Archiv für den Monat: März 2020

Vortragsreihe über Johannes Agnoli

Wir dokumentieren hier eine Reihe von Vorträgen, die Ali Ma 2019 an verschiedenen Orten in Leipzig gehalten hat. In den vier Vorträgen gibt Ma eine Einführung in je verschiedene Aspekte des Werks von Agnoli. Die Vorträge haben einen sehr grundlegenden und einführenden Charakter. Alle Vorträge können auch bei Mixcloud nachgehört werden, unsere Dateien sind leicht nachbearbeitet.

1.) 1968 und die Folgen – Johannes Agnoli und die ApO

Im ersten Vortrag geht Ma auf Agnolis Reflexionen über 1968 ein (bei ça ira erschienen in einem Sammelband). Um ein Verständnis herzustellen, schildert er zunächst wichtige Ereignisse um 1968 herum und den Verlauf der Bewegung. Anschließend skizziert er, wie Agnoli sich auf die Bewegung von 1968 bezog, wobei das Verhältnis von Erfolg und Niederlage sowie der Begriff der Desintegration hervorgehoben werden. Außerdem geht der Vortrag auf das Faschismus-Verständnis von Agnoli ein. Zuletzt erfolgt ein Ausblick auf das, was für Agnoli „Subversion“ bedeutet. Der im Vortrag erwähnte Film „Das negative Potential“ findet sich hier – die Dokumentation über die Schlacht am Tegeler Weg, auf die im Vortrag ebenfalls Bezug genommen wird, findet sich hier – die Fernsehdiskussion mit Rudi Dutschke und Daniel Cohn-Bendit von 1978 hier.

1968 ist für die Linke und deren Praxis ein wichtiger Ausgangspunkt. Es entstanden Protest- und Organisationsformen, die bis heute prägend sind. Diese wurden in den 70er Jahren weiterentwickelt und beeinflussten die Entstehung der Neuen Sozialen Bewegungen. Um diese besser zu verstehen und einzuordnen sollten die Ereignisse von 68 genauer betrachtet werden.

Agnoli war selbst ein Protagonist dieser Zeit. Als Mitbegründer des Republikanischen Clubs 1967 wirkte er auf die damaligen Proteste ein und verfasste bereits währenddessen wichtige Reflexionen.

Als Professor für Politikwissenschaft an der FU Berlin von 1972 bis 1990 beeinflusste er maßgebend die studentische Linke. Seine politisch-ökonomischen Analysen auf Grundlage der marxistischen Theorie zielten auf eine emanzipatorische Praxis.

In dem Sammelband 1968 und die Folgen wirft Agnoli einen kritischen Blick auf die Revolte. Er beschreibt die Außerparlamentarische Opposition und hinterfragt ihre Wirkung. Dabei greift er die wichtigsten Diskussionen über Theorie und Praxis der Bewegung auf. Provokation und Öffentlichkeit, Basisdemokratie und Willensbildung sind die großen Schlagwörter dieser Zeit. Weitere Themen die im Vortrag anhand seiner Texte vorgestellt werden, sind seine Analyse des Faschismus und der Begriff der Klassenautonomie. Damit setzt er sich erstens mit der Diskussion der damals beginnenden Aufarbeitung des Nationalsozialismus auseinander und bespricht zweitens die Frage nach emanzipatorischen Veränderungen in einer kapitalistischen Gesellschaft.

Der Vortrag soll einen ersten Einstieg in Agnolis Theorien bieten und zu einer kritischen Diskussion über die 68er Ereignisse beitragen.

    Download: via AArchiv (mp3; 107.9 MB; 1:07:19 h)

2.) Die subversive Theorie – Negation und Widerstand

Im zweiten Teil stellt Ma das Buch „Die subversive Theorie“ vor, das eine Verschriftlichung der Vorlesungsreihe enthält, die Johannes Agnoli im Wintersemester 1989/90 an der FU Berlin gehalten hat und einen ideengeschichtlichen Abriss des subversiven Denkens beinhaltet. Während er nur kurz auf die Häretiker des Mittelalters eingeht, rekonstruiert Ma vor allem die begriffliche Essenz des Buches: Den Begriff der Subversion und damit eng verbunden die Begriffe von Negation und Destruktion.

Im Vortrag wird es um eine Annäherung und eine Bestimmung des Begriffs Subversion bei Johannes Agnoli gehen. Sein Buch „Die Subversive Theorie – Die Sache selbst und ihr Geschichte“ basiert auf einer Vorlesung von 1989/90 und ist als Ideengeschichte konzipiert. Agnoli untersuchte Theoretiker_innen von der Antike bis zur Französischen Revolution, die aus seiner Sicht subversiv handelten. Kurz zusammengefasst bedeutet Subversion Herrschaftskritik mit der gleichzeitigen Bewahrung von errungenen Fortschritten und die Benennung von Möglichkeiten der gesellschaftlichen Transformation. Um sich ein Bild davon zu machen, was das genau bedeutet, werden im Vortrag drei wichtige Aspekte genauer betrachtet: Die Vorbereitung auf die Revolution, Theorie&Praxis und die Negation des Bestehenden. Das Besondere an Agnolis Buch ist seine spezielle Form der Dialektik, die er hier veranschaulicht. Denn der Subversion gehe es nicht um die Negation der Negation, sondern um die Negation destructio. Diese spiegelt sich in seiner fesselnden Analyse der Geschichte wieder und macht die Aktualität seiner Herrschaftskritik aus.

    Download: via AArchiv (mp3; 69.9 MB; 43:37 min)

3.) Der Staat des Kapitals – Ein Beitrag zur Kritik der Politik

Den dritten Vortrag hat Ali Ma gemeinsam mit einem Genossen gehalten. Die beiden geben zunächst einen Überblick über linke Staatstheorien, wobei sie vor allem auf die Staatsmonopol-Kapitalismus-Theorie und die Staatsableitungsdebatte eingehen, die Johannes Agnoli sowohl aufgenommen als auch kritisiert hat. Sie rekonstruieren dann Agnolis Staatskritik, in der Agnoli den Staat als ein gesellschaftliches Verhältnis begreift, in dem Herrschaft abstrakt vermittelt ist. Zugrunde liegt hier Agnolis Buch „Der Staat des Kapitals“ (als PDF hier). Die Aufnahme ist leider stark verhallt – daher verweisen wir auf diesen Beitrag, in dem es um Agnolis Buch „Transformation der Demokratie“ geht und seine Staatskritik ebenfalls besprochen wird und auf diese Beiträge zur Staatskritik.

Was ist eigentlich der Staat? Nach Johannes Agnoli ist der Staat der konkrete politische Ausdruck der unterdrückenden Gesellschaft. Er hat im bestehenden System eine gewisse Autonomie gegenüber der Ökonomie, wird aber von dieser in seinem Handlungsspielraum begrenzt. Mit dem Staat ist daher keine Emanzipation und aufgrund seiner herrschaftlich verfassten Form auch kein progressiver Fortschritt zu machen. Um die Relevanz dieser Positionen zu verstehen wird im Vortrag zuerst mit gängigen linken Vorstellungen über den Staat aufgeräumt. Der Staat ist weder ein reines Unterdrückungselement der Kapitalisten, noch bloßer Überbau, hinter dem sich das Kapital versteckt. Sondern er ist konkreter Ausdruck eines Herrschaftsverhältnisses zwischen den Menschen. Er ist Reproduzent und Organisator der Gesellschaft, zudem unterdrückt er soziale Konflikte. Zum Abschluss des Vortrags werden Möglichkeiten der Überwindung des bürgerlich-kapitalistischen Systems diskutiert und welche Aktualität “Der Staat des Kapitals” heute noch hat. Ziel ist es eine Debatte über aktuelle Formen linker Staatskritik anzustoßen und neue, so wie radikale Perspektiven zu eröffnen.

    Download: via AArchiv (mp3; 100.7 MB; 1:02:52 h)

4.) Faschismus ohne Revision – Der italienische Korporativismus

Im vierten Vortrag stellt Ali Ma Agnolis Buch „Faschismus ohne Revision“ vor. Er gibt eine Einführung in die Geschichte des italienischen Faschismus, den er in seinen verschiedenen Phasen skizziert. Im Zentrum steht dabei der Korporativismus als ökonomisches Modell des Faschismus. Er geht außerdem auf den Begriff des Postfaschismus ein, der im Anschluss an Agnoli entwickelt wurde – es geht dabei um die Fragestellung, welche Vermittlungsfunktionen vom Faschismus in die Nachkriegsgesellschaft eingegangen sind. Zuletzt kritisiert er bei Agnoli den geringen Stellenwert des Antisemitismus in der Faschismuskritik. [Anmerkung des Referenten: Minute 15:03 muss „Italien“ hat an der Seite der Franquisten eingegriffen heißen und nicht „Spanien“.]

>Johannes Agnoli analysierte in Faschismus ohne Revision den italienischen Faschismus der 20er und 30er Jahre. Seine Grundthese war, dass der Kapitalismus den Faschismus hervorbringt, in Zeiten in denen die Wirtschaft in der Krise ist und daher eine politisch-autoritäre Stabilisierung benötigt. Historisch wurde dies in Italien durch die Einführung des Korporativen Systems bewerkstelligt. Eine Zusammenarbeit von Unternehmen, Arbeiter_innen und Regierung um gemeinsam die Wirtschaft zu verwalten. Das Besondere daran ist, dass der Klassengegensatz des Kapitalismus dadurch anerkannt wird. Die Aufgabe besteht darin ihn zu verrechtlichen und damit in kontrollierbare Bahnen zu lenken. Das Ziel war, das es zu keinen sozialen Konflikten kommt.

Anschließend an Agnolis Faschismusanalyse wurde der Begriff des Postfaschismus entwickelt. Damit sind autoritäre Kontinuitäten in den nachfaschistischen Staaten gemeint die bis heute fortbestehen. Genau diese Weiterexistenz in den bestehenden Systemen, sowohl auf staatlicher als auch auf gesellschaftlicher Ebene ist die eigentliche Gefahr, die sich aktuell stellt. Es geht also nicht um die Möglichkeit eines neuen faschistischen Staates, sondern das es diesen bereits gab.

Im Vortrag werden Agnolis Thesen des Korporativismus und des Postfaschismus vorgestellt und ihre Aktualität für die Analyse bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse besprochen.

    Download: via AArchiv (mp3; 77.1 MB; 48:09 min)

Zur Kritik der Prostitution – Theorie & Praxis

In mehreren Beiträgen des Audioarchivs, die sich mit Prostitution auseinandersetzen, sind bisher eher sexarbeit-positive Positionen zu Wort gekommen:

Wir dokumentieren hier einen Beitrag, der eine dezidierte Kritik der Sexarbeit formuliert: Einen Vortrag von Naida Pintul, den diese im März 2018 in Stuttgart bei Emanzipation und Frieden gehalten hat. Im Vortrag schildert sie zunächst Erfahrungen aus ihrer Arbeit bei einer Beratungsstelle für Prostituierte und geht auf einige soziologische Daten zur Prostitution in Deutschland ein. Anschließend skizziert sie kurz Positionen von „klassischen“ MarxistInnen zur Prostitution: Alexandra Kollontai, Friedrich Engels, Clara Zetkin, Karl Marx und Rosa Luxemburg. Es folgen drei weitere Punkte: Wer sind eigentlich die Freier? / Was spricht gegen die Betroffenheitsperspektive? / Psychische Folgen und Mechanismen in der Prostitution.

Prostitution kann zu Recht als eines der Goldenen Kälber des Feminismus bezeichnet werden: Kaum ein Thema erzeugt innerhalb feministischer Kreise so viele, teils erbittert geführte Kontroversen. Der liberale und queere Feminismus der Dritten Welle hat sich mittlerweile die Deutungshoheit erobert, Prostitution in »Sexarbeit« umbenannt und ihr empowerndes, gar emanzipatorisches Potential zugeschrieben. So heißt es, dass selbstbestimmte Sexarbeit mit dem Feminismus nicht nur vereinbar, sondern per se auch feministisch sei. Veranstaltungen wie die Ladyfeste lassen regelmäßig Frauen referieren, die das Narrativ der glücklichen Sexarbeiterin bedienen, in aller Regel in individualistisch-liberaler Manier. Was hier oft zu kurz kommt, ist jedoch zum einen die Frage, wie Prostitution in ihrer aktuellen Ausprägung gesellschaftlich ermöglicht wird, zum anderen sind es die Stimmen derjenigen Frauen in der Prostitution, die nicht das Narrativ vom »Job wie jeder andere« bedienen. Der Vortrag wird Prostitution vor dem Hintergrund patriarchaler Geschlechterverhältnisse aufrollen und ein Grundgerüst liefern, um diese Institution über individuelle Betroffenengeschichten hinaus zu analysieren.

Naida Pintul arbeitet ehrenamtlich in einer Beratungsstelle für Frauen in der Prostitution und fokussiert sich in ihrer politischen Arbeit als Feministin in der Tradition der Zweiten Welle neben der Sexindustrie auf den Islam bzw. die islamische Bedeckung, in dessen Verklärung zum Empowerment-Tool seitens Queerfeministinnen sie Parallelen zum Umgang mit Prostitution sieht.

Eine Veranstaltung in Kooperation von Laboratorium und Emanzipation und Frieden [via]

    Download: via AArchiv (mp3; 59.1 MB; 43:05 min) | bei Youtube

Wir verweisen außerdem auf den Blog von Huschke Mau, in dem immer wieder Texte zur Kritik der Prostitution erscheinen – ihr Text „Ich habe die Schnauze voll“ hatte 2014 für einige Diskussionen gesorgt. Verwiesen sei außerdem auf einen Podcast, in dem Huschke Mau ausführlich zu Wort kommt und über ihre eigenen Erfahrungen als Prostituierte spricht: hier (Triggerwarnung: hier wird explizit und detailliert sexualisierte Gewalt beschrieben).

Kairós: Kritische Theorie der Gelegenheit

Ende des Jahres 2019 hat Alexander Neupert-Doppler im Mandelbaumverlag das Buch „Die Gelegenheit ergreifen – eine politische Philosophie des Kairós“ veröffentlicht. Wir dokumentieren hier eine Buchvorstellung, die Neupert-Doppler bei der Association for the Design of History abgehalten hat. Er stellt dabei das Motiv seines Buches vor: Die Revolution ist weder durch den bloßen Willen der Revolutionäre machbar, noch folgt sie aus objektiven Gesetzmäßigkeiten der Geschichte. Vielmehr müssen die Revolutionäre die Bedingungen ihres Handelns kennen und in einer günstigen Situation handlungsfähig sein – dazu bedarf es der Organisierung. Ein Aufsatz, in dem dies ausgeführt wird, ist kürzlich bei kritiknetz erschienen.

Unter Menschen, die die Welt verändern wollen, sind vier Perspektiven auf Geschichte populär: Die einen glauben immer noch an einen chronologischen Fortschritt der Menschheit in die Utopie, die anderen wetten hingegen eher auf die konkrete Dystopie einer unvermeidlichen Selbstzerstörung. Wieder andere meinen, dass Weltverbesserung immer und überall möglich ist, einige denken sogar, dass sich am großen Ganzen ohnehin nichts mehr ändern wird und wir nur an Details ansetzen können. Gegen diese fortschrittlichen, katastrophischen, voluntaristischen und postmodernen Denkweisen richtet sie die Kairós-Theorie.

Angesichts der verpassten Gelegenheiten und eingetretenen Katastrophen des 20. Jahrhunderts entwickelten Philosophen wie Walter Benjamin und Paul Tillich eine kairologische Geschichtsphilosophie. Kurz gesagt: „Nicht jedes ist zu jeder Zeit möglich, nicht jedes zu jeder Zeit wahr, nicht jedes in jedem Moment gefordert“ (Tillich 1922). Heute vertreten Theoretiker wie Immanuel Wallerstein, Antonio Negri und Michael Hardt, dass wir uns einem Gelegenheitsfenster zum Überschreiten des Kapitalismus nähern. Aber: „Den Kairós – den günstigen Augenblick […] – muss ein politisches Subjekt ergreifen“ (Hardt/Negri 2010).

Was folgt aus der Kairós-Theorie für politisches Denken und Handeln? Zu diesem Thema erschien im Herbst 2019 das Buch ‚Kairós – Politische Philosophie der Gelegenheit‘ von Dr. Alexander Neupert-Doppler. Er arbeitet zur Zeit als Mitarbeiter für Politische Theorie am IASS in Potsdam und veröffentlichte bisher die Bücher ‚Staatsfetischismus‘ (2013) gegen zu kritisierende Widrigkeiten und ‚Utopie‘ (2015) über die Möglichkeiten utopischen Denkens. Mit ‚Kairós‘ (2019) soll die theoretische Lücke zwischen Kritik und Utopie durch ein Denken in politischen Gelegenheiten gefüllt werden. [via]

    Download: via AArchiv (mp3; 73.1 MB; 53:15 min) | bei Youtube (inkl. der Vortragsfolien)