Im vorerst letzten Teil der 1968er-Reihe dokumentieren wir Gespräche, die nicht recht in die bisherigen Kategorien einzuordnen waren.
1.) 1968 – Reflexion einer Niederlage?
Schon 2017 führten Radio Corax und FSKein Gespräch mit Roger Behrens (u.a. Testcard), Karl-Heinz Dellwo (Laika Verlag) und Thomas Seibert (Institut Solidarische Moderne) über 1968, wobei alle drei Gesprächspartner nach 1968 politisch aktiv geworden sind: Roger Behrens im Kontext maoistisch-syndikalistischer Gruppen, Kar-Heinz Dellwo in der zweiten Generation der RAF, Thomas Seibert in den Reihen der Autonomen. Es geht im Gespräch um die Dialektik von Erfolg und Niederlage im Bezug auf 1968.
2.) Über ein nachvollziehbares, aber harmloses Begehren
Gängigerweise wird 1968 als Kulturrevolution gedeutet – die Corax-Sendereihe über 1968 hat diese Verengung eher verweigert, stattdessen ging es um poli-ökonomische Bedingungen, globale Verhältnisse und (gebrochene) Traditionslinien des Widerstands. Im Gespräch mit Roger Behrens war der kulturelle Aspekt dennoch ein Thema. Es geht um Pop-, Sub-, Jugend- und Gegenkultur; neue Körperlichkeit; Massenkultur und Kulturindustrie; 1968 als Zäsur der Popkultur; das Affirmative in der Kultur …
2018 ist bei Suhrkamp Insel das Buch „Konsum und Gewalt – Radikaler Protest in der Bundesrepublik“ von Alexander Sedlmair erschienen (eine deutsche Übersetzung des 2014 ursprünglich auf englisch erschienen Buches). Darin geht er insbesondere auf die Konsumkritik ein, die von 1968 ausgehend in der linken Bewegung immer wieder formuliert wurde und inwiefern dort Konsumtions- und Produktionsverhältnisse zusammen gedacht wurden (er spricht in diesem Zusammenhang von „Versorgungsregimen“). Mit diesem Fokus geht er auf verschiedene Stränge der Bewegung ein: Die Kaufhausbrände, aus denen heraus die 1. Generation der RAF entstand; Antispringer-Kampagne, Friedensbewegung und Autonome; Proteste gegen Fahrpreiserhöhungen, Hausbesetzerbewegung, etc. Im Interview geht es um die Motivation, dieses Buch zu schreiben und einzelne inhaltliche Aspekte.
Im Mai 2018 ist im Mandelbaum-Verlag ein Buch von Peter Cardorff erschienen: „Der Widerspruch – 49 Arten, 68 ein Loblied zu singen„. In 49 Aphorismen arbeitet Cardorff Aspekte von 1968 durch. Der „Widerspruch“ hat dabei mehrere Bedeutungen: Es geht darum, in Widerspruch zu gängigen Erzählungen über 1968 zu gehen; Widersprüche von 1968 selbst herauszuarbeiten; 1968 als einen Wdierspruch zum Bestehenden zu begreifen. Im Gespräch geht es um die Motivation, das Buch zu schreiben und einzelne inhaltliche Aspekte – u.a. die Rolle des Trotzkismus in der 68er-Bewegung (der Autor bewegte sich selbst in trotzkistischen Zusammenhängen). Diskutiert wird auch der Stellenwert des linken Antisemitismus im Zuge von 1968ff. Im Gespräch wird auf ein Interview mit Wolfgang Seidel und auf ein Kursbuch-Gespräch zwischen Semmler, Dutschke, Rabehl und Enzensberger Bezug genommen.
Mit dem 5. Beitrag haben wir die Dokumentation der 1968er-Reihe von Radio Corax abgeschlossen. Wir werden in der kommenden Zeit weitere Beiträge zum Thema posten: Die Dokumentation der Vortragsreihe „Das unmögliche Verlangen“ in Halle (Saale), den 7. Teil der Reihe „Kunst, Spektakel & Revolution“ unter dem Motto „Das Leben ändern, die Welt verändern!„, Ausgaben der Sendereihe Sachzwang FM. Zum Weiterlesen an dieser Stelle ein paar (linksradikale) Literaturtips:
In der Wutpilger-Ausgabe für Oktober 2018 wird ein Stand kommunistischer Debatte zusammengetragen. Was bedeutet Kommunismus? Welche Schritte führen zu ihm? Wie gehen Kommunistinnen mit dem Erbe kommunistischer Geschichte um? Wo stehen Kommunisten heute?
In vielen Ausgaben der Sendereihe „Wutpilger-Streifzüge“ habe ich mich mit der Geschichte der Arbeiterbewegung beschäftigt. Dass es dabei um eine Sympathie mit der Sache des Kommunismus geht ist unausgesprochen klar. Aber was denken Kommunistinnen heute, was wollen sie, welche Vorstellung haben sie von Kommunismus? Diesen Fragen bin ich in der aktuellen Ausgabe nachgegangen – und habe dafür einige meiner kommunistischen Freunde befragt. (via)
Die Wutpilger-Ausgabe für August 2019 beschäftigt sich mit dem Sinn und Zweck von Geschichtsarbeit. Es sprechen wahlverwandte und eigene GenossInnen über Geschichte in einem materialistischen, feministischen und kritisch-theoretischen Verständnis.
Immer wieder findet im Rahmen der Sendereihe „Wutpilger-Streifzüge“ eine Auseinandersetzung mit Geschichte statt – insbesondere mit einem Fokus auf die Geschichte der Arbeiterbewegung. In dieser Ausgabe der Sendereihe „Wutpilger-Streifzüge“ wird den Fragen nachgegangen, welchen Sinn eine Auseinandersetzung mit Geschichte überhaupt macht, welche Motivation und welche Interessen hinter dem Drang zu historischer Auseinandersetzung stehen, warum ein einfach lineares Geschichtsbild abzulehnen ist… Im Feature sind zu hören: Marlene Pardeller, Lilli Helmbold und Julian Kuppe. (via)
Eine Ausgabe der Sendereihe Wutpilger-Streifzüge vertont den Text „Die Helden sind leise“ von Ivan Tuw. In der Sendung ist der erste Teil des Textes mit dem Titel „Heroische Jammerlappen“ zu hören: Es geht um die ostdeutsche Misere, um die Nachwirkungen der DDR, die Verklärung der „Wende“, Wohlfühlzonen in Leipzig, die letzten radikalen Autonomen und die Fluchtbewegung ins Fußballstadion. Neben einigen Film-Samples, Punksongs und dem Auszug einer Rede von Alexander Gauland ist auch ein Fetzen aus einem Interview mit Bodo Mrozek beigefügt.
Selten genug beschäftigen wir uns mit der Zukunft …
„Nichts mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“ ( Sprichwort )
Während die ganz Sedierten und schon immer Abgeklärten ohnehin nie grundsätzliches Beklemmen in dem, was sie umgibt, gespürt haben und höchstens partikulare, fein geschiedene „Mißstände“ aufzuzählen vermögen, haben sich die nicht enden wollenden „Proteste“ diverser sogenannter Bewegungen, die meisten kurzatmig und kurzlebig genug, auf solche Mißstände eingeschossen. Mißstände und „Auswüchse“, denn davon, daß auch aus Gutem Böses ent-wachsen kann, aus Marktwirtschaft Gier beispielsweise, aus Konkurrenz Ungerechtigkeit, oder aus guter Wirtschaft schlechtes Klima, davon sind sie – Großes Kino lehrt nichts anderes, denn Drama und tragedy sind abendfüllend – zutiefst überzeugt. Das Ganze jedoch kann nicht falsch eingerichtet sein.
Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Man will partout nicht sehen, daß bereits der Reim, den man sich auf die Wirklichkeit macht, nicht reimt.
Und das beginnt schon bei „der Gesellschaft“ als bereits verdinglichtem Denkbegriff – als sei diese etwas, das man tatsächlich von außen betrachten, es bewältigen und über es verfügen könne. Längst sind sogar die, welche noch einen Begriff vom Besseren haben und somit von der Notwendigkeit einer Änderung hatten, konservativ geworden. Konservieren wollen sie Demokratie und Menschenrechte (gegen die Populisten), die Natur (gegen ihre Zerstörung), das Internet (gegen Überwachung und hate speech) und das Klima (gegen seinen Wandel). Sie wollen eine Welt ohne Auswüchse, Mißstände und Machenschaften.
Dabei ist doch die ureigenste und keineswegs originelle Erfahrung, die jeder tagtäglich macht, daß die angeblichen Auswüchse, Mißstände und Machenschaften mit eherner Notwendigkeit immer und immer wieder stattfinden. Daraus kann man zweierlei schließen: Entweder hat es verhungernde Kinder und folternde Beamte, ertrinkende Flüchtlinge und erniedrigte Frauen, korrupte Politiker und eigensinnige Geschäftsleute, Tierquälerei und kriegführende Staaten schon immer gegeben und jedes Ansinnen, dies zu ändern, ist naiv und zum Scheitern verurteilt – oder dies alles ist einer Welt gemäß, die doch mal grundsätzlicher infrage zu stellen wäre, Nichts anderem haben sich die Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft verschrieben. 2018 veröffentlichten sie ihr Traktat „Umrisse der Weltcommune“ (ca. 100 Minuten).
Vorher (ca. 20 Minuten) eine Art Bestandsaufnahme der Gruppe Eiszeit: „Auf dem Weg nach Nirgendwo. Das Ende des Fortschritts und die Aktualität einer staaten- und klassenlosen Welt“. Beide Beiträge datieren aus dem Jahr 2018.
„Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit“ ( Tocotronic, 1995 )
„Was die Lohnabhängigen nicht mehr aufrechterhalten, können auch Panzer nicht retten.“ ( Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft, 2018 )
Mit dem historischen Kommunismus wird oft Säuberung und Gehirnwäsche assoziiert. Während autoritäres Gebaren und das Eliminieren von Menschen aus Gremien oder sogar dem gesellschaftlichen Leben („Säuberung“) tatsächlich durchweg abzulehnen sind, bedarf das vom Vorurteil freie Räsonieren und Abwägen neuer Ideen jenes sprichwörtlichen klaren Kopfes. Jede Philosophie, die den Namen verdient, lebt davon. Die alten Gedanken, Ideen und Verfahrensweisen müssen daher nicht „weggewaschen“ werden, sie gehören allerdings am Maßstab der Vernunft und Humanität relativiert. Und letztendlich historisiert, ins Museum.
„Wir erheben keinen Anspruch auf Originalität. Anstatt neue »Ansätze«, »Paradigmen« oder »Theorieschulen« auszurufen, versuchen wir lieber, mit dem Gedankenreichtum aus circa zwei Jahrhunderten […] etwas anzufangen; fast alles ist längst gesagt, wir sagen es in der heutigen Situation nur ein bißchen anders.“ ( Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft ) [via]
In der Zwischenzeit ist als Flugschrift der Edition Nautilus der Text „Klasse – Krise – Weltcommune“ erschienen – offensichtlich eine Erweiterung des ursprünglichen Weltcommune-Textes.
Unter dem Titel Can’t take my eyes off you hat der Leipziger AK Unbehagen im Mai 2019 einen temporären Denk-, Experimentier- und Ausstellungsraum eröffnet. Im Rahmen dessen fanden auch mehrere Veranstaltungen statt, die wir im Folgenden dokumentieren. Es geht weitestgehend um die Stellung der Utopie innerhalb gesellschaftskritischen Denkens. Zur Ausstellung und zur Veranstaltungsreihe siehe auch das Interview des Transit-Magazins mit dem AK-Unbehagen.
Was wäre in der Utopie anders? Was steht der Utopie im Weg? Und wo sehen wir in der Gegenwart, in unserem Leben Utopisches?
Diese und weitere Fragen haben wir uns und Menschen, die uns nahe stehen, in den letzten Monaten gestellt. Im Mai 2019 eröffnen wir einen Denk-, Experimentier- und Ausstellungsraum, in dem wir unsere Auseinandersetzung sichtbar machen und zu utopischem Denken einladen wollen.
Im Verlauf unserer Auseinandersetzung haben wir Briefe an Menschen verschickt, deren Gedanken und Haltungen uns wichtig sind. Aus den Antworten, die wir bekommen haben, haben wir ein fiktives Gespräch geschrieben, das in Form einer Audioinstallation hörbar sein wird.
Für das Veranstaltungsprogramm haben wir Freund*innen und Genoss*innen eingeladen, ihre Überlegungen mit uns zu teilen und mit uns in den Austausch zu treten.
In dieser Reihe wollen wir Debatten darüber anstoßen, welche Formen von Arbeit, Beziehungen und Subjektivität wir uns wünschen. Wir möchten mit euch über die gegebenen Verhältnisse hinaus denken und über die Vorstellungen und Bedingungen von einem guten Leben diskutieren.
[Edit (28.03.2020): Ein ausführliches Gespräch mit zwei Mitgliedern des AK Unbehagens, über die Aktivitäten des AK’s und die Auseinandersetzungen im Rahmen der dokumentierten Reihe findet sich hier.]
1.) …und für wen das alles? – das Subjekt und die Utopie
In einer Lesung hat der AK Unbehagen einige Überlegungen vorgestellt, die der Ausstellung und der Veranstaltungsreihe vorangegangen sind. Es geht dabei insbesondere um das Subjekt der Utopie: Ausgangspunkt ist bürgerliche Subjektivität, die ihre eigenen Voraussetzungen abspalten muss. Mit Überlegungen zur Psychanalyse, weiblicher Subjektivität, Arbeit, Alltag, Bedürfnissen, Bedürftigkeit, Körperlicheit, linke Gruppen und (Liebes)Beziehungen kreist die Lesung um die Aufhebung bürgerlicher Subjektivität, hin zu einer Gesellschaft glücklicher Subjekte, zur Vorstellung einer ganz anderen Gesellschaft. Dabei geht es auch immer wieder um Geschlechterverhältnisse. (Die Tonqualität dieser Aufnahme ist nicht sonderlich gut – die anderen Mitschnitte sind deutlich besser.)
Wenn wir versuchen utopisch zu denken, sind wir immer darauf zurückgeworfen, uns zu fragen, wer oder was da eigentlich denkt. Was für ein Subjekt ist das und welche Zurichtung erfährt es? Wo weisen unsere Vorstellungen von einer glücklichen und befreiten Gesellschaft in ihrer Negation auf gegenwärtige Verhältnisse hin, über die hinaus wir gar nicht denken können, weil uns die Sprache dafür fehlt?
Wir möchten in unserer Lesung Aspekte diskutieren, die das Subjekt mit der Utopie verbinden und unser Begehren nach dem wirklich Besseren ausdrücken. Welche Rolle spielt Mangel in der Subjektkonstitution und kann das Glück im Kleinen ein Stück Zukunft im Hier und Heute bedeuten? Wie soll sich alles zum guten Leben für alle ändern oder wie sollen sich alle ändern? Und an welchen Utopie-Entwürfen können wir uns abarbeiten?
In einer Lesung haben zwei Redaktionsmitglieder der Zeitschrift Outside the Box Texte aus der 7. Ausgabe der Zeitschrift zum Thema Erfahrung vorgestellt (zur Ausgabe siehe auch: Interview von Radio Corax; Interview des Konkret-Magazins). Die Redakteurinnen lesen zu folgenden Themen: Ein Erfahrungsbericht von gegenwärtigen feministischen Kämpfen in Buenos Aires; ein Gespräch über gewerkschaftliche Frauengruppen in der BRD der 70er-Jahre; ein Gespräch mit Frigga Haugg u.a. über deren (4 in 1)-Perspektive (siehe auch das Interview mit Haugg zum Thema hier); ein Text über Verena Stefan und deren Roman „Häutungen“; ein Text über die Zeitschrift „Die Schwarze Botin“ (siehe auch das Interview zum Thema hier, siehe auch den Kurztext hier); das Editorial zum Verhältnis von Erkenntnis und Erfahrung; ein Gedicht (Überraschung). Die Aufnahme setzte kurz nach Beginn der Lesung ein.
»Wir erfahren den Gegensatz zwischen dem, was sein könnte, und dem, was ist.«
— Preview-Lesung über das Utopische in der ERFAHRUNG (Ausgabe #7) der Outside the Box. Zeitschrift für feministische Gesellschaftskritik
Erfahrung – ist das, als unmittelbar Gegenwärtiges und Alltägliches, nicht das Gegenteil von Utopie? Zwei Redakteurinnen der outside the box – Zeitschrift für feministische Gesellschaftskritik hoffen, bei ihrer allerersten Lesung aus der Ausgabe #7, die jeden Moment erscheinen wird, Antworten auf diese und alle darin enthaltenen Fragen zu finden – ob Erfahrung so unmittelbar überhaupt ist, zum Beispiel – oder, falls das nicht gelingen sollte, zumindest ein paar neue Fragen aufzuwerfen. Eine (utopische?) ERFAHRUNG, die man sich nicht entgehen lassen sollte!
Zur Utopie und ihrer Rolle für die Emanzipation. In ihrem Vortrag gehen Max und Jakob von der Translib Leipzig näher auf eine begriffliche Bestimmung des Verhältnisses von Utopie und Gesellschaftskritik ein. Zunächst charakterisiert Max das utopische Denken seit Thomas Morus, geht auf die Kritik des Utopismus von Friedrich Engels ein, verharrt kurz bei Ernst Bloch, um dann die Argumentation für ein Bilderverbot mit Adorno und Horkheimer zusammenzufassen. Er geht dann mit Hans-Jürgen Krahl auf das Verhältnis von objektiven und subjektiven Bedingungen einer kommunistischen Befreiung ein, das für den Stellenwert der Utopie entscheidend ist. Daran knüpft Jakob im zweiten Vortragsteil an. Er untersucht das Verhältnis von bestimmter Negation und positivem Gegenentwurf; rekonstruiert, wie durch die Tendenzen des Ökonimusmus und Determinismus im marxistischen Denken die Differenz von Bestehendem und zu erreichendem Zustand verwischt wurde und benennt Kriterien für eine befreite Gesellschaft. Insbesondere der zweite Teil des Vortrags knüpft an die Diskussionen der Klassenlossen und Hannes Giessler-Furlan sowie an die Reihe Where is an alternative? an. (Edit: Aus dem Vortrag ist ein Text entstanden, der mittlerweile hier nachgelesen werden kann.)
Emanzipatorische Bewegung zeichnet sich durch den Willen der Veränderung des herrschenden Zustandes aus. Die Kritik am Bestehenden, von der sie ausgeht, enthält immer schon ihre logische Gegenseite – so abstrakt sie auch sein mag – der Gedanke eines Anderen, Besseren. Die Diskussion darum, ob und – wenn ja – wie dieses bestimmt werden kann, ist daher in der Linken immer geführt worden: von der Kritik des »wissenschaftlichen Sozialismus« am »utopischen« Frühsozialismus zum sozialdemokratischen »Zukunftsstaat«, vom Rätekommunismus bis zu gegenwärtigen Ideen eines »Marktsozialismus« – die Bedeutung der Utopie als der Gestalt, in der das Bessere als Ganzes auftritt, für das Denken und die Praxis der Emanzipation spiegelt sich in der Bedeutung, die ihr in verschiedenen, mitunter verfeindeten linken Strömungen zugesprochen wird. Gemeinhin sind jedoch eine fundamentale Umwälzung der Produktionsverhältnisse beinhaltende Utopien heute weitestgehend diskreditiert.
Die Reflexion auf das bisherige Scheitern der revolutionären Linken zeigt aber auch, dass diese entweder alles in Schutt legen wollte, in der Behauptung des Besseren dem Schlechteren womöglich näher kam, oder dem Besseren unter Verweis auf die Unmöglichkeit es zu denken entsagte, um sich doch noch im Bestehenden einzurichten. Allen geht das Denken konkreter kommunistischer Forderungen ab. Dass es mit dem Verweis auf die Vergesellschaftung der Produktionsmittel nicht getan ist, weil keiner sagen kann, was sie mehr meint als die Negation des Privateigentums, hat Karl Korsch bereits vor mehr als hundert Jahren festgestellt.
Dies verweist uns heute auf die drängende Frage nach konkreter Utopie. Was ist sie und wie müsste sie gedacht werden, wenn sie nicht hinter berechtigter Kritik an abstraktem Utopismus zurückfallen soll? Wie kann sie vermeiden, bestehendes Elend gedanklich bloß zu verlängern? Wie kann sie konkretes Fordern ohne bloß Soziareformismus zu sein?
In unserem Vortrag wollen wir uns zunächst dem Begriff der Utopie unter Reflexion des Vorwurfs des Utopismus und des Bilderverbots annähern und ihn historisch verorten. Hier sollen auch die Debatten innerhalb der Arbeiterinnenbewegung und revolutionären Linken beleuchtet werden. Auf Basis dieser Reflexionen möchten wir moderne konkrete Utopien vorstellen, um dann mit euch ins Gespräch zu kommen.
4.) Utopische Forderungen an Mutterschaft / Elternschaft
Auf dem Podium wurde die Frage diskutiert, inwiefern es utopische Bilder von Mutterschaft gibt und in welchem Verhältnis feministische Ansprüche an eine (emanzipierte) Mutterschaft und reale Verhältnisse von Müttern stehen. Neben persönlichen Erfahrungen werden auch psychoanalytische und historische Perspektiven diskutiert. Zentral ist die (reproduktive) Arbeitsteilung. Am Ende werden einige Forderungen im Bezug auf Mutterschaft vorgetragen. An der Diskussion waren beteiligt: Anke Stelling (Schriftstellerin, u.a. Fürsorge und Schäfchen im Trockenen), Maya Dolderer (Mitherausgebering des Sammelbandes Oh Mother, Where Art Thou?) sowie Lisa und Saša (beide vom Feministischen MÜTTER*-Stammtisch Süd, Leipzig).
In der gegenwärtigen Gesellschaft erscheinen Fürsorge, die fundamentale Bezogenheit aufeinander und Abhängigkeiten – kurz alles, was mit Mütterlichkeit assoziiert ist – systematisch abgewertet. Dies spiegelt sich nicht nur in konkreten Erfahrungen von Müttern, sondern weiterhin in den prekären Arbeitsbedingungen im Care-Sektor oder den miserablen Zuständen in Pflegeeinrichtungen wider. Auch die feministische Auseinandersetzung mit Mutterschaft verläuft notgedrungen ambivalent.
Wir möchten nach einer Kritik an gegenwärtigen Bedingungen von Mutterschaft suchen, die nicht bei der Aushandlung von Aufgaben oder beim Entwurf der „neuen Mutterideale“ endet. Wir möchten danach fragen, was mit einer Gesellschaft und ihren Beziehungen passiert, wenn eine grundlegende Abhängigkeit nicht mehr geleugnet werden muss.
In dieser Podiumsdiskussion möchten wir deshalb aus psychoanalytischer, materialistischer und literaturwissenschaftlicher Perspektive nach Ansatzpunkten für ein utopisches Denken von Mutterschaft und Elternschaft suchen. Gleichzeitig soll hierbei auch immer wieder auf Grenzen verwiesen werden, die sich aus einer feministisch-materialistischen Betrachtung stellen. Auch die eigene Erfahrung der Gegenwart soll dabei in den Blick genommen und explizit verhandelt werden.
Wir stellen uns unter anderem diese Fragen: Wie kann Mutterschaft in feministischer Kritik und emanzipatorischen Entwürfen mitgedacht werden? Neben solidarischen Konzepten und neuen Familienmodellen – welche fruchtbaren Punkte bietet eine feministische Auseinandersetzung mit Mutterschaft? Wie sehen unsere utopischen Forderungen an Mutterschaft und Elternschaft aus und auf welchen Mangel verweisen sie in der Gegenwart?
Es werden sprechen: Anke Stelling, Autorin aus Berlin. Maya Dolderer, Mitherausgebering des Sammelbandes Oh Mother, Where Art Thou?. Lisa und Saša vom Feministischen MÜTTER*- Stammtisch Süd (Leipzig)
Im vierten Teil unserer Beitrags-Serie über 1968 fokussieren wir auf das, was nach 1968 geschah. Überhaupt scheint eine Fokussierung auf das eine Jahr 1968 eine fragwürdige Verengung zu sein. Nicht nur, dass wichtige Gruppierungen der Neuen Linken schon Ende der 50er-Jahre entstanden waren. Für die Bewegung entscheidende Ereignisse fanden im Jahr 1967 statt: Beginn der Anti-Springer-Kampagne, Antischah-Protest, Erschießung Benno Ohnesorgs… Wer das Interesse an der Rekonstruktion eines Beweguns-Zyklus‘ hat, dessen Blick wird auch auf das Jahr 1969 und darüber hinaus gelenkt… Wir versammeln hier Beiträge über die Zeit nach 1968, die jedoch immer wieder auch auf 1968 Bezug nehmen.
1.) Das Sozialistische Büro und die Gründung einer Rätepartei
Im April 1968 legten Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Thorwald Proll und Horst Söhnlein einen Brand in einem Frankfurter Kaufhaus. Die Täter wurden gefasst – die anschließende Befreiung von Andreas Baader mit Hilfe von Ulrike Meinhoff im Jahr 1970 war die Geburtsstunde der RAF. Die RAF war nicht die einzige bewaffnete Gruppe in der BRD – neben (und zum Teil mit) ihr agierten auch die Bewegung 2. Juni, die Revolutionären Zellen und die Rote Zora. In der Ausgabe 2/2018 der Zeitschrift „Arbeit – Bewegung – Geschichte“ hat Robert Wolff einen Text mit dem Titel „Das Konzept Stadtguerilla – Die Entzauberung kommunistischer Guerilla- und Revolutionstheorien?“ veröffentlicht. Im Gespräch rekonstruiert er die Entstehungsbedingungen des Bewaffneten Kampfes in der BRD, schildert Unterschiede zwischen den bewaffneten Gruppen und geht auf die Theorie der Stadtguerilla und den „Primat der Praxis“ ein. Er geht zunächst auf die Gewalt-Debatten ein, die schon im Zuge der 68er-Bewegung eine Rolle gespielt hatten.
Die Rote Zora war zunächst ein Teil der Revolutionären Zellen – später agierte sie als eigenständiger Zusammenhang unabhängig von den Revolutionären Zellen. Ihre Aktionen hatten einen dezidiert feministischen Fokus, Themen der Gruppe waren Reproduktionsarbeit, Reproduktionsmedizin, weibliche Arbeitskämpfe, Flüchtlingssolidarität, (Anti-)Militarismus, Pornografie und Frauenhandel. Katharina Karcher hat im September 2018 ein Buch unter dem Titel „Sisters in Arms. Militanter Feminismus in Westdeutschland seit 1968“ veröffentlicht, in dem es u.a. auch um die Rote Zora geht. In der „Analyse und Kritik“ hat sie einen Artikel über die Rote Zora geschrieben. Im Gespräch rekonstruiert Karcher Entstehungsbedingungen, Themenschwerpunkte und Entwicklung der Roten Zora. Zunächst geht es um Begriffe von Gewalt und Gegengewalt in den Diskussionen feministischer Gruppierungen der 60er-Jahre.
Im Frühjahr 2019 ist unter dem Titel „Frauen bildet Banden – eine Spurensuche zur Geschichte der Roten Zora“ ein Film über die Rote Zora erschienen (siehe Rezension hier). Radio Corax hat ein etwa 20-minütiges Feature über den Film produziert. Zu hören sind neben den Filmemacherinnen des Kollektivs „Lasotras“ auch Ausschnitte aus dem Film – unter anderem die Historikerin Katharina Karcher und die (eingelesenen) Stimmen von Roten Zoras…
Im Zuge des Zerfalls der 1968er-Bewegung entstanden in der BRD die sogenannten „K-Gruppen“ – leninistische Kader-Organisationen, deren mittelfristiges Ziel jeweils die Gründung einer neuen kommunistischen Partei gewesen ist und die sich auf unterschiedliche Weise auf den Maoismus bezogen. Im Gespräch skizziert der Historiker David Spreen Entstehungsbedingungen, Unterschiede und Entwicklung der verschiedenen K-Gruppen. Zur ersten Frage:
Dabei baten wir ihn zunächst um die Einordnung einer gewissen Erzählung über die K-Gruppen: Sie seien das Resultat einer „anti-autoritären Phase“ gewesen, die an ihre Grenzen geraten und der eine Organisationsdebatte gefolgt war. Aus dieser Organisationsdebatte seien dann die K-Gruppen entstanden – was daran ist wahr, was daran ist Mythos? (via)
5.) Geschichte und Begriff der „Neuen Sozialen Bewegungen“
Neben Stadtguerilla, K-Gruppen und Autonomen entstanden in den 70er-Jahren auch die sogenannten „Neuen Sozialen Bewegungen“. Damit sind eher dezentral und unabhängig von Parteien organisierte Bewegungen gemeint, die sich jeweils spezifischen Themen gewidmet haben: Anti-AKW-Bewegung, Ökologiebewegung, Bürgerbeteiligungsbewegung, Frauenbewegung, Schwulen- und Lesbenbewegung, Stadtteilbewegung, Friedensbewegung… Dabei werden die Begriffe „Neue Soziale Bewegungen“ und „Alternativbewegungen“ oft analog verwendet. Mit der Hinwendung zu diesen jeweils spezifischen Themen ging auch eine zunehmende Abwendung von der Klassenfrage einher – so eine gängige These in der Historisierung. Genau diese These wird in der Ausgabe 3/2018 der Zeitschrift „Arbeit – Bewegung – Geschichte“ angezweifelt – u.a. angesichts der Beteiligung von Lehrlingen und Proletarisierten an den NSB, die dort immer wieder auch ihre spezifische Betroffenheitslage thematisierten. Ulf Teichmann hat gemeinsam mit Christian Wicke den Thementeil dieser Ausgabe betreut – er skizziert im Gespräch Entstehungsbedingungen und Spezifika der Neuen Sozialen Bewegungen.
Verschiedene Faktoren haben dazu geführt, dass sich die radikale Linke Ende der 70er-Jahre im Zustand einer umfassenden Niederlage wahrgenommen hat. Nachdem es mit den Autonomen und der Hausbesetzerbewegung in den 80er-Jahren einen zeitweiligen Aufschwung der Bewegung gegeben hat, sah man sich 1989-91 erneut mit einem Trümmerhaufen konfrontiert. Die Zeiten der Niederlage sind immer auch Zeiten von Reflexion und Kritik, in denen alte Gewissheiten über Bord geworfen werden. Solche Debatten hat sich Jana König in der Ausgabe 2/2018 der Zeitschrift „Arbeit – Bewegung – Geschichte“ näher angeschaut: „Falsche Wege und neue Anfänge: Die Bedeutung von Theorie in Zeiten linker Krisen – im Kontext von ‚Deutscher Herbst‘ und ‚Wiedervereinigung‘“. In diesem Text rekonstruiert sie die Debatten zweier Kongresse: Des Tunix-Kongresses von 1978 und des Konkret-Kongresses von 1993. Jana König im Gespräch über ihren Text, in dem sie zunächst auf die gesamtgesellschaftliche Situation der 70er-Jahre eingeht:
Es bleiben einige Lücken: Spontis, Autonome, Anarchismus und Rätekommunismus nach 1968, linke Intellektuelle jenseits der verschiedenen Lager, etc. Aspekte dessen werden hier in verschiedenen Beiträgen demnächst immer wieder auftauchen. Im nächsten – vorerst letzten – Teil unserer Serie wird es noch einmal allgemeiner um 1968 gehen.
Wir dokumentieren hier einen Vortrag, den Dominik Intelmann im August 2018 im Rahmen der Kantine Marx in Chemnitz gehalten hat (siehe Kantine Festival). Er rekonstruiert die Besonderheiten der ostdeutschen Gesellschaft unter Rückgriff auf die ökonomiekritischen Kategorien von Marx. Dabei geht es insbesondere darum, wie durch die politischen Entscheidungen nach der Wiedervereinigung ein Umverteilungsmechanismus installiert wurde: Die Besteuerung westdeutscher Löhne finanziert den Aufbau „allgemeiner Produktionsbedingungen“ (Marx) im Osten – der so erwirtschaftete Profit fließt zurück in den Westen, da sich im Osten keine eigenständige Bourgeoisie etabliert hat.
Ein Interview von Radio Corax mit Dominik Intelmann zum selben Thema findet sich hier (im Grunde eine kürzere Version des Vortrags in Gesprächsform). Weitere Vortragsmitschnitte von der Kantine Marx finden sich hier zum Nachhören bzw. hier zum Herunterladen. Ein Interview über die Kantine Luxemburg (2019) findet sich hier. In Kürze dokumentieren wir die Audio-Mitschnitte der Tagung „Lost in Transformation„. (Edit: Die Tagung ist inzwischen hier dokumentiert.)