Im Folgenden werden drei Beiträge dokumentiert, die thematisch mehr oder weniger zusammen hängen, jedoch jeweils einen eigenen thematischen Fokus haben. Es geht um Rechtsruck, ökologische Krise, Widerstand auf verlorenem Posten, Erziehungsweisen, die Kategorie des Eigensinns und um Ästhetik.
1.) Widerstand ohne Hoffnung
Am 08. Januar 2019 hat der Autor Wolfram Ette einen Vortrag im Chemnitzer Lesecafé Odradek gehalten. Der Vortrag wirft die Frage auf, wie angesichts der historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, der Antiquiertheit des Fortschrittsglaubens und düsterer Zukunftserwartungen überhaupt noch eine emanzipatorische Perspektive formuliert werden kann. Dafür wird das Motiv des „Widerstands ohne Hoffnung“ eingeführt, das Ette aus der Lektüre der „Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiß entwickelt. Zudem argumentiert Ette, dass der Erfolg rechtspopulistischer und rechtsextremer Motive ein Stück weit aus der Desavouierung des Fortschrittsglaubens erklärbar ist. Die Thesen des Vortrags sind unter dem Eindruck der Ereignisse in Chemnitz im Spätsommer 2018 entstanden.
2019 hat Wolfram Ette im Büchner-Verlag das Buch „Das eigensinnige Kind. Über unterdrückten Widerstand und die Formen ungelebten Lebens“ veröffentlicht. Dieses Buch wurde im Oktober 2021 in der Sendereihe Wutpilger-Streifzüge vorgestellt, wobei Wolfram Ette ausführlich zu Wort kommt. Es geht in der Sendung um das Märchen vom eigensinnigen Kind (Gebrüder Grimm), die Kategorie des Eigensinns und um die pathologischen Folgen unterdrückten Eigensinns.
„Es war einmal ein Kind eigensinnig und tat nicht, was seine Mutter haben wollte. Darum hatte der liebe Gott kein Wohlgefallen an ihm und ließ es krank werden, und kein Arzt konnte ihm helfen, und in kurzem lag es auf dem Totenbettchen.“ – So beginnt eines der kürzesten Märchen aus den Sammlungen der Gebrüder Grimm. Das Märchen vom eigensinnigen Kind verdeutlicht die Bedeutung dessen, was Eigensinn ist: Eine Reaktion auf unterdrückende Verhältnisse, die das Leben tendenziell unmöglich machen. Aber Eigensinn muss keineswegs eine emanzipatorische Stoßrichtung haben, er kann auch gemeine, barbarische, reaktionäre Züge tragen. Wolfram Ette untersucht in seinem Buch „Das eigensinnige Kind – Über unterdrückten Widerstand und die Formen ungelebten Lebens“ die pathologischen Folgen unterdrückten Eigensinns. Einigen Gedanken dieses gesellschaftspolitischen Essays folgt diese Sendung.
Die nachfolgende Ausgabe der Sendereihe Wutpilger-Streifzüge widmet sich dann einer kritischen Auseinandersetzung mit Johanna Haarer und dem nationalsozialistischen Erziehungsratgeber „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind„. In der Sendung kommt vor allem die Literaturwissenschaftlerin Karin Nungeßer zu Wort. Die Sendung ist auch ein Ergebnis des Seminars „Das eigensinnige Kind„, das Karin Nungeßer und Wolfram Ette im November 2021 im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Kritik und Eigensinn“ im Conne Island Infoladen in Leipzig durchgeführt haben. Ausgehend vom „eigensinnigen Kind“ wird der Frage nachgegangen, wie das Nachwirken von Johanna Haarers Erziehungsratgebern nach 1945 zu erklären ist.
Diese Radiosendung setzt sich kritisch mit der Pädagogik von Johanna Haarer (1900-1988) auseinander. Mit den Büchern „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ und „Unsere kleinen Kinder“ schrieb Haarer die wichtigsten nationalsozialistischen Erziehungsratgeber. Doch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ wurde auch nach 1945 unter verändertem Titel bis in die 1980er Jahre wieder aufgelegt. Was machte die Pädagogik von Johanna Haarer aus? Was war das neue an dieser Pädagogik? Worin bestehen Kontinuitäten bis heute? Was machte Haarers Bücher auch nach 1945 anschlussfähig? Zu diesen Fragen kommen Karin Nungeßer, Wolfram Ette, Anne Kratzer und Benjamin Ortmeyer zu Wort.
Auf dem Youtube-Kanal Schachtel1000 werden zahlreiche Folgen der Sendereihe Wutpilger-Streifzüge hochgeladen. Hier findet sich ein Verzeichnis von Wutpilger-Sendungen – auf aergernis.org finden sich wesensverwandte Interview und Beiträge.
Wir dokumentieren hier die Aufnahmen des fünften Teils der Weimarer Veranstaltungsreihe Kunst, Spektakel & Revolution, der bereits vor einiger Zeit (2013/14) in der ACC Galerie Weimar stattgefunden hat. Das Thema dieser Veranstaltungsreihe – Dunkelheit und Schwarz in der Kultur – findet sich auch in der jüngst erschienenen KSR-Publikation wieder, die hier bestellt werden kann. Zwei Beiträge zur aktuellen Publikation seien der Dokumentation der Reihe vorangestellt:
In einer Audio-Collage gibt es einen hörbaren Einblick in das aktuelle Heft – vertont sind die Einleitung zum Themenschwerpunkt und Auszüge aus dem Text „Lautréamont und kein Ende“ von Julien Graque. Die Collage enthält Samples aus dem Film „Bambule“ von Ulrike Meinhoff und dem Film „if …“ von Lindsay Anderson.
Ende des Jahres 2019 hat Alexander Neupert-Doppler im Mandelbaumverlag das Buch „Die Gelegenheit ergreifen – eine politische Philosophie des Kairós“ veröffentlicht. Wir dokumentieren hier eine Buchvorstellung, die Neupert-Doppler bei der Association for the Design of History abgehalten hat. Er stellt dabei das Motiv seines Buches vor: Die Revolution ist weder durch den bloßen Willen der Revolutionäre machbar, noch folgt sie aus objektiven Gesetzmäßigkeiten der Geschichte. Vielmehr müssen die Revolutionäre die Bedingungen ihres Handelns kennen und in einer günstigen Situation handlungsfähig sein – dazu bedarf es der Organisierung. Ein Aufsatz, in dem dies ausgeführt wird, ist kürzlich bei kritiknetz erschienen.
Unter Menschen, die die Welt verändern wollen, sind vier Perspektiven auf Geschichte populär: Die einen glauben immer noch an einen chronologischen Fortschritt der Menschheit in die Utopie, die anderen wetten hingegen eher auf die konkrete Dystopie einer unvermeidlichen Selbstzerstörung. Wieder andere meinen, dass Weltverbesserung immer und überall möglich ist, einige denken sogar, dass sich am großen Ganzen ohnehin nichts mehr ändern wird und wir nur an Details ansetzen können. Gegen diese fortschrittlichen, katastrophischen, voluntaristischen und postmodernen Denkweisen richtet sie die Kairós-Theorie.
Angesichts der verpassten Gelegenheiten und eingetretenen Katastrophen des 20. Jahrhunderts entwickelten Philosophen wie Walter Benjamin und Paul Tillich eine kairologische Geschichtsphilosophie. Kurz gesagt: „Nicht jedes ist zu jeder Zeit möglich, nicht jedes zu jeder Zeit wahr, nicht jedes in jedem Moment gefordert“ (Tillich 1922). Heute vertreten Theoretiker wie Immanuel Wallerstein, Antonio Negri und Michael Hardt, dass wir uns einem Gelegenheitsfenster zum Überschreiten des Kapitalismus nähern. Aber: „Den Kairós – den günstigen Augenblick […] – muss ein politisches Subjekt ergreifen“ (Hardt/Negri 2010).
Was folgt aus der Kairós-Theorie für politisches Denken und Handeln? Zu diesem Thema erschien im Herbst 2019 das Buch ‚Kairós – Politische Philosophie der Gelegenheit‘ von Dr. Alexander Neupert-Doppler. Er arbeitet zur Zeit als Mitarbeiter für Politische Theorie am IASS in Potsdam und veröffentlichte bisher die Bücher ‚Staatsfetischismus‘ (2013) gegen zu kritisierende Widrigkeiten und ‚Utopie‘ (2015) über die Möglichkeiten utopischen Denkens. Mit ‚Kairós‘ (2019) soll die theoretische Lücke zwischen Kritik und Utopie durch ein Denken in politischen Gelegenheiten gefüllt werden. [via]
Download: via AArchiv (mp3; 73.1 MB; 53:15 min) | bei Youtube (inkl. der Vortragsfolien)
In der Wutpilger-Ausgabe für Oktober 2018 wird ein Stand kommunistischer Debatte zusammengetragen. Was bedeutet Kommunismus? Welche Schritte führen zu ihm? Wie gehen Kommunistinnen mit dem Erbe kommunistischer Geschichte um? Wo stehen Kommunisten heute?
In vielen Ausgaben der Sendereihe „Wutpilger-Streifzüge“ habe ich mich mit der Geschichte der Arbeiterbewegung beschäftigt. Dass es dabei um eine Sympathie mit der Sache des Kommunismus geht ist unausgesprochen klar. Aber was denken Kommunistinnen heute, was wollen sie, welche Vorstellung haben sie von Kommunismus? Diesen Fragen bin ich in der aktuellen Ausgabe nachgegangen – und habe dafür einige meiner kommunistischen Freunde befragt. (via)
Die Wutpilger-Ausgabe für August 2019 beschäftigt sich mit dem Sinn und Zweck von Geschichtsarbeit. Es sprechen wahlverwandte und eigene GenossInnen über Geschichte in einem materialistischen, feministischen und kritisch-theoretischen Verständnis.
Immer wieder findet im Rahmen der Sendereihe „Wutpilger-Streifzüge“ eine Auseinandersetzung mit Geschichte statt – insbesondere mit einem Fokus auf die Geschichte der Arbeiterbewegung. In dieser Ausgabe der Sendereihe „Wutpilger-Streifzüge“ wird den Fragen nachgegangen, welchen Sinn eine Auseinandersetzung mit Geschichte überhaupt macht, welche Motivation und welche Interessen hinter dem Drang zu historischer Auseinandersetzung stehen, warum ein einfach lineares Geschichtsbild abzulehnen ist… Im Feature sind zu hören: Marlene Pardeller, Lilli Helmbold und Julian Kuppe. (via)
Wir stellen hier mehrere Beiträge zusammen, die sich mit dem Leben und Denken von Herbert Marcuse auseinandersetzen. Dies durchaus passend zur gerade Laufenden Beitragsserie über 1968 – hat doch Herbert Marcuse als engagierter Intellektueller wie kaum ein anderer eine Verbindung zwischen der Erfahrung der Novemberrevolution und den Impulsen der Bewegung der 60er Jahre hergestellt.
1.) Leben und Werk Herbert Marcuses
Aus Anlass des 118. Geburtstags von Herbert Marcuse hat Radio Corax im Juli 2016 ein Interview mit Roger Behrens geführt. Ausgehend von der Politisierung Marcuses im Zuge des 1. Weltkriegs geht das Gespräch einigen biographischen Stationen Marcuses nach, um anhand dessen immer wieder Aspekte seines Denkens zu skizzieren.
Einer, der an der Novemberrevolution teilgenommen hat, der bei Heidegger Philosophie gelernt hat, um dann Marx zu entdecken, ein wichtiger Theoretiker des Freudo-Marxismus zu werden und der dann später Stichwortgeber der amerikanischen Studentenbewegung geworden ist – der wurde am 19. Juli 1898, also heute vor 118 Jahren in Berlin geboren und er hieß Herbert Marcuse. Er zählt zu den wichtigen Vertretern der kritischen Theorie – auch wenn er nicht wie Adorno und Horkheimer nach dem zweiten Weltkrieg nach Deutschland zurückgekehrt ist. Wir haben den 118. Geburtstag von Herbert Marcuse zum Anlass genommen, um über sein Leben und sein Denken zu sprechen. Dazu haben wir mit Roger Behrens telefoniert. Begonnen haben wir bei einer Station im Leben von Herbert Marcuse, die eine ganze Generation einschneidend geprägt hat – der erste Weltkrieg. Marcuse war jemand, der ziemlich nah dran war an der Novemberrevolution – das heißt bei Marcuse hat der erste Weltkrieg eine Politisierung nach links bedeutet. Wir haben Roger Behrens gefragt, wie diese Politisierung auch die Entwicklung des Denkens von Marcuse beeinflusst hat. [via]
2.) Kapitalismus und Opposition – Vorlesungen zum eindimensionalen Menschen
Unter dem Titel „Kapitalismus und Opposition“ sind im Herbst 2017 eine Reihe von Vorlesungen veröffentlicht worden, die Herbert Marcuse 1974 an der Universität Vincennes gehalten hat. Die Vorlesungen aktualisieren und konkretisieren Aspekte der Überlegungen, die Marcuse im „Eindimensionalen Menschen“ angestellt hat und entfalten zentrale Motive, die sich durch das Werk Marcuses durchziehen. Herausgegeben wurden diese Vorlesungen von Peter-Erwin Jansen, Lisa Doppler und Alexander Neupert-Doppler. Peter-Erwin Jansen ist der Nachlassverwalter Marcuses. Radia Obscura hat ein Interview mit ihm über Marcuse und das neu erschienene Buch geführt.
2017 ist unter dem Titel „Kapitalismus und Opposition“ ein etwa 150-seitiger Band beim zuKlampen!-Verlag erschienen, in dem die Herausgeber*innen Lisa Doppler, Peter-Erwin Jansen und Alexander Neupert-Doppler in erster Linie eine Vorlesungsreihe abdrucken, die Herbert Marcuse 1974 an der Pariser Universität Vincennes abhielt. Marcuse nimmt darin am Beispiel der USA eine Analyse des Kapitalismus seiner Zeit vor, diagnostiziert einen Konsumkapitalismus und wägt Möglichkeiten seiner Überwindung ab. Ergänzt werden diese Vorlesungen u.a. um eine Einleitung durch Roger Behrens und ein Interview, das Le Monde mit Marcuse führte. Wir hatten die Gelegenheit, Peter-Erwin Jansen, Philosoph und Vorstand der Internationalen Marcuse Gesellschaft (IMS), zu dieser Publikation zu befragen und eine historische und theoretische Einordnung vorzunehmen bzw. vornehmen zu lassen. [via]
Am 15.03.2019 haben Lisa Doppler und Alexander Neupert-Doppler das Buch Kapitalismus und Opposition. Vorlesungen zum eindimensionalen Menschen in der „Neuen Republik Reger“ in Berlin vorgestellt. Sie geben im Vortrag einen kurzen Überblick über Leben und Werk von Marcuse, um dann folgende Aspekte zu diskutieren: Die Frage nach dem sozialen Ort der Revolution angesichts der Verschiebungen innerhalb der globalen Arbeitsteilung; die Kritik liberaler Ideologie und des autoritären Charakters; die Frage der Opposition im integrierten Kapitalismus. Dabei beschränkt sich der Vortrag nicht auf eine Wiedergabe der Vorlesungen Marcuses, sondern sie versuchen stets einen Bezug zu aktuellen Problemen der Gesellschaftskritik herzustellen.
Herbert Marcuse (1898-1979) wurde vor 50 Jahren berühmt als angeblicher Kopf der Protestwelle von 1968, der er 1969 seine Schrift ‚Versuch über die Befreiung‘ widmete. Die Revolte und deren Reflexion blieben, wie in Marcuses Titel angedeutet, leider ein Versuch. Auch heute noch leben wir im Kapitalismus, wenn auch in anderer Gestalt, auch heute noch gibt es Opposition. Erst durch dieses Fortdauern werden alte Texte interessant und aktuell.
1974 hielt Marcuse sieben Vorlesungen an der Universität Sorbonne in Paris. In erster Linie kritisierte er, als Praktiker der Theorie, bestimmte Entwicklungen im Kapitalismus. Er ging auf die Tendenz zum Monopolkapitalismus ein, die sogenannte postindustrielle Gesellschaft, auf Neoimperialismus, Konsumkapitalismus und den scheinbaren Zerfall alter Autoritäten. Aber auch die Chance der Opposition, zwischen Revolte und Integration, wird diskutiert.
2017 wurden diese Pariser Vorlesungen im zuKlampen-Verlag in deutscher Übersetzung herausgegeben von Peter-Erwin Jansen, Lisa Doppler und Alexander Neupert-Doppler. Freilich nicht aus Nostalgie, welche die größte Feindin der Utopie ist, sondern aus dem Bedürfnis die eigene Situation in ihrem Abstand zu dieser Vergangenheit einzuschätzen. Wie hat sich der Kapitalismus entwickelt? Welche Gelegenheiten findet die Opposition vor?
Lisa Doppler promoviert an der Justus-Liebig-Universität Gießen über Herbert Marcuse und Anknüpfungspunkte für heutige Proteste am Beispiel der Refugeebewegung. Alexander Neupert-Doppler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am IASS in Potsdam. 2013 erschien sein Buch über politische Widrigkeiten (Staatsfetischismus), 2015 und 2018 Bände über Möglichkeiten (Utopie), ein Buch zum Begriff Gelegenheit (Kairós) ist in Arbeit.
Im US-amerikanischen Exil hat Herbert Marcuse von 1942 bis 1951 für den Office of Strategic Services (OSS), den Nachrichtendienst des Kriegsministeriums, gearbeitet. In diesem Rahmen fertigte er einerseits Studien über den Nationalsozialismus an (später erschienen als „Feindanalysen„), nach dem Krieg aber auch über die Sowjetunion und das Denken des Sowjet-Marxismus. Radio Corax hat zwei Gespräche über diese Tätigkeit Marcuses geführt. Im ersten Gespräch mit Dr. Tim B. Müller vom Hamburger Institut für Sozialforschung (der ein Buch über „Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg“ veröffentlicht hat) geht es um die Motivation Marcuses, für den OSS zu arbeiten, um den gesellschaftlich-historischen Kontext, das Verhältnis von Geheimdiensten und Regierung, sowie um die Reaktionen auf Marcuses Tätigkeit für den Geheimdienst.
Herbert Marcuse hat das Denken der Studentenbewegung und der 68er Generation in Deutschland maßgeblich bestimmt und wird sogar manchmal als deren Guru bezeichnet. Seine beiden Werke Triebstruktur und Gesellschaft (1955) und Der eindimensionale Mensch (1964) gehören zu den wichtigsten Büchern der Kritischen Theorie. Um so verblüffender ist es, dass der Held der Außerparlamentarischen Opposition und das geistige Vorbild für radikale Gegner des Kriegs in Vietnam für den US-amerikanischen Geheimdienst gearbeitet hat. Für den Geheimdienst OSS, den Vorgänger der CIA. Wir haben mit dem Historiker Dr. Tim B. Müller vom Hamburger Institut für Sozialforschung gesprochen. Er hat ein Buch geschrieben. „Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg“ heißt das. [via]
Im zweiten Gespräch mit Detlev Claussen (der in der TAZ einen Artikel über die kritische Theorie im Dienst des OSS geschrieben hat) geht es um die Arbeitssituation des Insituts für Sozialforschung im Exil, das wechselseitige Interesse der Intelektuellen des IfS und des OSS, die Faschismus-Analyse(n) von Marcuse und die Vorwürfe der Neuen Linken, Marcuse habe sich als Agent des Imperialismus schuldig gemacht.
Herbert Marcuse, Franz Neumann und Otto Kirchheimer haben als Marxisten im Exil in den USA in den 1940’er Jahren für den amerikanischen Geheimdienst gearbeitet. Die Dokumente dieser Tätigkeit sind nun erstmals auf deutsch erschienen. Wir sprachen mit Detlev Claussen darüber, wie es zu dieser Zusammenarbeit kam, welche Erkenntnisse die drei über den Nationalsozialismus hatten und wie der Vorwurf zu bewerten ist, Marcuse wäre ein Agent des US-Imperialismus gewesen. Zuerst beantwortet er die Frage, wie die Arbeitsbedingungen des Instituts für Sozialforschung im Exil gewesen sind. [via]
Schon 2012 hat Bettina Fellmann (AK Zweifel und Diskurs) ein Essay unter dem Titel Zur Verteidigung der Traurigkeit – über Verwertung und Erfahrung veröffentlicht. Der Text stellt einige philosophische und historische Überlegungen über (Selbst)Entfremdung, Depression, Verhärtung und Vernichtung an und bezieht sich u.a. auf Adorno, Horkheimer, Freud, Alice Miller, Ilse Bindseil und Clemens Nachtmann. Der Text ist aber immer wieder auch eine Reflexion eigener Alltagserfahrungen und versucht beide Ebenen miteinander zu vermitteln. Radio Corax hat das Essay Anfang dieses Jahres in leichter Bearbeitung vertont:
In ihrem Text hat Bettina Fellmann das Pamphlet Der kommende Aufstand des Unsichtbaren Komitees erwähnt. Fellmann zitiert diesen Text ablehnend – allerdings enthält er seinerseits einige Überlegungen zum gesellschaftlichen Phänomen der Depression. Entsprechende Auszüge sind enthalten in einer Weihnachts-Sondersendung von Radio Corax aus dem Jahr 2015. In der Collage-Sendung sind außerdem Auszüge aus dem Text Wir sind nicht depressiv, wir streiken von Franza Ranner enthalten (der Titel des Textes ist ebenfalls ein Zitat des Unsichtbaren Komitees). Darüber hinaus enthält die Sendung einige geschichtsphilosophische Überlegungen zum Katastrophismus. Zuletzt sind enthalten ein prosituationistisches Hörspiel und ein Gleichnis von Franz Jung. Siehe auch hier.
Bereits hier und hier haben wir auf das Buch Grenzsteine – Beiträge zur Kritik der Gewalt (Edition Text und Kritik) hingewiesen. Der darin enthaltene Beitrag der Mitherausgeberin Theodora Becker ist mit dem schlichten Titel Scheitern überschrieben. Der Text verbindet eine Reflexion individuellen Scheiterns mit Überlegungen zum Scheitern der Frauenbewegung – darüber hinaus denkt er über Sexualität und Sexarbeit nach. Ähnlich wie im Text von Bettina Fellmann ist hier die kritische Theorie auf konkrete, eigene Erfahrungen bezogen. Ein Auszug des Textes ist in einer Sondersendung von Radio Corax über das Zweifeln aufgenommen worden:
1. Animal Riots. Zur kritischen Theorie des Mensch-Tier-Verhältnisses
Im Frühling des letzten Jahres fand in Jena eine Veranstaltungsreihe unter dem Titel »Veganismus – mehr als nur Lifestyle?« statt. Im Rahmen dieser Reihe hat Thomas Krüger aus Jena einen Vortrag gehalten, in dem er einige Aspekte des Mensch-Thier-Verhältnisses aus kritisch-theoretischer Perspektive dargestellt hat. Er kritisiert dabei naturalistische Fehlschlüsse sowohl von Verfechtern als auch von Kritikern des Veganismus. Im Zentrum seiner Überlegungen steht dann eine Kritik der Forderung nach Tierrechten, basierend auf einer Kritik des Rechts-Begriffes. Dem Recht stellt er eine Moral-Konzeption gegenüber, in deren Zentrum Leid, Mitleid und Empathie stehen (wobei er sich u.a. auf Adornos Vorlesungen über Probleme der Moralphilosophie bezieht). Am Schluss kritisiert er das postmoderne Denken (und insbesondere das Konzept der Intersektionalität), das er in Hinblick auf eine Kritik des Mensch-Tier-Verhältnisses für nicht tauglich hält.
Der Vortrag „Animal Riots. Zur kritischen Theorie des Mensch-Tier-Verhältnisses“ stellt die moralischen Implikatonen der Idee der Tierbefreiung in den Kontext gesellschaftlicher Vermittlung und politökonomischer Bedingtheit. Inspiriert durch die kritische Gesellschaftstheorie von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer soll gezeigt werden, dass eine materialistische Kritik des Mensch-Tier-Verhältnisses weder rechtlich („Animal Rights“) noch dekonstruktivistisch (Poststrukturalismus/Intersektionalismus) sondern vielmehr moralisch und kategorial ist.
Der Ausgangspunkt, wonach das Wohl dem Leiden, die Freiheit der Gefangenschaft und das Leben dem Tod vorzuziehen ist, soll sich anhand negativer Bestimmungen einer befreiten Gesellschaft nähern, die ihren Horizont nicht auf den Menschen begrenzt, sondern die Leidensfähigkeit der Tiere einschließt.
In diesem Sinne soll auch der populäre „Antispeziesismus“-Begriff problematisiert werden, der die Dimension der Leidensfähigkeit der Tiere (als Bedingung des Glücks) per se ausblendet. Fazit: In der besten aller möglichen Welten werden weder Menschen noch Tiere geschlachtet, geopfert oder ausgebeutet. [via]
Der Referent hat darum gebeten, die Aufnahme der Diskussion (die sehr kontrovers war) nicht zu veröffentlichen. Dafür gibt es eine transkribierte Version der Diskussion, der der Referent einige Kommentare beigefügt hat. Ergänzend und zum Teil korrigierend sei hier auf einen Text von Roger Behrens verwiesen, der einige kluge Gedanken zum Mensch-Tier-Verhältnis enthält. Behrens zitiert darin einen lesenswerten Aufsatz von Hendrik Wallat: »Die Tiere als Hüter der Menschlichkeit«, enthalten in der Ausgabe 32-33/2011 der Zeitschrift für kritische Theorie.
2. Zur Kritik einiger veganer Argumente
Peter Schadt (Gegen_Kultur, Falken Stuttgart) hat im Rahmen der Jenaer Tierbefreiungs-Reihe einen Vortrag zur Kritik des politischen Veganismus gehalten. Da uns diese Aufnahme nicht auffindbar war, dokumentieren wir stattdessen einen Vortrag, den Schadt unter dem Titel »Zur Kritik einiger veganer Argumente« bereits im Februar 2013 bei den Erfurter Falken gehalten hat. Folgende Thesen unterzieht er einer kritischen Prüfung: 1. Vegan essen / Fleisch essen ist natürlich. 2. Vegane Ernährung kann die Welternährungslage verbessern. 3. Vegane Ernährung löst das Problem der Überbevölkerung. 4. Es ist gesünder vegan/vegetarisch zu leben. 5. Menschen sind auch nur Tiere – der Mensch-Tier-Dualismus muss aufgebrochen werden (Kritik des Speziesismus). 6. Tiere werden diskriminiert – stattdessen sollten sie Rechte haben (geht über zur Frage, ob Konsumverhalten innerhalb des Kapitalismus Leid vermindern kann). 7. Direkte Tierbefreiungs-Aktionen und Propaganda der Tat zeigen auf, dass die Verhältnisse veränderbar sind (ALF).
Wenn Menschen sich vegan ernähren, kann dies aus den verschiedenen Gründen passieren. Für die einen ist es die einzig natürliche Ernährungsform; für andere das Wundermittel gegen den Welthunger. Nicht wenige fordern die Gleichheit von Mensch und Tier und sehen den sogenannten „Speziezismus“ in einer Reihe mit gesellschaftlichen Herschaftsverhältnissen wie Rassismus und Sexismus.
Entsprechend ist der Veganismus meist nicht nur eine Art sich zu ernähren, sondern tritt als politisches Programm auf: Gefordert werden Tierrechte, die eine andre Behandlung von Tieren staatlich garantieren sollen. Keine tierischen Produkte zu kaufen wird oft als Hebel gesehen die Produktion von Fleisch und anderer tierischer Produkte und die damit verbundene Verwertung der Tiere für menschliche Zwecke zu beenden.
Der Vortrag wirft einen genaueren Blick auf einige Argumente für den Veganismus und thematisiert die hinter ihnen stehenden Vorstellungen von Recht, Staat, Moral und Ökonomie. Zur Diskussion stellen wollen wir unsere Kritik an einiger politischen Forderungen, moralischen Argumenten und der politischen Praxis der Tierrechtsbewegung. [via]
Download: via AArchiv (mp3; 106.8 MB; 1:56:37 h)
Edit: Der Referent hat uns gebeten, die Erfurter Aufnahme des Vortrags durch eine aktuellere Version zu ersetzen. Diesen Vortrag hat Schadt 2014 in Tübingen gehalten. Eine kurze Inhaltsangabe des Vortrags folgt die Tage.
Der politische Veganismus erlebt eine Blütezeit. Egal ob Welthunger, ökologische Zerstörung oder moralische Verrohung: Im Fleischkonsum erkennt der politische Veganismus je nach Spielart den oder zumindest einen gewichtigen Grund. Im Workshop werden wir uns verschiedenen Thesen des politischen Veganismus stellen und diese einer Prüfung unterziehen. Im Mittelpunkt steht dabei die Leidfähigkeit der Tiere. Ebenfalls geklärt wird, ob
– wirklich weniger Menschen hungern würden, wenn kein Fleisch mehr produziert werden würde?
– und vor allem was die Entscheidung des Konsumenten bewirkt, kein Fleisch mehr zu essen
– sowie die Frage nach dem Unterschied zwischen Mensch und Tier [via]
Hier seien noch einmal zwei Beiträge hervorgehoben, die im letzten Jahr leider etwas in der Seitenspalte untergegangen sind. Beide Beiträge haben sich mit dem Ungeist der Universität auseinandergesetzt.
1. Philosophieren im Stande allgemeiner Unmündigkeit und Bedingungen philosophischen Denkens anlässlich eines Ausflugs in den geisteswissenschaftlichen, akademischen Betrieb
Bettina Fellmann (AK Zweifel und Diskurs) hat am 29.06.2014 im Laidak einen philosophisch-essayistischen Bericht über einen Ausflug an die Akademie vorgetragen. Anhand einiger Erlebnisse in den Fachbereichen der ersten Philosophie-Semester, „Philosophisches Argumentieren“, „Theoretische Philosophie“ und „Praktische Philosophie“ sowie in der Kunstgeschichte, arbeitet sie die Überflüssigkeit, Überlebtheit und zugleich die Funktion der gegenwärtigen akademischen Philosophie heraus, der ein Bezug zur materiellen Wirklichkeit immer mehr abhanden kommt. Davon ausgehend macht sie einige Anmerkungen darüber, was es überhaupt bedeutet, im Angesicht der nicht endenden Katastrophe zu denken. Auf magazinredaktion.tk war der Vortrag folgendermaßen angekündigt:
Was es bedeutet, wenn Geistesmenschen sich zusammenfinden, um von Geistigem zu sprechen, warum nichts Wahres dran sein darf und wie die Wirklichkeit dem Denken nur zur Illustration dient, beleuchtet dieser Vortrag.
Im allgemeinen wird an der Akademie bereits der Gedanke vom richtigen Denken formal erstickt; nicht zu schweigen davon, dass der richtige Gedanke oder das Denken vom Wirklichen keine Erwiderung findet, sondern im Gegenteil rigoros ausgeschlossen wird. Unter diesen Bedingungen erscheint nicht nur der Versuch, das Besondere zur Sprache zu bringen, als zweifelhaft, sondern Sprache überhaupt. An dem Umstand, dass er längst gedacht wurde, erweist sich nicht der Gedanke als falsch, sondern die allgemeinen Mechanismen, die sich durch die Epochen hindurch grundlegend ähneln — im Gewand der jeweiligen Zeit, deren Besonderheit es vor den Allgemeinheiten zu erfassen gilt, die ihren Grund bilden.
Ansatzweise wird eingegangen auf die Unfähigkeit, Zusammengehöriges und Grundverschiedenes im richtigen Verhältnis zueinander wahrzunehmen und adäquat zu beurteilen, auf die Virtualisierung menschlicher Verkehrs- und Ausdrucksformen und nicht zuletzt auf die verheerende Sehnsucht, sowohl durch das Aufgehen im Denken ans Bestehende anschließen, als auch umgekehrt durch den Anschluss ans Bestehende im Denken aufgehen zu können. [via]
Auf Radio Corax war im letzten Jahr ein Feature zu hören, das vom Zustand der hiesigen Universitäten berichtete und eine Kritik des Studierens formulierte. Das Feature basiert auf einem Text des Leipziger AK Gesellschaftskritik und macht dem Akademismus die wissenschaftliche Veredelung des gesellschaftlichen Unglücks zum Vorwurf.
Der AK Gesellschaftskritik verweist außerdem auf den Text „Business as usual. Szenen vom Schauplatz der Entsorgung der Wahrheit durch die pluralistische Geisteswissenschaft“ von Carl G. Bronetto, der hier als PDF gelesen werden kann.
Wir dokumentieren drei Beiträge, die sich auf verschiedene Weise mit dem Verhältnis von utopischem Denken und Gesellschaftskritik auseinandergesetzt haben:
1.) Utopie – Zwischen Bilderverbot und Möglichkeitssinn
Alexander Neupert (Mitglied bei der Initiative zur Förderung gesellschaftskritischer Inhalte und Bildungsreferent bei den Trierer Falken) hat am 18.06.2014 auf Einladung der Erfurter Falken einen wissenschaftlichen Vortrag über Utopien gehalten. Er hat zunächst verschiedene Utopie-Typen kategorisiert und die Beziehung von Marx und Engels zum Frühsozialismus etwas beleuchtet, um dann zentral über „politische Utopien“ zu sprechen, wofür er vor allem einige Thesen von Gustav Landauer dargelegt hat. Ein wichtiger Part seines Vortrags handelte außerdem von der Utopie-Debatte im frühen 20. Jahrhundert, die von einigen kritischen Wissenschaftlern geführt wurde – unter anderem von Ernst Bloch, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Karl Mannheim (er verweist auch auf das Radiogespräch zwischen Bloch und Adorno). Zuletzt klopft er einige aktuelle politische Motive auf ihren utopischen Gehalt ab und gibt einen Vorschlag, wie das Verhältnis von Utopie und Kritik zu fassen wäre.
Linke Utopiedebatten, wie sie in Krisenzeiten aufleben, sind eine Geschichte voller Mißverständnisse. Zunächst gilt es zu unterscheiden, worüber eigentlich zu reden ist: Zukunftsromane? Siedlungspläne? Das Prinzip Hoffnung? Die Unterscheidung von literarischen, frühsozialistischen und politischen Utopien ist daher grundlegend und macht den einführenden Teil dieses Vortrags aus.
Wird Utopie nicht als ausgefeilter Gesellschaftsentwurf verstanden, sondern als utopisches Bewusstsein, so ist die Frage nach dem Verhältnis zu kritischem Bewusstsein zentral. Seit Marx führen radikale Linke gegen Utopie ins Feld, dass nicht subjektive Vorstellungen eines Besseren, sondern die Auseinandersetzung mit den objektiv bestehenden Verhältnissen das Geschäft der Kritik ist.
So betont z.B. Theodor W. Adorno, Utopie stecke “wesentlich in der bestimmten Negation”, also in der Kritik des Bestehenden, da positive Aussagen über das ganz Andere nicht möglich sind. Andererseits nennt er als Aufgabe von Utopie heute, “daß man konkret sagen würde, was bei dem gegenwärtigen Stand der Produktivkräfte der Menschheit möglich wäre”.
Utopisches Bewusstsein im Sinne kritischer Negation zeichnet sich durch sein Verhältnis zur Gegenwart aus: Auch ohne den Aufbauplan einer neuen Gesellschaft bleibt die utopische Intention auf Veränderung wichtig. Gegen das Auspinseln abstrakter Utopien steht die skizzenhafte Konkretion vorhandener Möglichkeiten. Utopien zeigen Optionen auf und dienen der Motivation.
Eine kritische Debatte um Utopie kann also nicht bei entweder Utopieverzicht oder Utopiebegeisterung stehenbleiben, sondern hat zu unterscheiden: Was sind Funktionen utopischer Denkfiguren, die für den Kampf um Emanzipation unverzichtbar sind? Über diese Frage und mögliche Antworten wird an diesem Abend vorgetragen und beraten.
Es spricht Dr. phil. Alexander Neupert. Er lehrte von 2010 bis 2013 politische Philosophie an der Universität Osnabrück und ist seit 2014 Bildungsreferent der Falken in Trier. 2013 erschien sein Buch “Staatsfetischismus”, 2015 folgt der Band “Utopie” im Schmetterlingsverlag. [via]
2.) Utopien und Dystopien in der neueren deutschen Literatur
Das Bildungskollektiv Erfurt hat im Juni und Juli 2014 eine Veranstaltungsreihe über Utopien und Dystopien in aktuellen Kontexten organisiert. Bernd Löffler (BiKo) hat in diesem Rahmen einen Vortrag gehalten, in dem er Utopien und Dystopien in der neueren deutschsprachigen Literatur untersucht hat. Nach einer Einleitung über die Abwesenheit der Utopie und den Trend zum Dystopischen in der Literatur stellt er mehrere utopische bzw. dystopische Romane vor – von Reinhard Jirgl („Nichts von euch auf Erden„), Dietmar Dath („Feldeváye – Roman der letzten Künste„) und Volker Braun („Die Werkzeugmacher„, „Die hellen Haufen„). Bernd Löffler nimmt auch mehrmals Bezug auf das Hegel-Essay von Peter Bürger, das hier dokumentiert ist.
Utopische Literatur gehört seit langem zum Ensemble literarischer Gattungen. Dabei wechselten sich mehrfach utopische und dystopische Ansätze ab. Erinnert sei an »Planet der Habenichtse«, »1984«, »Schöne neue Welt« und viele Beispiele mehr. In letzter Zeit häufen sich im deutschsprachigen Raum jedoch vor allem dystopische Ansätze. Warum dies so ist und welche utopischen Bücher dagegen halten, soll an diesem Abend vorgestellt und diskutiert werden.
Wir dokumentieren die Antrittsvorlesung von Ernst Bloch, die er am 17.11.1961 an der Universität Tübingen gehalten hat. Dort hatte Bloch eine Gastprofessur angenommen, nachdem er in der DDR aus politischen Gründen emeritiert worden war und in die BRD übergesiedelt ist. In der Vorlesung gibt er einerseits einen Überblick über das Vorhaben der Vorlesungsreihe. Andererseits nimmt er die Frage „Kann Hoffnung enttäuscht werden?“ zum Ausgangspunkt, um eine kritische Bestimmung des Begriffs der Hoffnung zu unternehmen – wobei er fundierte, kundige Hoffnung von bloßer Zuversicht oder Schwärmerei unterschieden wissen will. Enttäuschung hingegen ist ein Moment fundierter Hoffnung, indem sie diese mit der Objektivität bekannt und dadurch klug macht. Die Begriffe „konkrete Hoffnung“ und „konkrete Utopie“ korrelieren miteinander in den Ausführungen Blochs.
Vor 50 Jahren erschien Herbert Marcuses »Der eindimensionale Mensch«, ein Text der dem studentischen Protest um 1968 die Stichworte (»Große Weigerung«) lieferte und zu einem der meistgelesenen Bücher jener Zeit avancierte. Nun ist nicht nur bei zu Klampen eine Neuausgabe erschienen, sondern wurde auch mit Hilfe eines Konzerttheaters an den Text erinnert. Aus Anlass der von Thomas Ebermann konzipierten Tournee sprachen Dietmar Dath und Hermann Gremliza mit den Künstlern (neben Ebermann; Robert Stadtlober und Andreas Spechtl) der Inszenierung. Der Text ist in der konkret zu finden, die Audioaufnahme hier.
Vor einem Jahr, als das Gedenken an die damals 75 Jahre zurückliegende »Reichskristallnacht« auch der deutschen Öffentlichkeit ein wenig wichtiger war als der Jahrestag des Mauerfalls, produzierte Sachzwang FM eine sehr hörenswerte Sendung über die Pogrome des November 1938 und über die Struktur des Antisemitismus. Dieses Wochenende, an dem staatstragend die »friedliche Revolution von 1989« und die Wiederherstellung der deutschen Nation gefeiert wird, sind die deutschen NS-Verbrechen im öffentlichen Bewusstsein vermutlich kein, jedenfalls kein großes Thema. Die richtige Zeit also, zwei von Dr. Indoctrinator verlesene, leicht gekürzte Beiträge zu hören (oder selbst zu lesen), deren erster von Rainer Bakonyi stammt und vor allem die Ereignisse in der Art einer Chronik der Verfolgung und Vernichtung der Jüdinnen und Juden schildert. Im zweiten Beitrag widmet sich Rolf Pohl psychoanalytischen Theorien des antisemitischen Wahns. Im Zentrum stehen dabei die Begriffe »pathische Projektion« und »projektive Identifizierung« sowie die Wahrnehmungspsychologie.
Nachdem es in letzter Zeit häufiger (etwa hier) den Versuch einer materialistischen Auseinandersetzung mit dem Tod gegeben hat, organisierte die „Kritische Intervention“ in Halle eine Vortragsreihe über die „Notwendigkeit und Unmöglichkeit über den Tod zu sprechen.“
Oliver Decker sprach dabei über den Körper als Heils- und Handelsgut, Guido Sprügel unternahm eine gesellschaftskritische Betrachtung der Sterbehilfe, Kirsten Achtelik referierte über die Widersprüche der Pränataldiagnostik und zwei Protagonisten der K.I – Malina Schwarz und Morten Lund – erklärten zum Auftakt die Motivation der Veranstaltungsreihe und erinnerten an Auseinandersetzungen mit der Ideologie (und den Ideologen) des Todes (mit Verweisen auf Adorno, Bloch, Sartre, Canetti, Heidegger, Horkheimer, Marcuse,..).
Malina Schwarz/Morten Lund: Nachruf. Über den Tod im Bestehenden
Die Thematisierung des Todes, um den die materialistische Kritik „nie ein großes Gewese“ (Magnus Klaue) gemacht hat, erweckt häufig den Eindruck eines rein intellektuellen Spiels. Im Gegensatz zum Sterben, diesem körperlichen und oftmals schmerzhaften Prozess, scheint es unmöglich den Tod sinnvoll zu fassen: den Tod denkend zu bestimmen, überschreitet die Grenzen des Bestimmbaren. So haben aktuelle Versuche sich dem Thema aus einer kritisch-materialistischen Perspektive zu nähern, nicht zufällig zumeist eine thesenhafte Form.
Doch jede Beschäftigung mit dem Tod einzustellen, Tod und Sterben voneinander getrennt zu betrachten, greift zu kurz. Nicht ohne Grund sprach Adorno von der Abschaffung des Todes als wesentlichem Bestandteil utopischen Denkens, das versucht über das Bestehende hinauszukommen. Notwendig ist zudem eine Kritik am Umgang mit dem Tod, der „bloß noch die absolute Irrelevanz des natürlichen Lebewesens gegenüber dem gesellschaftlich Absoluten“ bestätigt. Den Tod als „Gegebenes“ (Jean-Paul Sartre) darzustellen und zu akzeptieren, bedeutet der „Ideologie der Unparteilichkeit des Todes“ (Max Horkheimer) zuzureden und die materialistische Kritik daran zu vernachlässigen, wohl wissend, dass in der falschen Gesellschaft “selbst die Utopie von der Abschaffung des Todes falsch wird” (Lars Quadfasel).
Im Rahmen der Vortragsreihe „Jeder stirbt für sich allein. Von der Notwendigkeit und Unmöglichkeit über den Tod zu sprechen“ werden Malina Schwarz und Morten Lund referieren und dabei an Auseinandersetzungen mit der Ideologie (und den Ideologen) des Todes erinnern. Sie zeigen unterschiedlichste Formen der Verherrlichung des Todes, die mit Martin Heidegger als deutschen Philosophen nicht rein zufällig den einflussreichsten Apologeten des Todes in der Moderne fand, und deren philosophische Kritik. Darüber hinaus zeigen sie aktuelle Entwicklungen im Umgang mit dem Tod, der “Nichtung aller Möglichkeiten” (Jean-Paul Sartre) auf, die zum einen in einer Ökonomisierung des Sterbens und des Todes zu sehen sind; zum anderen in einer Todessehnsucht. In „einer Welt in der es längst Schlimmeres zu fürchten gibt als den Tod“ (Theodor W. Adorno) bleiben Fragen: Wie ist es in diesen Zuständen um die Hoffnung bestellt, das Leben nicht vom Tod diktieren zu lassen? Wenn die gewalttätige Abkürzung des Lebens, die gerade in den verschiedenen Formen der Todessehnsucht ihren Ausdruck findet, nichts anderes ist, als die Dementierung des Glücksversprechens: Ist die Aufforderung das Ende seines Lebens selbst zu bestimmen, kaum mehr als eine voreilige Versöhnung mit Naturkräften?
Oliver Decker: Ware:Körper. Zur Sozialpsychologie von Markt und Medizin
In der Gesellschaft der Warenproduzenten, geht es auch bei der Gesundheit als Ware um Kapitalbildung. Ein Produkt wird nicht produziert, um sinnliche Bedürfnisse zu befriedigen, sondern um den Kapitalstock zu vermehren. Mit einem Rückgriff auf die Schutzpatrone vieler medizinischer Fakultäten (Cosmas und Damian), zeigt Oliver Decker wie der menschliche Körper direkt in diese ökonomische Logik einbezogen wird. Vorab führte Radio Corax ein Interview mit Decker, der sich unter anderem in seiner Veröffentlichung „Der Warenkörper“ mit dem Verhältnis von kapitalistischer Akkumulation und dem menschlichen Körper beschäftigt.
Die Ökonomisierung erfasst den menschlichen Körper, er wird zur Ware. Am deutlichsten ist das in der modernen Medizin. Sie braucht den Körper als Ressource, ob in der Stammzellforschung oder der Organtransplantation. So wird der menschliche Körper und werden seine Teile zum Handelsgut. Erstaunlicherweise war der Körper im historischen Umbruch zur Moderne schon einmal ein solches: Der ganz Europa erfassende Reliquienhandel machte menschliche Körperteile zum begehrtesten Handelsgut – und zum Heilsgut. Mit dieser Vorgeschichte wird auf einen Schlag sichtbar, dass der Griff nach dem menschlichen Körper keine ökonomische Landnahme ist: Waren-Gesellschaft und moderne Medizin verbindet mehr, als sie an ihrer Oberfläche zu erkennen geben. So wird eine noch weiter zurückreichende „untergründige Geschichte des Körpers“ (Horkheimer/Adorno) frei gelegt. Es ist die Geschichte des Opfers, das zuallerst das Menschenopfer war. Schon dieses war geprägt von der Ersetzungslogik und wie das Menschenopfer sind Markt und Medizin Versöhnungsversuche – die dann wiederholen, was sie abwehren sollen. Von diesem Wiederholungszwang sind weder Markt noch Medizin bis heute frei. Im Rahmen der Vortragsreihe „Jeder stirbt für sich allein. Von der Notwendigkeit und Unmöglichkeit über den Tod zu sprechen“ wird Oliver Decker zur Warenförmigkeit des Körpers und den damit zusammenhängenden Problemen der Organspende und des Organhandels referieren. Dabei kommt dem Thema Tod eine mehrfache Bedeutung zu: Zunächst benötigt die Organtransplantation die Feststellung des Todes, bei der sich vor allem der Hirntod als das Ende des Lebens aus wissenschaftlicher Sicht durchgesetzt hat. Zudem ermöglicht die Verlängerung des Lebens nicht nur eine erweiterte Verwertbarkeit des menschlichen Körpers, sondern verkürzt auf der anderen Seite das Leben anderer, weniger profitabler Körper; Menschen, die auf den Verkauf ihrer Organe angewiesen sind.
Guido Sprügel: Die Einsamkeit der letzten Dinge. Eine gesellschaftskritische Betrachtung der Sterbehilfe
Was es über eine Gesellschaft aussagt, wenn der Tod als Erlösung erscheint, wenn die Zahl der in Anspruch genommenen Sterbehilfe zunimmt, fragt der Journalist Guido Sprügel (Jungle World) und zeichnet mit Hilfe viel empirischen Materials das Bild einer legalisierten Sterbehilfe als bürokratisches Monstrum, dem die Idee des Hospiz gegenübergestellt wird. Auch hier sprach Radio Corax zuvor mit dem Referenten.
„Die Signatur des Zeitalters ist es“, so Adorno „daß kein Mensch, ohne alle Ausnahme […] sein Leben mehr selbst bestimmen kann.“ So scheint die Sehnsucht, wenigstens das Ende seines Lebens selbst frei wählen zu dürfen, ein letztes Residuum menschlicher Autonomie zu sein. Nicht verwunderlich ist es somit, dass über 70% der deutschen Bevölkerung, so legen es die immer wiederkehrenden Umfragen durch Meinungsforschungsinstitute nahe, eine Legalisierung der aktiven Sterbehilfe begrüßen würden. Dass sich in einer kapitalistischen Vergesellschaftung bei einer bestehenden Nachfrage entsprechende marktförmige Angebote finden lassen, scheint ebenso wenig verwunderlich. Wieso aber ist es problematisch, Organisationen wie Dignitas, die gewerbliche Sterbehilfe anbieten, zu legalisieren? Der Vortrag wird das problematische Verhältnis von Freitod und organisierter Sterbehilfe thematisieren und dabei auch die Frage nach Möglichkeiten eines selbstbestimmten Todes „in einer Welt in der es längst Schlimmeres zu fürchten gibt als den Tod“ (Adorno) aufwerfen.
Im Rahmen der Vortragsreihe „Jeder stirbt für sich allein. Von der Notwendigkeit und Unmöglichkeit über den Tod zu sprechen“ berichtet Guido Sprügel, der als freier Journalist unter anderem für die Jungle World schreibt, über die letzte Lebensstation vieler Menschen. Welche Gründe gibt es für den Wunsch nach Sterbehilfe? Und was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn die “Lösung Tod” immer einfacher zu bekommen ist? Dabei sollen auch der gesellschaftliche Umgang mit organisierter Sterbehilfe im europäischen Ausland und dortige gesetzliche Bestimmungen in den Blick genommen werden.
Kirsten Achtelik: Auslese, Perfektionierung und die Last der Entscheidung
Kirsten Achtelik, die zum Thema ein Buch im Verbrecher-Verlag veröffentlichen wird, zeigt die diskriminierenden Implikationen der pränatalen Dignostik auf, die bei Verdacht auf genetisch bedingte Behinderungen an Embryonen in den ersten Tagen ihrer Entwicklung durchgeführt werden. Achtelik problematisiert im Vortrag das Selbstbestimmungskonzepts der Frauenbewegung („Mein Bauch gehört mir“), verweist auf technische und gesetzliche Entwicklungen der Pränataldiagnistik, um dann – mit Hilfe eines geschichtlichen Abrisses zur Eugenik – zu fragen, inwieweit sich hier Kontinuitäten aufzeigen lassen. Einige Einwände finden sich in einem ebenfalls vorab geführten Gespräch.
Dass Fortschritt und Regression sich in technischen Möglichkeiten verschränken, wird mit Blick auf sogenannte Reproduktionstechnologien wie Präimplantations- und Pränataldiagnostik besonders deutlich. In den achtziger Jahren galten sie vielen als Ausdruck kapitalistischer und patriarchaler Herrschaft, wobei auch eugenische Tendenzen und NS-Kontinuitäten kritisiert wurden. Die in den 1970er Jahren legalisierte (und Mitte der 1990er nur auf dem Papier abgeschaffte) embryopathische Indikation zum Schwangerschaftsabbruch erlaubte den Abbruch bei diagnostizierten oder prognostizierten ‚Schädigungen‘ oder ‚Erbkrankheiten‘ des Fötus.
Dabei ist die Entscheidung über eine solche Abtreibung nie eine bloß individuelle, sondern gesellschaftlich vermittelt und bedingt. Die abelistische Gleichsetzung von Behinderung mit Leiden und Schmerzen, die unterstellt dass das Leben der Betroffenen nicht wert sei, gelebt zu werden ist ein weiterhin wirkmächtiges Konstrukt. Diese Techniken befördern, so eine weitere Kritik, zudem die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung.
In gewissen queeren Zusammenhängen werden einige dieser Technologien heute als subversive Mittel für selbstbestimmte Fortpflanzungsentscheidungen jenseits heteronormativer Zwänge und Vorstellungen von Natürlichkeit gerühmt. Einer Kritik an der modernen Biomedizin wird schnell eine regressive Sehnsucht nach vortechnologischer Harmonie unterstellt. Die kürzlich erfolgte Legalisierung der Präimplantationsdiagnostik gilt schließlich vielen als Erweiterung der Selbstbestimmung der Frau.
Kristen Achtelik wird unterschiedlichen Positionen zu Reproduktionstechnologien aufzeigen und für eine Reflektion der Bedeutung gesellschaftlicher Verhältnisse für individuelle Entscheidungen argumentieren. Die politische Förderung der wissenschaftlichen Entwicklung und persönlichen Anwendung von Reproduktionstechnologien entspringt – bereits bei einer historischen Betrachtung – nicht nur dem Wunsch das Individuum von der Schicksalhaftigkeit seiner eigenen Biologie zu befreien, sondern war und ist immer auch eine Form der Bevölkerungspolitik. Bevölkerungspolitische Maßnahmen sind dabei immer auch an die Idee eines gesunden „Volkskörpers“ gebunden, der den Tod der Anderen in der Weise impliziert, dass er zwar nicht, „meine persönliche Sicherheit erhöht; der Tod der Anderen, der Tod der bösen, der niederen (oder degenierten oder anormalen) […]wird das Leben im allgemeinen gesünder machen“ (Foucault).
Eine – auch feministisch motivierte – Kritik an Gen- und Reproduktionstechnologien kann dabei aufzeigen, warum der Gendiskurs momentan so erfolgreich ist und von staatlichen Instanzen gefördert wird und wie Frauen unter einen gesellschaftlichen Druck gesetzt sind, diesen in eine individuelle Entscheidung zu integrieren.
Viel ist immer mal wieder zu lesen über „die Kulturindustrie„. Da geben sich spröde Akademiker, schneidige Lohnschreiber und agile Freizeitagitatoren nichts. Doch wie kommen sie alle dazu anzunehmen, sie könnten – quasi unbeteiligt – über jene Bewußtseinsindustrie schreiben, deren Teil sie alle doch nolens volens sind?
Eine Ersatzhandlung besteht darin, statt über die real existierende Kulturindustrie in philologisch-seminaristischer Tradition über „die Kulturindustriethese“ bzw. „das Kulturindustrie-Kapitel“ zu räsonieren. Man kann über die Geschichte der Kulturindustrie reden, über ihre Inhalte, über ihre Produktionsbedingungen – nur entkommen, das kann man ihr erstmal nicht. Und so kann sie nur ein, wenn nicht der vornehmste Gegenstand immanenter Kritik sein: Es bleibt die Notwendigkeit, zu untersuchen, welche – marktförmigen, also nicht bloß manipulativen – Mechanismen es bewirken, daß sich, allem vordergründigen Pluralismus zum Trotz, in den Köpfen doch wieder jene letztendliche Alternativlosigkeit breit macht, die man nur Ideologie nennen kann. Sachzwang FM verwies, eingeleitet mit diesen Worten, in der aktuellen Sendung auf zwei „eminent gute“ Vorträge (2012, Berlin, Hummelantifa), die einige Thesen zur Transformation der Kulturindustrie aufbereiten.
1. Christoph Hesse: „Kulturindustrie, das sind die anderen“
Mit dem Begriff der Kulturindustrie hat Adorno der Kritik der sogenannten Massenkultur ihren schärfsten Ausdruck gegeben. Und zudem einen, der zielstrebig missverstanden wird: Kulturindustrie, das sind die großen Musikkonzerne und Hollywood, doch ganz sicher nicht die gutgemeinte Bastelei, derer man sich und seinesgleichen rühmt. Im übrigen herrscht Einigkeit darüber, dass, was populär ist, nicht durchaus schlecht sein könne. Adornos Kritik, die heute als überspannt und gleichermaßen überholt erachtet wird, galt nicht zuerst der unverdrossen sich selbst anpreisenden Kultur, sondern einer Gesellschaft, die es samt ihrer Kultur dahin brachte, dass die Menschheit, „anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten“, wie es in der Vorrede zur „Dialektik der Aufklärung“ heißt, in eine neue Art von Barbarei versank. Die törichten Schlager, denen man inzwischen allerlei Qualitäten nachsagt, hätte auch Adorno wohl ziemlich gleichmütig ertragen, wenn er nicht erkannt hätte, was es mit der in Verwaltung übergegangenen Kultur auf sich hat. Dieser Prozess hat längst auch die einstmals autonome Kunst erfasst. Vergeblich daher das scheinbar so leicht zu bewerkstelligende Kunststück, den Geltungsbereich der Kulturindustrie historisch oder geographisch einzugrenzen, um einer erklärtermaßen authentischen Kunst oder Kultur einen Platz draußen im Freien zuzuweisen. Wenn überhaupt, so enthält die Kulturindustrie selbst „das Gegengift ihrer eigenen Lüge. Auf nichts anderes wäre zu ihrer Rettung zu verweisen“ (Adorno).“
2. Magnus Klaue: „Ohne weitere Bestimmung. Über die notwendige Vergangenheit des Glücks“
„Glück bezeichnet weder den bloßen Zufall, der einigen hold ist, während die anderen vergeblich auf ihn warten, noch ein besonderes Verdienst, sondern ein absichtloses Gelingen, das nur der ihrer selbst inne gewordenen Menschheit zufallen kann. Als Glück der Tüchtigen, das am Ende mühseliger Arbeit warten soll, wird es ebenso zur Lüge wie das zum ökonomischen Prinzip geronnene „Pursuit of Happiness“, welches das blinde Konkurrenzprinzip sanktioniert, bei dem jeder mit dem zufrieden sein soll, das für ihn übrigbleibt. Erst recht bezeichnet Glück keinen gesellschaftlichen Zustand, der als Ergebnis rationalistischer Planung entstehen möge. Vielmehr transzendiert es seinem Gehalt nach alle gesellschaftlichen Bestimmungen. Wohl deshalb west es in der totalen Gesellschaft als emotionstechnokratische Kategorie fort: Für das Glück muss man sich zurichten wie für Arbeit und Beziehung, und dabei hilft die zu ihrer eigenen Karikatur gewordene „Philosophie“ in Gestalt hauptamtlicher Reflexionssimulatoren wie Martin Seel und Wilhelm Schmid. Demgegenüber soll in Anlehnung an Adornos „Minima Moralia“ der Begriff des Glücks als Unabgegoltenes in seinem Verhältnis zur Zeit entfaltet werden. Gerade indem er das Geglückte ganz melancholisch stets als Vergangenes denkt, zielt der Begriff des Glücks negativ auf eine erfüllte Gegenwart, welche die Linearität der Zeit, in der alles entsteht, um zu verschwinden, für immer hinter sich gelassen hätte.“
Ein weiterer Beitrag zur Kritik der historischen wie gegenwärtigen Naturverhältnisse, der auf eine Vortragsreihe in Jena verweist, die versuchte Momente einer kritischen Theorie der Naturwissenschaften herauszuarbeiten: Die Veranstalter, die sich die Frage stellten, warum die Naturwissenschaften im Kontext von Debatten, die sich auf das kritische Denken von Horkheimer und Adorno stützen, bisher tendenziell eher als randständig angesehen wurden, zur Motivation der Reihe.
1.) Martin Blumentritt – Zum Begriff der Natur und der Wissenschaft bei Marx
In Erinnerung und mit Bezug auf den 2012 verstorbenen Alfred Schmidt, referiert Martin Blumentritt über die Lehre der Natur bei Marx.
Die Überlegungen der Frankfurter Kritischen Theorie in den frühen 60er Jahren kreisten um einen Materialismus der „zweiten Natur”. Alfred Schmidts Dissertation über die Lehre der Natur bei Karl Marx suchte nicht bloß interpretierend, die Kritische Theorie weiterzuführen. Durch den erneuten Rekurs auf Marx konkretisierte er die Kritik an der auf Engels zurückgehenden Variante der Marx-Interpretation, die zu einer Trennung von historischem und dialektischem Materialismus und der Vorordnung eines naturalistisch-ontologischen Materialismus vor dem historischen führte. Die alten Materialisten hätten in der Sache, nicht in der Form, recht gehabt, die die Stärke des Idealismus war:
„Es gibt in der idealistischen Philosophie Fragestellungen, die mit der idealistischen Form, in der sie vorgetragen werden, nicht abgetan sind. Der deutsche Idealismus von Kant bis Hegel, an den Marx bewußt angeknüpft hat, zeigt, daß die uns umgebende Welt keine bloß an sich seiende, sondern ebensosehr eine für und durch uns seiende Realität ist. Freilich hat der Idealismus diese Abhängigkeit des Objektiven vom Subjektiven, indem er sie aussprach zugleich mystifiziert, und zwar deshalb, weil er die subjektive Konstitution dessen, was wir Erfahrungs- und Dingwelt nennen radikal entstofflichte und dadurch die Sache verdunkelte.”[1]
Mit dem Begriff der „gegenständlichen Tätigkeit” hielt Schmidt die Vermitteltheit des unmittelbar Vorfindlichen gegen die idealistischen Formen fest und arbeitete eine Alternative zu Engels ontologischer Naturdialektik heraus, wodurch der erkenntnistheoretischen Abhängigkeit der Objektwelt und ontologischen Unabhängigkeit gleichermaßen Rechnung getragen wird. Aus der Perspektive von Kants negativer Metaphysik und Hegels Produktionslogik diskutierte Schmidt das Verhältnis erster und zweiter Natur mittels der Interpretation der marxschen Texte in Hinsicht auf ihr Naturverhältnis. [via]
2.) Jörg Huber – Subjektive und objektive Momente physikalischer Erkenntnis
Huber spricht über den naiven Glaube an die absolute Objektivität der Naturwissenschaften. Denn: Naturwissenschaften können gar keine völlig objektive Beschreibung der Natur liefern, da ihre Erkenntnisformen historischen Ursprungs sind. Huber fragt, inwieweit Reformulierungen von gesellschaftlichen Veränderungen abhängen.
Ihre naturwissenschaftliche Grundlagenforschung stellen Wissenschaftler gerne als Selbstzweck dar, den sie aus reiner Neugierde verfolgen würden. Sie möchten Gesetze finden, denen die Natur folgt, und damit zur Akkumulation menschlichen Wissens beitragen. Ihr gemeinsames höchstes Ziel ist die lückenlose Erklärung der ganzen Welt durch solche Gesetze. Die Gesellschaft soll die Mittel für diese Forschung bereitstellen, die Wissenschaftler fühlen sich aber im Zweifelsfall nicht dafür verantwortlich, wie ihre Erkenntnisse genutzt werden. Die Gesellschaft soll also auch die Verantwortung für den Gebrauch ihrer Resultate übernehmen. Wie aber können dann diese Resultate ganz unabhängig von der Gesellschaft sein und die Natur einfach so erklären, wie sie an sich ist? Der naive Glaube an die absolute Objektivität der Naturwissenschaften liefert eine bequeme Rechtfertigung für wissenschaftliche Verantwortungslosigkeit, die scientific community erteilt ihrem insgesamt blinden Treiben damit selbst die Absolution. Demgegenüber skeptische Positionen erschöpfen sich häufig darin, inhumane technische Anwendungen naturwissenschaftlichen Wissens auf ethische Mängel zurückzuführen.
Der eigentümliche Status des Wissens, das die naturwissenschaftliche Grundlagenforschung liefert, lässt sich aber nur ernsthaft kritisieren, wenn der unüberbrückbare epistemologische Spalt zwischen der Natur und unserer Vorstellungen von ihr nicht unterschlagen wird. Die Naturwissenschaften können gar keine völlig objektive Beschreibung der Natur liefern, da ihre Erkenntnisformen historischen Ursprungs sind. Naturwissenschaftliche Theorien als Funktionsweise oder gar als Schöpfungscode der Natur auszugeben, erweist sich als ideologischer Abdruck gesellschaftlicher Verhältnisse. Um dieser Erscheinung von Ideologie auf die Spur zu kommen, wird sich der Vortrag anhand bekannter Beispiele erkenntniskritisch mit dem Verhältnis naturwissenschaftlicher Theorie zu ihrem spezifischen Gegenstand befassen. Die theoretische Entwicklung der Himmelsmechanik zeigt die enormen Wandlungen auf dem Weg zur ersten allgemeingültigen physikalischen Theorie, deren Gegenstand, die Ordnung der Himmelskörper, dabei gegenüber irdischen Maßstäben starr geblieben ist. Aus der Himmelsmechanik entstand dann die heutige theoretische Mechanik, die noch mehrfach reformuliert wurde, obwohl keine grundsätzlichen Probleme bei ihren bekannten mechanischen Experimenten aufgetreten waren. Daher liegt die Frage nahe, inwieweit solche Reformulierungen von gesellschaftlichen Veränderungen abhängen. Der enorme Erfolg der Relativitätstheorie degradierte die klassische Mechanik dann zum wichtigsten Spezialfall allgemeingültigerer Gesetze. Und die Kantische Vorstellung, dass Raum und Zeit bloße Formen unserer Anschauung seien, geriet ins Wanken. [via]
Da der Mitschnitt leider abrupt abbricht, hat Jörg Huber für das Audioarchiv die nicht aufgezeichneten Momente des Vortrags und Teile der Diskussion nachträglich eingesprochen.
3.) Prof. Dr. Gerhard Stapelfeldt – Der Begriff der Natur in der Epoche des Liberalismus
Stapelfeldt untersucht den Begriff – die Begriffe – der Natur in der Epoche des Liberalismus (um 1765-1870), der bürgerlichen Aufklärung, der bürgerlichen Revolutionen.
Der Vortrag untersucht den Begriff – die Begriffe – der Natur in der Epoche des Liberalismus (um 1765-1870), der bürgerlichen Aufklärung, der bürgerlichen Revolutionen.
‚Natur’ scheint ein ganz einfacher Begriff, der einen selbstverständlichen Gegenstand bestimmt. Man denkt an Gesteine, an Pflanzen, an Tiere, an die körperlicher Natur des Menschen, an Naturgesetze, an Naturwissenschaften, an Naturschutz. Aber dann wird es doch schwierig: Gibt es eine ‚Natur der Sache’, eine Natur des Menschen, eine Natur der Gesellschaft? Was ist ‚natürlich’? Schon der antike Naturbegriff ist heute kaum nachvollziehbar: Natur als göttliche, subjektive, mit moralischen Qualitäten ausgestattete Natur. In der Neuzeit hat Galilei, nach seinem Selbstverständnis, im „Buch der Natur“ gelesen. Im Liberalismus wird es mit dem Begriff – den Begriffen – der Natur in der Philosophie, der Sozial- und Naturwissenschaft ganz kompliziert: Vico unterscheidet die „Welt der Natur“ von der „gesellschaftlichen Welt“; Kant spricht von einer „sinnlichen“ und von einer unbewußten „übersinnlichen (zweiten) Natur“, Smith von der „Natur des Reichtums der Nationen“, Darwin von einer Naturgeschichte; Comte stellt der Wissenschaft der Biologie die Wissenschaft von der Gesellschaft (Soziologie) zur Seite und bezeichnet beide als „Physik“ – als Naturwissenschaften. Diese Begriffe, ihr Zusammenhang, ihre gesellschaftsgeschichtliche Grundlage sind zu klären.