen von außen eine Auseinandersetzung mit einem Theorem (bzw. Verfallsprodukt) der Kritischen Theorie sucht: die Theorie der Anerkennung von Axel Honneth. Er diskutiert dabei grundlegende Fragen: Ist Gewalt hermeneutisch in den Bereich des Verstehbaren hineinzuholen? Ist Anerkennung überhaupt ein geeigneter Schlüsselbegriff um Interaktion in ihrer Konflikthaftigkeit zu begreifen? Welchen Platz räumt eine Theoretisierung von Anerkennungsverhältnissen der Gewalt ein? Er arbeitet sich zu nächst an Honneths Theorie der Anerkennung ab, vergleicht diese dann mit anderen Auseinandersetzungen mit Anerkennung (Judith Butler, u.a.), um schließlich seine eigene Position zu begründen: Anerkennung implizert auch immer Verkennung, sie kann zwar ohne Gewalt, nicht aber ohne Macht gelingen.
Ob es um die Themen von Protestbewegungen geht, um die Belange ethnischer und sexueller Minderheiten oder um Nationen im Kampf um einen eigenen Staat – stets geht es um die Anerkennung von Anderen, die zum Gegenstand von Verhandlungen, aber auch politischem Widerstand und sozialen Konflikten wird. Der Vortrag wird die Gewalt, die das Ringen um Anerkennung auslösen kann im Horizont eines Modells „verkennender Anerkennung“ zum Thema haben. Anerkennungstheorien, die das Ideal gelingender Anerkennung unterstellen, schließen Gewalt prinzipiell aus. Sie betrachten Missachtungen lediglich als Signale für Ansprüche auf Anerkennung. Anerkennungstheorien, die die Subjektivierungsdispositive in den Vordergrund stellen, behaupten hingegen Gewalt als für die Subjektkonstitution unausweichlich. Ein Modell „verkennender Anerkennung“, das auf der Einsicht beruht, dass es vollkommene Anerkennung nicht geben kann, da moderne Identitäten nichts fixierbares, sondern ständig in Bewegung sind, droht zur Affirmation von Gewalt genötigt zu sein, da es ihm an normativen Kriterien fehlt, sie von vornherein auszuschließen. Als Lösungsvorschlag soll der Gedanke dienen, dass, wo Machtformen irreduzibel zum Anerkennen hinzugehören, Gewalt als Abbruch des Prozesses des Anerkennens dennoch ausgeschlossen werden kann.
Dr. Thomas Bedorf ist Privatdozent für Philosophie und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fernuniversität Hagen. Im Wintersemester 2009/2010 war er Gastprofessor für Politische und Sozialphilosophie an der Universität Wien.
7. Zweite Natur: Kritik und Affirmation – Christoph Menke
Christoph Menke (Goethe Universität Frankfurt am Main) referiert in seinem Beitrag über den Begriff der 2. Natur, wie ihn Hegel entwickelt hat. Das Theorem der zweiten Natur versucht selbstauferlegten Zwang, selbstverschuldete Unmündigkeit zu erklären, indem es die soziale Struktur in den Blick nimmt – es soll der Umschlag des aus Freiheit selbst gemachten in ein selbstständig Seiendes, Unmittelbares erklärt werden. Menke erklärt die Ausführungen Hegels zu diesem Problem vor Allem am Begriff der Gewohnheit als unbewusstes bzw. unbewusst geleitetes Handeln und rekonstruiert hierbei zwei Seiten der Gewohnheit: einmal als Bildung zur Fähigkeit Zwecke zu setzen, auf der anderen Seite als selbst mechanischer Vollzug. An dieser Doppelseitigkeit macht Menke deutlich, dass Hegel nicht einfach abstrakt negierend vorgeht: es geht nicht um eine Gegenüberstellung vom Prozess des Setzens als etwas Gutem und der Verselbstständigung der Setzung gegenüber dem Setzenden als etwas Schlechtem – Kritik und Affirmation sind bei Hegel auf unlösbare Weise miteinander verquickt. Menke streift die Relevanz der Hegelschen Reflexion auf die zweite Natur für die Kritische Theorie (für Marx, Lukács, Adorno und Benjamin) nur am Rande, macht aber deutlich, dass Hegel die Grundlagen materialistischer Kritik gelegt hat. – Ein wirklich guter und hörenswerter Hegel-Vortrag!
8. Negativität. Adorno und Hegel – Michael Städtler
Negativität fasst Michael Städtler in seinem Vortrag als Formbestimmung kritischer Theorie und setzt Adorno und Hegel unter diesem Aspekt in Bezug zueinander. Er zeigt warum Adorno Zweifel an einer Geistesgeschichte hegte, deren Triumph Hegel bloß zu rekonstruieren suchte – während Hegel die Verwirklichung der Vermittlung von Vernunft und Wirklichkeit am Ende der Philosophiegeschichte zu sehen glaubte, bestreitet Adorno die so definierte Verwirklichung der Philosophie. Städtler macht dabei deutlich, dass Adorno jedoch gegenüber Hegel nicht nur Skepsis hegt – gerade an Adornos Kritik des Positivismus wird deutlich, dass er mit dem Anspruch, dass das Denken über das bloß Gegebene hinauszuweisen habe, an Hegel festhält. Ziel Adornos ist es, Theorie und Praxis miteinander zu verwirklichen, ohne sie jedoch wechselseitig zueinander aufzuheben – hieran wird deutlich, dass Adorno zu Kant zurückkehrt, nicht jedoch ohne Hegels Kritik an Kant zu verwerfen. Vielmehr gilt es die Spannung von Widersprüchen aufrecht zu erhalten, die in Hegels Versuch der Aufhebung zu einer verkehrten Totalität eingeebnet zu werden drohen. Was dies bedeutet macht Städtler u.a. an der negativen Theologie deutlich, die versucht Gott aus der Summe dessen zu bestimmen, was Gott nicht ist – Adorno macht die Widersprüchlichkeit dieses Denkversuchs für materialistische Kritik fruchtbar, die Hegel im Versuch, aus dieser Negativität ein System absoluten Wissens zu machen, einebnet.
Das Verhältnis Adornos zu Hegel ist gespalten. Einerseits sei die Hegelsche Philosophie unübergehbare Voraussetzung jedes „theoretische[n] Gedankens von einiger Tragweite heute“ (Adorno, Aspekte), andererseits sei das System Ausdruck der Angst des Bürgertums vorm eigenen Untergang „[i]m Schatten der Unvollständigkeit der eigenen Emanzipation“. (Adorno, Negative Dialektik) Damit aber gilt diese Form von Philosophie der Kritik nicht einfach als eine falsche, sondern in der Kritik ihrer Fehler werden Einsichten über den Stand der Entwicklung von Selbstbewußtsein und Freiheit möglich, die sonst unsichtbar blieben. Die Kritik des bürgerlichen Bewußtseins setzt dessen selbstbewußt durchformulierten Begriff voraus. Noch strikter: Das Bewußtsein in der bürgerlichen Gesellschaft ist, wie diese selbst, realisierte Freiheit, aber in verkehrter Gestalt. Das Ziel radikaler Befreiung ist diesem Bewußtsein ebenso fremd, wie es selbst diesem Ziel vorausgesetzt ist. Mit diesem Gedanken begibt sich aber das Bewußtsein kritischer Theorie in Widerspruch zu sich selbst: Es verdankt seine wesentlichen Einsichten einer Geschichte, die abzulehnen, aber nicht mehr aufzuheben ist; ein durchaus unbefriedigender Zustand, der dazu führt, daß Adorno eine Dialektik entwirft, an deren Ende keine affirmativen Urteile mehr stehen. Die Kritik wird nicht konstruktiv gewendet, sondern sie bleibt kritisch. Dieser Gedanke ist offenkundig so frustrierend, daß nicht bloß die Schulphilosophie des 20. Jahrhunderts ihn nie wahrhaben wollte, sondern daß selbst diejenigen, die seit Adorno unter dem zum Label gewordenen Ausdruck ‚Kritische Theorie‘ firmieren, ihn aus ihrem Sortiment genommen haben. Was es dagegen heißt, bei der Kritik zu bleiben und wer eigentlich deren Subjekt sein kann, warum schließlich der auf Kritik beharrende Gedanke nicht nichts ist, soll in dem um die Bedeutung von Negativität zentrierten Vortrag über das Verhältnis Adornos zu Hegel überlegt werden.
PD Dr. Michael Städtler, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Exzellenzcluster „Religion und Politik“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Vorstand des Gesellschaftswissenschaftlichen Instituts Hannover.
9. Glückliche Ehe oder liaison dangereuse?Fragen nach der Verbindung von Feministischer und Kritischer Theorie – Cornelia Klinger
Cornelia Klinger (Eberhard Karls Universität Tübingen) beginnt ihren Vortrag mit einigen Vorüberlegungen zur Entstehung und zu Schwierigkeiten feministischer Bewegung und Theorie, um dann Kritische Theorie und Feministische Theorie unter drei Aspekten in Beziehung zueinander zu setzen: 1. Kritik, 2. Negation und Negativität und 3. Utopie. Sie legt im ersten Teil sehr ausführlich dar, welche Bedeutung diese drei Aspekte für die Kritische Theorie haben und referiert in einem zweiten, kürzeren Teil, wie feministische Kritik diese drei Aspekte auf spezifische Weise bewusst oder unbewusst aufgreift und erweitert. Sie schließt mit der Formulierung eines Anspruchs, den sie an feministische Theorie heute heranträgt: dass diese wieder vermehrt an die Kritische Theorie Adornos/Horkheimers anknüpfen möge. Trotz der Genauigkeit ihrer Ausführungen zur Kritischen Theorie bleibt deren Verbindung zum Feminismus oberflächlich und müsste selbst noch konkret bestimmt werden. Sympathisch ist ihre Betonung der außer(!)akedemischen Dimension kritischer Theorie im Anspruch auf allgemeine Emanzipation.
Feminismus wurde nicht als Theorie geboren, sondern verdankt seine Entstehung einer gesellschaftlichen und politischen Bewegung, die erst im Verlauf ihrer Entwicklung – nicht zuletzt infolge der Widerstände, auf die sie gestoßen ist – begonnen hat, sich ein theoretisches Fundament zu erarbeiten. An verschiedene unterschiedliche Theoriegebäude (Liberalismus, Marxismus, Psychoanalyse u.a.) hat feministische Theorie mehr oder weniger erfolgreich Anschluss gesucht und gefunden. Vor diesem Hintergrund geht der Vortrag der Frage nach dem Verhältnis von Feminismus und kritischer Theorie nach. Ausgehend von der These, dass feministische Theorie per se kritische Theorie ist, das heißt mit der älteren kritischen Theorie der Frankfurter Schule im Ansatz mehr Gemeinsamkeiten aufweist als mit irgend einem anderen Theoriegebäude wird zu zeigen sein, dass feministische Theorie die ‚bessere‘, konsequentere und vollständigere Kritische Theorie sein bzw. werden könnte – unter der Voraussetzung, dass sie ausgerechnet einige besonders traditional erscheinende Elemente der kritischen Theorie aufzunehmen und zu aktualisieren vermöchte.
Cornelia Klinger ist außerplanmäßige Professorin an der Eberhard Karls Universität Tübingen und ständiges wissenschaftliches Mitglied am Institut für die Wissenschaften am Menschen in Wien. Sie hatte Lehraufträge und Gastprofessuren an den Universitäten Wien, Zürich, Bielefeld, Frankfurt, Klagenfurt, Innsbruck, Tübingen, München, Luzern und Berlin inne. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Politische Philosophie und Geschichte der Moderne, Feministische Theorie/gender studies und Ästhetische Theorie.
10. Im Handgemenge des Sprechens – Gibt es eine „verdrängte Sprachphilosophie“ der Kritischen Theorie? – Jan Müller
Jan Müller (TU Darmstadt) widerspricht in seinem Vortrag der sprachpragmatischen Deutung Adornos (u.a. Jürgen Habermas, Martin Seel), alles Denken und Sprechen sei per se verdinglicht, womit Sprache selbst in einer tragischen Auffassung von Geschichte aufgehen müsse und nur der Ausweg einer sprachlosen Offenbarung bliebe. Hierzu referiert er ausführlich Benjamins frühen Text „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen„, um dann Benjamin und Adorno in Beziehung zueinander zu setzen. Ein sehr komplexer und kompakter sprachtheoretischer Vortrag.
Die Aneignung der ersten (oder Gründungs-)Phase der kritischen Theorie steht allgemein unter Metaphysikverdacht, eine Befürchtung, die insbesondere das Verständnis von Sprechen und Sprache betrifft. Theodor W. Adorno habe, darin inspiriert von Walther Benjamin, eine Fundamentalkritik der Sprache unter dem „eisigen Strahlen“ instrumenteller Vernunft verfolgt. Die Konsequenz dieser unterstellten Absicht ist ein Dilemma: Entweder – das sei der Ausweg Benjamins – sei Zuflucht zu einem theologischen Sprachmodell genommen, oder – so unterstellt man Adorno – eine Delegation der sonst dem Sprechen zugeschriebenen
Funktionen an eine (damit aber überlastete) „ästhetische Erfahrung“ unternommen worden. Würde die frühere kritische Theorie an einem romantisch überhöhten Bild der Sprache leiden, dann wäre seine Korrektur durch die Erfordernisse kommunikativer Rationalität eine wünschenswerte und sachlich unvermeidbare Konsequenz. Der Vortrag möchte dagegen die – allmählich vernehmbarere, aber noch immer randständige – Vermutung stark machen: (1) Die Kritik an den sprachphilosophischen Überlegungen Benjamins und Adornos gewinnt ihre Plausibilität vor allem aus der Übernahme von Grundunterscheidungen der analytischen Theorie des Sprachhandelns – sie artikuliert den Sachverhalt, dass Adorno und Benjamin Sprache anders thematisieren als die Tradition z.B. Searles. (2) Diese andere Thematisierungsform lässt sich nicht als bloß alternatives Modell von Sprechen und Sprache verstehen; Benjamin und Adorno liefern, in offener und verdeckter Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen sprachphilosophischen Diskussion, eine „Metakritik“ – sie fragen präsuppositionsanalytisch nach den Voraussetzungen und Angemessenheitskriterien vernünftigen Nachdenkens über Sprache. (3) Das Resultat dieser Auseinandersetzung ist eine Verortung der Funktion und Reichweite des Modells propositionaler Sprachreflexion. Sie zeigt (a) das Ungenügen einer am Kommunikationsparadigma orientierten Reflexionsform, die Funktion des Sprechens als Medium der Bildung und Reproduktion unserer Praxisform zu thematisieren, und provoziert (b) eine für die gegenwärtige Diskussion provozierende Blickumkehr, die Sprache nicht einfach Medium „des Politischen“ , sondern als politisches Medium begreifbar macht.
Dr. Jan Müller (*1979) studierte Philosophie und Deutsche Sprache und Literatur in Marburg. Promotion 2010 in Stuttgart, derzeit wiss. Mitarbeiter am Institut für Philosophie der TU Darmstadt. Er beschäftigt sich vor allem mit dialektischer Handlungs- und Tätigkeitstheorie, Sprachphilosophie und politischer Philosophie (und ihrem Verhältnis zueinander).
11. Podiumsdiskussion: Zur Praxis kritischer Theorie. Formen der Gesellschafrkskritik heute
Moderiert von Christoph Demmerling (Philipps-Universität Marburg) diskutieren auf dem ersten Podium Alexander Garciá Düttman, Christoph Henning (Universität St. Gallen, u.a. „Philosophie nach Marx„), Philip Hogh (Goethe Universität Frankfurt a.M., u.a. Jungle World) und Cornelia Klinger über die Anforderungen einer tatsächlichen Weiterführung und Aktualisierung Kritischer Theorie. Für Düttman stellt sich eine solche Aktualisierung als eine kritische Selbstreflexion der AkademikerInnen dar: er verbindet die adornitischen Theoreme der sozialen Kälte und des universellen Verblendungszusammenhangs mit einer Kritik der neoliberalen Universität. Henning plädiert dafür, einige Themen der Klassiker der Kritischen Theorie (insbeondere nennt er Honneth) liegen zu lassen und fordert gleichzeitig dazu auf, wieder an die ältere Generation der Kritischen Theorie anzuknüpfen und von ihr zu lernen – in seinem Statement geht er auf einige Vorträge ein, die auf der Konferenz gehalten worden sind und gibt Anstoß, noch einmal über einzelne Aspekte zu diskutieren. Hogh schließt noch einmal an die sprachtheoretische Diskussion an, um unter diesem Aspekt Adorno und Habermas kritisch in Beziehung zueinander zu setzen. Klinger hält die Frage, ob es eine Praxis der Kritischen Theorie geben kann, für verkehrt – ihr Statement: die Praxis der Kritischen Theorie ist die Theorie. Eine revolutionäre Perspektive scheint in der Abschlussdiskussion nicht auf.
Dazu sei angemerkt, dass der Vortrag von Ingo Elbe aus gesundheitlichen Gründen leider ausfallen musste und der Mitschnitt des Vortrags von Frank Benseler aufgrund der zu geringen Lautstärke nicht verwendbar war. [zurück]
„Die Beschäftigung mit Camus, Sartre, Heidegger oder de Beauvoir wirft ein neues Licht auf die theoretischen Fragen, die uns bis heute nicht loslassen, weil wir im Wesentlichen nicht über sie hinaus sind. Von den gewissermaßen ewigen philosophischen Fragen abgesehen, handelt es sich um ganz konkrete Probleme kritischer Theorie“ – so lautet der Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung mit dem Existentialismus, die in Form einer Veranstaltungsreihe (Flyer als PDF) zur Zeit in der translib im Institut für vergleichende Irrelevanz in Frankfurt geführt wird. Drei der bisher gehaltenen Vorträge stellen wir hier zur Verfügung:
1.Andrea Trumann – Vortrag über Simone de Beauvoir
Nach einem kurzen Input-Referat der Veranstalter_innen über den kritischen Bezug Simone de Beauvoirs auf das Werk Jean-Paul Sartres, referiert Andrea Trumann (u.a. Autorin des theorie.org-Buches „Feministische Theorie. Frauenbewegung und weibliche Subjektbildung im Spätkapitalismus„) zunächst über ihre persönliche Rezeptionsgeschichte de Beauvoirs, um anschließend im Hauptteil des Vortrags einen kritischen Überblick über de Beauvoirs Vorstellung von Emanzipation zu geben. Hauptkritikpunkt ist dabei, dass de Beauvoir eine männlich-naturbeherrschende Form von Subjektivität auch für Frauen für erstrebenswert hält und damit kaum über kapitalistische Verhältnisse hinausstrebt.
Paul Stephan (Irrelevanzcluster für vergleichende Exzellenz, Translib) gibt hier eine sehr gelungene und hörenswerte Einführung in das Denken Jean-Paul Sartres und zeigt insbesondere anhand der Begriffe Situation und Freiheit, wie sich Sartre auf den Marxismus und ein revolutionäres Projekt bezieht. Der Vortrag ist unter Anderem deswegen sehr sympathisch, da er die Aktualität der Sartreschen Kategorien anhand aktueller Beispiele demonstriert; etwa an den jüngsten Unruhen im arabischen Raum oder der Illusion autonomer Subjektivität im flexiblen Kapitalismus.
Christoph Zwi (Biene Baumeister Zwi Negator) skizziert zunächst die historische Situation, in der sowohl die Situationisten als auch Georg Lukács, auf je unterschiedliche Weise eine an Marx und Hegel orientierte kritische Theorie zu entwickeln beginnen, um dann sehr ausführlich und mit vielen Verweisen darzustellen, wie beide eine Kritik am Existentialismus, insbesondere an Heidegger, formulieren. Zwi legt dabei einen besonderen Augenmerk darauf, dass sowohl Heidegger, als auch Lukács und die Situationisten auf sehr unterschiedliche Weise den Versuch angehen, eine Ontologie zu entwerfen.
Es sei auf die weiterhin folgenden und sehr spannenden Vorträge im Rahmen der Reihe hingewiesen, die wir nach Beendigung der Reihe ebenfalls dokumentieren werden:
Do 14.4.2011, 19h im IVI-Saal: Vortrag “Der dritte Mann oder Albert Camus” (Andreas Trottnow).
Fr 6.5.2011, 19h im IVI-Saal: Vortrag “Sartres Aufhebung des Existenzialismus” (Fabian Schmidt).
Fr 13.5.2011, 19h im IVI-Saal: Vortrag “Simone de Beauvoir heute” (Roswitha Scholz).
Eine Veranstaltung von Outside The Box, der Zeitschrift für feministische Gesellschaftskritik
Quergelesen hat Aufzeichnungen der Referate (leider ohne Diskussion) von Tagediebin, Zwi und Negator (allesamt vom AutorInnenkollektiv BBZN) gesendet. Das soll Euch natürlich nicht vorenthalten werden.
Sachzwang FM verarbeitet in der aktuellen Ausgabe einen Vortrag Peter Christoph Zwis zur Einfürung die situationistische Theoriebildung. Zwis Stimme scheint mir etwas tiefer zu klingen als sonst. Ich schätze sie wurde der Verständlichkeit halber verlangsamt.
Ich kann zugegebenermaßen nicht sagen, ob es sich beim verwendeten Mitschnitt um einen handelt, der hier in Rohform schon archiviert wurde…
Die sozialistische Studien-Vereinigung »Theorie Praxis Lokal« hat sich über einen längeren Zeitraum mit den Texten von Hans-Jürgen Krahl auseinandergesetzt. Hans-Jürgen Krahl hatte zuerst ein gutes Verhältnis zu Theodor W. Adorno, bei welchem er promovierte, suchte dann jedoch im Zuge der Studierenden-Proteste die Konfrontation mit Adorno, dem er vor Allem eine Flucht vor der Praxis in die Theorie vorwarf. Krahls eigene theoretische Schriften wurden von Theorie Praxis Lokal und die Projektgruppe »Krahlstudien« diskutiert. Bei den Aufnahmen handelt es sich größtenteils um Aufnahmen der Seminare, in denen die Krahl-Texte gelesen und diskutiert werden. Einen Eindruck von Krahls gelegentlichen Ausbrüchen gibt es hier, einen Ausschnitt aus seiner »Römerbergrede« vom Mai 1968, in der er zum Generalstreik aufruft, gibt es hier.
1. Hans Jürgen Krahl – Adornokritik von links. »Der politische Widerspruch der kritischen Theorie Adornos« und »Angaben zur Person«: Download | Zum Text
2. Hans Jürgen Krahl – Adornokritik von links. »Angaben zur Person« (inkl. einer einführenden Diskussion): Download | Zum Text
3. Zur Praxis kritischer Theorie. Hans-Jürgen Krahl und das unabgegoltene Erbe der Neuen Linken. Vortrag von krahlstudien.de: Download | Zum Ankündigungstext
5. Zur Praxis kritischer Theorie. »Thesen zum allgemeinen Verhältnis von wissenschaftlicher Intelligenz und proletarischem Klassenbewusstsein«: Download | Zum Text
Wer waren die Situationisten wirklich? Einführung in Geschichte und Theoriebildung der Situationistischen Internationale. Vortrag von Peter Christoph Zwi. Juni 2000 – Download: Archive.org / MF | Ankündigungstext
Fetisch – Spektakel – Entwendung. Zur praktischen Aktualität der situationistischen Kritik. Vortrag von Claus Baumann. April 2002 – Download: archive.org / MF | Ankündigungstext | Bericht
Im Rahmen der Theorie-Praxis-Lokal-Veranstaltungen hielt Peter Christoph Zwi (Mitglied des Autorenkollektivs Biene Baumeister Zwi Negator) im April 2000 einen Vortrag zum Begriff des Proletariats bzw. der Proletarisierung. Zwi führt hier den Klassenbegriff nicht als statisch festzulegende Kategorie ein, sondern als Prozess. Dabei argumentiert er m.E. ähnlich wie Adorno in seinem Text „Gesellschaft“1, in dem dieser Gesellschaft als Prozess begreift und in diesem Zuge den Begriff der Klassengesellschaft verteidigt.
Bei Radio Frei findet sich nun der Mitschnitt der Veranstaltung »Kommunismus – aber wie?« mit Hannes Gießler (Cee Ieh, Gruppe in Gründung) und Christoph Zwi (Biene Baumeister Zwi Negator, Situationistische Revolutionstheorie), die in Jena am 15. Juni wiederholt wurde. Hannes Gießler führt mehrere Gründe auf, warum seines Erachtens die kommunistischen Revolutionsversuche gescheitert sind, weist auf die Gefahren erneuter Revolutionsversuche hin und plädiert dafür die bürgerliche Gesellschaft, als Versuch eine Vermittlung im Widerstreit zwischen Individuum und Allgemeinheit zu organisieren, anzuerkennen. Christoph Zwi referiert ausführlich zum Begriff des Kommunismus und zieht hierzu Marx, Georg Lukács, Walter Benjamin und die Situationisten heran. Leider reagieren die beiden kaum aufeinander und so stehen ihre unterschiedlichen Positionen auch in der Diskussion eher nebeneinander, als dass eine Konfrontation stattfindet. In Leipzig soll es hitziger zugegangen sein – trotzdem sehr hörenswert!
Die Situationistische Internationale zu würdigen, heißt ihren Zeitkern zu retten. In den 1950er Jahren bewegte sie sich in »einer vom Krieg zerstörten Landschaft, den eine Gesellschaft gegen sich und ihre eigenen Möglichkeiten führt« nicht als Avantgarde, sondern als »enfants perdues«, als versprengter Haufen, welcher mit der Aufhebung der Kunst meinte die »Nordwestpassage« der proletarischen Revolution gefunden zu haben. Dabei fanden sie die Stellungen der alten Arbeiterbewegung im sozialen Krieg verlassen vor. Jede revolutionäre Perspektive schien im Spektakel der Blockkonfrontation verstellt, die Niederlagen des revolutionären Anlaufs nach dem Ersten Weltkrieg bis in die 1930er Jahre schienen zementiert, besonders auf jenem Drittel des Globus, wo sie von den nachholenden Modernisierungsregimen unter roter Fahne in einen Sieg umgelogen worden waren. Die Herrschaft der Bilder des Bestehenden, sein Monolog über die in der spektakulären Warenproduktion zum Zuschauen verdammten ProduzentInnen dieses Verhältnisses, schien für die Ewigkeit bestimmt zu sein. Ausgerüstet mit von den historischen (Kunst-)Avantgarden entwendeten Techniken, mit Marx und Freud sowie der tiefen Verachtung gegenüber jeglicher Duldsamkeit, legte die SI den Warenfetischismus als die Wurzel des Spektakels frei und eröffnete unverzüglich den feindlichen Dialog mit der alten Welt, wohl wissend, dass bereits in der Praxis derTheorie jede Nachlässigkeit in einer Verstärkung des Bekämpften münden würde. Weiterlesen →