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»Sehr, sehr unviktorianisch«

Beiträge über Virginia Woolf

Wer sich mit feministischer Theorie und der Geschichte des Feminismus auseinandersetzt, wird um eine Autorin nicht herumkommen: Virginia Woolf. In einem ihrer bekanntesten Texte, dem Essay »A Room of one’s own«, fordert sie – so sehr ihr Horizont ein bürgerlicher bleibt – auf bezwingend materialistische Weise, dass Frauen, wenn sie literarisch produktiv sein wollen, zum einen ein eigenes Zimmer haben müssen, in dem sie von allen reproduktiven Ansprüchen unbehelligt bleiben können und zum anderen über eigenes Geld verfügen können müssen. Gleichwohl ist ihr Wirken nicht auf den politischen oder literarischen Feminismus zu reduzieren – ihre Romane und Erzählungen haben stilbildend den inneren Monolog in der modernen englischen Literatur zur Anerkennung gebracht und stehen in Erzählkunst und Wagnis einem Marcel Proust oder James Joyce in nichts nach. Wir machen im Folgenden auf vier Beiträge zu Werk und Leben von Virginia Woolf aufmerksam:

1. »Sehr, sehr unviktorianisch« – Virginia Woolf – Pionierin der literarischen Moderne

Erst kürzlich ist im Hörspiel-Pool des Bayrischen Rundfunks ein biographisches Feature über Virginia Woolf erschienen. Der Erzählung ihres Lebensweges sind, neben Zeugnissen ihrer Zeitgenossen, zahlreiche Ausschnitte aus ihren Werken beigegeben. [Call: Die Datei auf dem Server von BR2 ist über weite Strecken hin beschädigt – wenn jemand im Besitz einer nichtbeschädigten Version ist – her damit!]

Bereits mit ihrem ersten Roman „Die Fahrt hinaus“ (The Voyage Out, 1915) setzte sich Virginia Woolf über die literarischen Konventionen ihrer Zeit hinweg und veranlasste ihren Freund, den Schriftsteller Lytton Strachey, zu dem Ausruf: „Oh, es ist sehr, sehr unviktorianisch!“ Das könnte als Motto über dem Leben von Virginia Woolf stehen, aber nur als eines von vielen, denn ihr Werk als Schriftstellerin und Biographin, als Essayistin, Literaturkritikerin und Verlegerin war vielschichtig und facettenreich. Virginia Woolf wurde 1882 als Tochter eines angesehenen Intellektuellen und einer viktorianischen Dame der gehobenen Mittelklasse geboren. Schulbildung für Mädchen lehnte ihre Mutter ebenso ab wie Studium, Beruf und Wahlrecht für Frauen. Sich von dieser viktorianischen Knebelung zu befreien, war eines der Ziele von Virginia Woolfs Schreiben. Sie begann ihre Laufbahn mit literarischen Rezensionen, dann folgten Prosawerke und zahlreiche Essays. Sie machte sich auf, den Roman zu revolutionieren, und die Gattung der Biographie gleich mit. Keine klar strukturierten Handlungsverläufe, keine deutliche Personencharakterisierung, keine allwissende Erzählstimme. Stattdessen tauchte sie ein in die Innenwelten ihrer Figuren, erzählte fragmentarisch von ganz normalen Ereignissen an ganz normalen Tagen. In wunderschön komponierter rhythmischer Sprache, in poetischen Bildern und Metaphern, mit Witz, Ironie und mit Wut auf den Militarismus und den Krieg, das patriarchale System und die Unterdrückung von Frauen. Zwischen 1922 und 1931, der produktivsten Zeit in ihrem Leben, veröffentlichte Woolf fünf experimentelle Werke: die Romane Jacobs Zimmer (Jacob’s Room), Mrs. Dalloway (Mrs. Dalloway), Zum Leuchtturm (To the Lighthouse), Die Wellen (The Waves), die fiktive Biographie Orlando. Daneben zahlreiche Essays, darunter den wegweisenden Ein Zimmer für sich allein (A Room of One’s One). Mit diesen Werken wurde sie zur angesehenen Schriftstellerin und zur bedeutendsten englischen Autorin der Moderne. Virginia Woolf erlebte in jungen Jahren den sexuellen Missbrauch durch ihre Halbbrüder und den Tod ihrer engsten Familienangehörigen. Zu diesen belastenden Erfahrungen kam der Ausbruch einer psychischen Krankheit, unter der sie ein Leben lang litt. Als sie 1941 befürchten musste, wahnsinnig zu werden, nahm sie sich am 28. März 1941 das Leben. / Realisation: Mira Alexandra Schnoor / BR 2013

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2. »Ein eigenes Zimmer«

In der BR2-Mediathek steht außerdem ein weiteres, etwas kürzeres, aber ebenfalls hörenswertes biografisches Feature zur Verfügung, in dem einige literarische Motivie Woolfs beleuchtet werden.

Zu Ende des 19. Jahrhunderts in die Ober-und Bildungsschicht des spätviktorianischen Londons hineingeboren, begann sie früh, sich schreibend mit der Innen- und Außenwelt zu befassen. Traditionelle Erzähltechniken aufbrechend, wurde Woolf zur wichtigsten Vertreterin der literarischen Moderne. Die „Bloomsbury Group“, ein Kreis Kreativer, gilt als Inbegriff kreativer Lebens- und Arbeitsform. Trotz ihrer körperlichen und psychischen Labilität arbeitete Virginia Woolf mit großer Intensität an ihrem Werk. Die Abwendung von patriarchalen Werten, die Selbstreflexion und Betonung der weiblichen Sicht, machten sie zur Gallionsfigur der Frauenbewegung und zum Vorbild weiblicher Selbstentfaltung unter erschwerten Bedingungen.

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3. Jacobs Zimmer

Beim Bayrischen Rundfunk werden meines Erachtens zur Zeit einige der besten zeitgenössischen Hörspiele produziert – im letzten Jahr wurde dort der Roman Jacobs Zimmer von Virginia Woolf als Hörspiel in vier Teilen gesendet. Der Roman ist eine Charakterstudie an dem Protagonisten Jacob Flanders, wobei dessen innere Vorgänge permanent mit den Eindrücken kontrastiert werden, die andere Personen um ihn herum von ihm haben. Thema ist die Sinnlosigkeit und das Scheitern eines Lebens kurz vor und im Zuge des ersten Weltkriegs.

Eine Schriftstellerin um die Vierzig im Prozess, ihren scharfen Blick auf die Welt, deren Politik und innere Mechanik in erfahrungsnaher Literatur darzustellen. Eine untergehende Gesellschaftsform im England der (Vor-)Kriegszeit und ein junger Mann, der im Ersten Weltkrieg stirbt, noch bevor er seine Persönlichkeit voll entfalten konnte. Virginia Woolf, ihr Gegenstand und der Wunsch nach einem neuen, unmittelbaren Ausdruck: Das sind die äußeren Koordinaten des Romans Jacobs Zimmer, der 1922 erschien und ein wenig bekanntes Meisterwerk der Moderne ist.

Aus der inneren Logik des Romans entsteht eine faszinierende literarische Erfahrung, eine multisensorische Folge von atmosphärischen Ausschnitten, kurzen Einblicken, vielstimmigen Einschätzungen, die lose chronologisch aneinandergereiht sind. Wir begegnen Jacob als Kleinkind am Strand, erhaschen Eindrücke aus seiner Schulzeit, seinem Studentenleben in Cambridge, sehen ihn durchs nächtliche London zu einer Geliebten gehen oder nach Griechenland reisen. Das Unerhörte daran: Jacob selbst spricht nie und genau das war Virginia Woolfs Schlag gegen die viktorianische Erzählkonvention, in der sie sozialisiert wurde, und deren autoritäre Vorgaben sie zeitlebens angriff. Ihre gelungene Romanerfindung arbeitet erstmals mit einer Art fotografischer Schnitttechnik und zeigt, dass Jacob durchaus da ist: heraufbeschworen, nicht aus der Aufzählung von charakterbestimmenden Fakten und gedrechselten Sätzen eines allwissenden Erzählers, sondern auf geisterhafte Weise in Facetten gespiegelt: in den Blicken, Gedanken- und Gesprächsfetzen seiner Umgebung. Es ist, als blättere man mit angehaltenem Atem durch das Fotoalbum eines Fremden.

So stehen wir heutzutage im Leben, meinte Woolf, so erfahren wir die Welt: Wir gleiten durch eine Abfolge von symbolischen Räumen, durch sprechende Atmosphären, angerissene Szenen und Gesprächsfetzen, und wenn wir sie lesen lernen, verstehen wir vielleicht ein bisschen besser, wer wir sind.

Virginia Woolf ist bekannt für ihre schonungslose Selbstkritik, doch mit Jacobs Zimmer, das die Reihe ihrer berühmten Romanexperimente einleitete, war sie durchaus zufrieden: „Ich habe keinen Zweifel mehr, dass ich (mit 40!) herausgefunden habe, wie ich die Dinge in meiner eigenen Stimme ausdrücken kann“, notierte sie beim Erscheinen des Romans in ihr Tagebuch.

    Hören: via BR2 | Download: Teil 1; Teil 2; Teil 3; Teil 4 (via BR2)

4. Orlando

Orlando ist meines Erachtens einer der lesenswertesten Romane Woolfs, der vielleicht auch leichter zugänglicher ist, als viele andere ihrer Romane. Der Roman erzählt die Lebensgeschichte eines adeligen Jünglings, die sich über vier Jahrhunderte erstreckt und innerhalb derer sich auf rätselhafte Weise eine Geschlechtsumwandlung des Protagonisten vollzieht. Das Hörspiel wird auf Bayern 2 ab dem 14.07.2013 um 15:00 Uhr in insgesamt sechs Teilen ausgestrahlt.

„Ich will die Biographie über Nacht revolutionieren!“ notierte sich Virginia Woolf spät im Jahr 1927 euphorisch ins Tagebuch und der Funke war gezündet. Begeistert stürzte sie sich in das „Projekt Orlando“, das zum „Rückgrad ihres Herbstes“ wurde, ein Buch, das sie leichthändig „vor dem Abendessen schreiben“ konnte. Es machte ihr unendlich viel Spaß! Den Lesern übrigens auch, wie die Verkaufszahlen der ersten drei Wochen zeigten, die selbst die kühnsten Erwartungen übertrafen. Orlando war von Anfang an Legende. Was die energetische Dynamik anging, war dieses Buch ein Glücksfall für Woolf. Zwar floss bei dieser Autorin immer Privates mit Beruflichem zusammen, doch jetzt war sie angefeuert von der engen Beziehung, Begeisterung und Liebe zu einer schillernden Abenteurerin, der adeligen Vita Sackville-West. Als schönsten Liebesbrief der Literaturgeschichte hat man Orlando bezeichnet. Und sicher: Sackville-West stand ihrer Freundin in vielem Modell für diese Fantasie. Fakten wurden mit Fiktivem vermischt, zu symbolischen Szenen verdichtet, mit Goldstaub überzogen.

Trotzdem greift die Beschreibung vom Liebesbrief zu kurz. Denn vor allem gelang es Woolf hier unaufgeregt und verspielt, gesellschaftspolitisch und kulturhistorisch relevante Themen aufzugreifen. Die Stellung der Frau, die Aggression des Empire, die rückwirkende Deutung von Geschichte aus machtpolitischen Gründen. Alles, was Virginia Woolf als Denkerin ausmacht, finden wir hier. Scheinbar Unverrückbares wird funkelnd und satirisch zugleich demontiert: Stand, Status, Geschlecht und Geschichtsschreibung, Macht, Posen und Konventionen. Besonders viel Sorgfalt verwendet Woolf auf die Darstellung der Relativität von Zeit und Begebenheit.

Neben ihrer Begeisterung für Sackville-Wests Person, behandelt Orlando eine weitere Leidenschaft Woolfs: ihre Liebe zur Biographie als Genre. Als Leserin verschlang sie diese Bücher und reflektierte in ihren Notizen über die Form. Woher kam der oft anmaßende, allwissende Ton der Autoren? Woher der Glaube, die Figur so gut fassen zu können? Wieso erfahren wir oft mehr über Zeit und Moral des Biographen, als über die Person, die zur Debatte steht? Wieso erstickte oft eine buchhalterische Sprache jedes Gefühl für einen Menschen, der vor langer Zeit sehr lebendig war. Und, ganz zentral: wer legt eigentlich fest, dass Phantasie und Dichtung in einer Biographie nichts zu suchen haben. Woolf selbst gibt in Orlando vielen Positionen eine Stimme.

    Alle Sendetermine finden sich im Überblick hier. Die Audiodateien werden zu gegebener Zeit hier verlinkt.

    Teil 1: via BR2

Empfohlen sei abschließend der Film The Hours, in dem das Leben Virginia Woolfs (gespielt von Nicole Kidman) mit den Handlungen ihres Romans Mrs Dalloway verquickt wird – auch wenn mir das unvermeidliche Ende auf fragwürdige Weise aufgeladen scheint.