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Utopie und Kritik

Wir dokumentieren drei Beiträge, die sich auf verschiedene Weise mit dem Verhältnis von utopischem Denken und Gesellschaftskritik auseinandergesetzt haben:

1.) Utopie – Zwischen Bilderverbot und Möglichkeitssinn

Alexander Neupert (Mitglied bei der Initiative zur Förderung gesellschaftskritischer Inhalte und Bildungsreferent bei den Trierer Falken) hat am 18.06.2014 auf Einladung der Erfurter Falken einen wissenschaftlichen Vortrag über Utopien gehalten. Er hat zunächst verschiedene Utopie-Typen kategorisiert und die Beziehung von Marx und Engels zum Frühsozialismus etwas beleuchtet, um dann zentral über „politische Utopien“ zu sprechen, wofür er vor allem einige Thesen von Gustav Landauer dargelegt hat. Ein wichtiger Part seines Vortrags handelte außerdem von der Utopie-Debatte im frühen 20. Jahrhundert, die von einigen kritischen Wissenschaftlern geführt wurde – unter anderem von Ernst Bloch, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Karl Mannheim (er verweist auch auf das Radiogespräch zwischen Bloch und Adorno). Zuletzt klopft er einige aktuelle politische Motive auf ihren utopischen Gehalt ab und gibt einen Vorschlag, wie das Verhältnis von Utopie und Kritik zu fassen wäre.

Linke Utopiedebatten, wie sie in Krisenzeiten aufleben, sind eine Geschichte voller Mißverständnisse. Zunächst gilt es zu unterscheiden, worüber eigentlich zu reden ist: Zukunftsromane? Siedlungspläne? Das Prinzip Hoffnung? Die Unterscheidung von literarischen, frühsozialistischen und politischen Utopien ist daher grundlegend und macht den einführenden Teil dieses Vortrags aus.

Wird Utopie nicht als ausgefeilter Gesellschaftsentwurf verstanden, sondern als utopisches Bewusstsein, so ist die Frage nach dem Verhältnis zu kritischem Bewusstsein zentral. Seit Marx führen radikale Linke gegen Utopie ins Feld, dass nicht subjektive Vorstellungen eines Besseren, sondern die Auseinandersetzung mit den objektiv bestehenden Verhältnissen das Geschäft der Kritik ist.

So betont z.B. Theodor W. Adorno, Utopie stecke “wesentlich in der bestimmten Negation”, also in der Kritik des Bestehenden, da positive Aussagen über das ganz Andere nicht möglich sind. Andererseits nennt er als Aufgabe von Utopie heute, “daß man konkret sagen würde, was bei dem gegenwärtigen Stand der Produktivkräfte der Menschheit möglich wäre”.

Utopisches Bewusstsein im Sinne kritischer Negation zeichnet sich durch sein Verhältnis zur Gegenwart aus: Auch ohne den Aufbauplan einer neuen Gesellschaft bleibt die utopische Intention auf Veränderung wichtig. Gegen das Auspinseln abstrakter Utopien steht die skizzenhafte Konkretion vorhandener Möglichkeiten. Utopien zeigen Optionen auf und dienen der Motivation.

Eine kritische Debatte um Utopie kann also nicht bei entweder Utopieverzicht oder Utopiebegeisterung stehenbleiben, sondern hat zu unterscheiden: Was sind Funktionen utopischer Denkfiguren, die für den Kampf um Emanzipation unverzichtbar sind? Über diese Frage und mögliche Antworten wird an diesem Abend vorgetragen und beraten.

Es spricht Dr. phil. Alexander Neupert. Er lehrte von 2010 bis 2013 politische Philosophie an der Universität Osnabrück und ist seit 2014 Bildungsreferent der Falken in Trier. 2013 erschien sein Buch “Staatsfetischismus”, 2015 folgt der Band “Utopie” im Schmetterlingsverlag. [via]

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2.) Utopien und Dystopien in der neueren deutschen Literatur

Das Bildungskollektiv Erfurt hat im Juni und Juli 2014 eine Veranstaltungsreihe über Utopien und Dystopien in aktuellen Kontexten organisiert. Bernd Löffler (BiKo) hat in diesem Rahmen einen Vortrag gehalten, in dem er Utopien und Dystopien in der neueren deutschsprachigen Literatur untersucht hat. Nach einer Einleitung über die Abwesenheit der Utopie und den Trend zum Dystopischen in der Literatur stellt er mehrere utopische bzw. dystopische Romane vor – von Reinhard Jirgl („Nichts von euch auf Erden„), Dietmar Dath („Feldeváye – Roman der letzten Künste„) und Volker Braun („Die Werkzeugmacher„, „Die hellen Haufen„). Bernd Löffler nimmt auch mehrmals Bezug auf das Hegel-Essay von Peter Bürger, das hier dokumentiert ist.

Utopische Literatur gehört seit langem zum Ensemble lite­rarischer Gattungen. Dabei wechselten sich mehrfach uto­pische und dystopische Ansätze ab. Erinnert sei an »Planet der Habenichtse«, »1984«, »Schöne neue Welt« und viele Beispiele mehr. In letzter Zeit häufen sich im deutschspra­chigen Raum jedoch vor allem dystopische Ansätze. Warum dies so ist und welche utopischen Bücher dagegen halten, soll an diesem Abend vorgestellt und diskutiert werden.

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3.) Kann Hoffnung enttäuscht werden?

Wir dokumentieren die Antrittsvorlesung von Ernst Bloch, die er am 17.11.1961 an der Universität Tübingen gehalten hat. Dort hatte Bloch eine Gastprofessur angenommen, nachdem er in der DDR aus politischen Gründen emeritiert worden war und in die BRD übergesiedelt ist. In der Vorlesung gibt er einerseits einen Überblick über das Vorhaben der Vorlesungsreihe. Andererseits nimmt er die Frage „Kann Hoffnung enttäuscht werden?“ zum Ausgangspunkt, um eine kritische Bestimmung des Begriffs der Hoffnung zu unternehmen – wobei er fundierte, kundige Hoffnung von bloßer Zuversicht oder Schwärmerei unterschieden wissen will. Enttäuschung hingegen ist ein Moment fundierter Hoffnung, indem sie diese mit der Objektivität bekannt und dadurch klug macht. Die Begriffe „konkrete Hoffnung“ und „konkrete Utopie“ korrelieren miteinander in den Ausführungen Blochs.

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Die Abschaffung der Arten

Dem entwickelten Kapitalismus entspricht eine historisch spezifische Kultivierung und Zurichtung der fünf menschlichen Sinne: Kulturindustrie bedeutet auch eine Hierarchie der Sinne, in der Sehen und Hören an der Spitze stehen, während Tast-, Geruch- und Geschmackssinn untergeordnete Rollen spielen. Betrachtet man wiederum das Gefälle von Sehen und Hören näher, wird man feststellen, dass das Gehör in den meisten Fällen nur in Kombination mit dem Gesichtssinn angesprochen wird: das audiovisuelle Signal. Die eigene sinnliche Qualität des Hörens findet jedoch, ausgenommen in wenigen, spezialisierten Kreisen, kaum eine Beachtung – Musikbeschallung als Hintergrundgeräusch einer Welt, die nicht mehr antwortet1, der Ton als Zugabe zu den bewegten Bildern. Vor diesem Hintergrund scheint es mir gerechtfertigt zu sein, im Audioarchiv nicht nur theoretische Auseinandersetzungen zum Hören zur Verfügung zu stellen, sondern auch auf eine der kultiviertesten Formen des Hörens zu verweisen: das Hörspiel. Seit Kurzem steht nun eine hochwertige Hörspielproduktion von und mit dem Essayisten, Journalisten und Roman-Autoren Dietmar Dath zur Verfügung:

Die Abschaffung der Arten

Es handelt sich um eine aufwendige und liebevolle Bearbeitung von Daths gleichnamigen Roman, der 2008 erschienen ist. Die Handlung spielt in einer zukünftigen, posthumanen Gesellschaft, in der die Gente (sprechende und intelligente Tiere) die Borniertheit der menschlichen Zivilisation überwunden haben und nun über die Gestaltung der Gesellschaft, sowie über philosophische und ethische Fragen verhandeln – was sich keineswegs als konfliktfreie Angelegenheit darstellt. Die Produktion stand unter der Regie von Ulrich Lampen, die Band Mouse on Mars hat Musik und Geräusche beigesteuert.

Die Ära der Langeweile ist vorbei, Menschen gibt es fast keine mehr und die biologischen Arten sind abgeschafft. Dietmar Daths Roman spielt 500 Jahre in der Zukunft, nach der Befreiung, in einer Welt, in der sprechende und intelligente Tiere, die Gente, den Übergang der Evolution von der Naturgeschichte zur gestalteten Geschichte geschafft haben.

Fähig zur ständigen Verwandlung, bestimmen sie selbst, in welcher Tiergestalt sie auftreten und mit welcher Art sie sexuellen Verkehr pflegen. Kommunikation funktioniert telepathisch über Geruchsstoffe und Foren verbreiten raumübergreifend die aktuellen Nachrichten und Diskussionen. In den drei labyrinthischen Städten Landers, Kapseits und Borbruck sind die wenigen Menschen, die es noch gibt, der neuen Zivilisation Untertan oder letzte zu bekämpfende Spezies.

Politische Verhandlungen gestalten die Libelle Philomena und die Fledermaus Izquierda, militärische Aktionen plant die Dachsin Georgescu, Bankgeschäfte steuert der Fuchs Ryuneke, Kunstfragen behandelt der stotternde Esel Storikal, Forschungsprojekte betreiben der Zander Westfahl und das Laufschwein Herbert Loskauf und diplomatische Reisen unternimmt der junge Wolf Dmitri Stepanowitsch. Dies alles im Dienste des Löwen: Cyrus Iemelian Adrian Vinicius Golden. Er ist auratischer und ideologischer Herrscher und wird gerade deshalb angreifbar. Auf dem ehemaligen Kontinent Amerika stellt sich ihm die Macht der Keramikaner, Wesen zwischen Gente und Maschinen, unter der Führung Katahomenleandraleal entgegen, provoziert innerpolitische Spaltungen bei den Gente und ein gewaltiges Kriegsszenario.

Die Zivilisation der Gente wird vernichtet, unter der Führung der Tochter des Löwen, Lasara, gelingt lediglich ein paar wenigen der Exodus auf Venus und Mars. Die beiden Planeten, auf denen die Neuankömmlinge erst ihren Lebensraum erobern müssen, werden Heimat und Wirkungsstätte der Nachfolgegeneration der Gente, derer sich diese nur noch über tradierte Erzählungen und Legenden erinnert.

Zwei Nachkommen, die Eidechse Padmasambhava und der Prinz Feuer werden auf die Mission vorbereitet, die Überreste der vorhergehenden Population auf der Erde auszukundschaften und dort zueinanderzufinden. Die Geschlechter wandelnd und sich schließlich als Geschwister begegnend, landen die beiden in einer Art Paradies, in dem die Zeit angehalten ist und historische oder evolutionäre Kreisläufe durchbrochen sind.

Dietmar Daths Roman Die Abschaffung der Arten aus dem Jahr 2008 ist ein Hybrid: Fabel, Science Fiction, utopischer Roman, postmodernes Gedankenexperiment, philosophisches Szenario. In der Tradition von Platon, Thomas Morus, Arno Schmidt, George Orwell, H.G. Wells u.a. breitet Dath einen Kosmos aus, der von unzähligen und unergründlichen Figuren bevölkert ist, dessen Handlung sich unüberschaubar verzweigt und in dem er erfindungsreich und politisch zugleich der Frage nachgeht, warum der Mensch sich selbst abgeschafft und seine Umwelt vernichtet hat.

In bester dialektischer Manier spekuliert er darüber, ob eine posthumane Gesellschaft friedlicher und gerechter sein könnte. Gekennzeichnet von einer poetischen wie akademischen, lyrischen wie wissenschaftlichen, reichen wie kryptischen Sprache zugleich fasziniert und überfordert der Roman seine Leser und polarisierte seine Kritiker. Die 12-teilige Hörspieladaption des Bayerischen Rundfunks in der Regie von Ulrich Lampen und mit dem Sound von mouse on mars macht die schillernden Charaktere, die Sprachgewalt des Textes, die oppulente klanglich-musikalische Dimension des Romans und das politische Engagement des Autors akustisch erfahrbar.

  1. vgl. Hartmut Rosa: Kritik der Zeitverhältnisse. Beschleunigung und Entfremdung als Schlüsselbegriffe der Sozialkritik, in: Rahel Jaeggi und Tilo Wesche: Was ist Kritik?, Frankfurt am Main 2009. [zurück]