Eine Aufnahme, die weniger Theorie als gewohnt bietet, dennoch durchaus interessant ist, weil sich der Mitschnitt mit Orten beschäftigt, die eine linksradikale Praxis über mittlerweile mehr als zwei Jahrzehnte (zumindest mit)bestimmt haben: Das Conne Island in Leipzig und die Rote Flora in Hamburg. Vertreterinnen beider Zentren fanden im Golem zusammen, um über die jeweilige Geschichte, Strukturen, Unterschiede und Spannungsfelder zu diskutieren.
Im Abstand von rund 400 km steht jeweils ein Bürgerschreck aus Mörtel und Ziegelstein. Im Hamburger Schanzenviertel hält sich seit 25 Jahren die Rote Flora. An den Ausläufern von Leipzig Connewitz residiert seit 23 Jahren das Conne Island. Einladend und abweisend, luzide und behäbig, störrisch und befriedet. Die „Terrorzentralen“, um die die Lustangst von CDU und Boulevard kreist, geben Verfassungsschutz und Polizei die Gelegenheit Tonbänder zu füllen und Planstellen zu rechtfertigen. Alle anderen gehen dort saufen, Skateboard fahren oder diskutieren.
Die beiden linksradikalen Zentren teilen eine wechselhafte Geschichte. Sie ist sowohl von internen Konflikten um die Ausrichtung des eigenen Ladens, als auch von politischen Auseinandersetzungen mit und gegen die Mehrheitsgesellschaft durchzogen. Auch wenn es punktuell einen Austausch gab – wie uns die Betreiber versichern – wurden die gleichen, sich stellenden Fragen in der Roten Flora und dem Conne Island getrennt voneinander durchgekaut:
Versteht man sich als linker „Freiraum“, in dem sich ohne Verwertungsdruck abhängen lässt oder nimmt man die Totalität des Kapitalismus an, der quasi auch in Viertelautonome einfährt wie der heilige Geist und den man selbst über die Schwelle der eigenen Haustür trägt? Wie hält man es mit der Nachbarschaft? Wohnt nebenan die Vielheit freundlicher Subjekte, die dem eigenen Treiben wohlwollend gegenüber stehen oder hausen dort verkniffene Rassisten, die man häufiger erschrecken muss, damit sie nicht auf dumme Ideen kommen? Welchen Stellenwert haben Konzerte und Partys? Wird Pop als Vehikel zur Politisierung und Geldbeschaffung nur benutzt oder meint man in der Musik und der Kunst selbst eine genuin politische und subversive Praxis zu erkennen? Wie geht man mit den Umarmungen des etablierten Betriebs um? Ersticken bezahlte Stellen oder eine institutionalisierte Kultur- und Projektförderung die politischen Ansprüche und lassen einen ungewollt zum anerkannten Teil der Zivilgesellschaft heranreifen? Begünstigen linksradikale Zentren mit ihrer Protestfolklore nicht noch die Attraktivität der sogenannten Szeneviertel und befeuern so Umstrukturierungs- und Verdrängungsprozesse?
Es mag zunächst absurd erscheinen, in Bezug auf eine Zeit vor der Staatsgründung Israels, ja gar vor dem Aufkommen eines zionistischen Staatsgründungsvorhabens, von »Antizionismus« zu sprechen. Es gibt jedoch mehr als bloß Indizien dafür, dass der gemeine Antisemitismus schon immer auch eine politische Ausdrucksform hatte, die sich gegen die Möglichkeit eines staatlichen, jüdischen Gemeinwesens richtete. Zwei Vorträge beleuchten diesen Zusammenhang und widmen sich dabei auch der Problematik des »sekundären Antisemitismus« als Erklärungsansatz von (insbesondere linker) Israel-Feinschaft im 20. Jahrhundert und heute.
1. Antizionismus ohne Israel. Der Haß auf den jüdischen Staat im deutschen Idealismus um die Wende zum 19. Jahrhundert
Daniel Späth (Redaktion Exit!) wurde – überraschend genug – nach Freiburg eingeladen, um im Jour Fixe-Programm der ISF Thesen zum Antizionismus bei Kant und Hegel vorzustellen. Seine Ausführungen beschränkten sich aus Gründen des Umfangs auf Immanuel Kant und dessen Antisemitismus. Die recht voraussetzungvolle Argumentation ist nachzulesen in der Exit! #10; ein (Teil-)Aufsatz zu Hegel in der Ausgabe #11.
Download: Teil 1 (0:36 h, 21 MB), Teil 2 (0:45 h, 27 MB)
Es ist ein gängiger Topos der linken Antisemitismuskritik, daß der “sekundäre Antisemitismus” nach Auschwitz zu einer Verschiebung in der judenfeindlicher Agitation geführt habe, sodaß die “klassischen” Stereotype des Judenhasses nun randständig seien. Nicht der “Wucher-Jude” mit der langen Nase werde heute als Verkörperung der Weltverschwörung identifiziert, sondern Israel, wobei der Judenhaß in Form von Staatskritik ein scheinbar unverfängliches Objekt hat: Man wird ja wohl noch Staaten kritisieren dürfen… Aber so unverzichtbar daran die kritische Einsicht ist, daß Auschwitz ins kollektive Unbewußte sedimentierte und daher ein deutscher Schuldkomplex entstand, der die Wiederkehr des Verdrängten an neuen Symboliken zu bekämpfen sich anstrengt, so verkürzt muß eine Antizionismuskritik bleiben, die von der bloßen Verschiebung des Antisemitismus zum Antizionismus ausgeht, d.h. von einer bloß sekundären Wirksamkeit des israelfeindlichen Ressentiments. Denn damit wird die fetischistische Selbstständigkeit antisemitischer Ideologiebildung ausgeblendet, die sich unabhängig vom realen Verhalten von Juden artikuliert. Wie der Antisemitismus auch ohne Juden und Jüdinnen seinem Wahn frönt, so existieren schon lange vor der Staatsgründung Israels eindeutig antizionistische Motive. Vor allem der deutsche Idealismus in seiner durchweg affirmativen Installation bürgerlicher Vernunft generierte bereits Ende des 18. Jahrhundert das Phantasma einer dezidierten “Unmöglichkeit” jüdischer Staatlichkeit, lange bevor dies auf der politischen Tagesordnung stand. Es verwundert nicht, daß die antideutsche Theoriebildung auf diesem Auge bis heute blind ist. Schließlich gilt ihr die bürgerliche Vernunft als letzter Restposten, als immanenter Rückzugsort gegenüber einem scheinbaren “Aufklärungsverrat”, wie er vor allem in der islamistischen Barbarei und im völkischen Antiimperialismus ausgemacht wird. Dabei übersieht die antideutsche Theorie, daß es die bürgerliche Vernunft selbst ist, die aus ihrer eigenen Widersprüchlichkeit heraus antisemitische und antizionistische Denkformen setzt und nicht etwa die Irrationalität einer wie auch immer gearteten “Gegenaufklärung”. – Es spricht Daniel Späth (Tübingen), der für “Exit! Kritik der Warengesellschaft” schreibt (etwa Das Elend der Aufklärung: Antisemitismus/ Antizionismus, Rassismus und Antiziganismus bei Immanuel Kant in N° 10, Horlemann-Verlag, Berlin 2012, sowie Form- und Ideologiekritik der frühen Hegelschen Systeme I, in N° 11/2013), dazu auf http://linkeirrwege.blogsport.de/ publiziert.
2. Sekundärer Antisemitismus – ein Erklärungsansatz für Israel-Feindschaft in der Linken?
Olaf Kistenmacher widmete sich bereits 2011, in einem in Ludwigsburg gehaltenen Vortrag, der Frage, warum im sekundären Antisemitismus nicht die Ursache für den Hass auf Israel innerhalb der deutschen Linken seit 1967 zu sehen ist. Anhand von auf den Nahen Osten bezogenen Äußerungen und Einschätzungen der KPD der 1920er Jahre beleuchtete er die Vorgeschichte des linken Antizionismus.
Die Sendung enthält eine kurze Moderation bzw. Einleitung von Lothar Galow-Bergemann (Emanzipation und Frieden) und einen Eröffnungsjingle, den ich weggeschnitten habe.
Als „sekundären Antisemitismus“ bezeichnet die Kritische Theorie eine Judenfeindschaft, die erst nach 1945 entstanden ist. Dieser Erklärungsansatz wird oft für den Antisemitismus in der politischen Linken herangezogen, denn er benennt die besonderen Motive, die gerade nach 1945 für eine antifaschistische Linke zentral sind: Um Schuldgefühle abzuwehren, setzten radikale Linke die Politik des Staates Israel mit der Shoah gleich.
Doch dieser Ansatz kann nicht die Vorgeschichte des linken Antizionismus erklären: Bereits Ende der 1920er Jahre setzte die KPD den Zionismus mit dem Nationalsozialismus gleich, während sie andere Nationalbewegungen unterstützte. Ihre Tageszeitung „Die Rote Fahne“ befürwortete 1929 ein Pogrom in Palästina, das über zwei Wochen andauerte und bei dem über hundert Jüdinnen und Juden ermordet wurden. Zur gleichen Zeit stellten andere Artikel „Juden“ als Vertreter des Kapitals und der herrschenden Klasse und als Unterstützer der NSDAP dar. Überschriften in der „Roten Fahne“ lauteten in den Jahren „Das Dritte Reich schützt die jüdischen Warenhäuser“ (1930), „Hitler proklamiert Rettung der reichen Juden“ (1931) oder „Nazis für jüdisches Kapital“ (1932). Dieser Antisemitismus war mit der gleichzeitigen Ablehnung von Judenfeindschaft insofern vereinbar, als die kommunistische Bewegung Judenhass als „Sozialismus der dummen Kerls“ deutete. Diese Deutung implizierte aber, an der Vorstellung festzuhalten, „Juden“ stünden tatsächlich auf der Seite des Kapitals – und der Zionismus wäre der „Kettenhund des Imperialismus“ im Nahen Osten, wie die „Rote Fahne“ 1925 verlautbarte.
Thomas Ebermann spricht anhand seiner eigenen Biografie über das Scheitern der Linken und die Ohnmacht im Kampf gegen das Unwahre, den Konformismus und die Totalität.Download: via AA (mp3; 0:28 h; 52,3 MB) via FRN
Auf Einladung interessierter Studierender der TU Darmstadt versuchte sich Daniel Späth (Redaktion »EXIT!«) an einer Einführung in die Wert- bzw. Wert-Abspaltungs-Kritik. Beginnend mit einer an Kant ansetzenden Kritik der Aufklärung, setzt er sich mit dem bürgerlichen und dem kritischen Marx sowie der Arbeiterbewegung auseinander, nimmt Bezug auf Foucaults Ordnung der Dinge und formuliert eine Kritik der Spaltung der deutschen Linken in »Antiimps« und »Antideutsche«. Abschließend geht er auf das geschlechtliche Abspaltungsverhältniss ein.
Download via AArchv: Vortrag (21 MB), Diskussion (unvollständig, 11 MB)
im Spannungsfeld von Ideologie, Organisation und Alltag
Inwiefern führt ein unbedingtes Setzen auf unmittelbare, verändernde Praxis nur noch tiefer in das bestehende Falsche hinein? Enthält eine Theorie, die Abstand von der Praxis nimmt, in der Benennung des falschen Ganzen schon einen Index des erstrebenswerten Besseren? Inwiefern handelt es sich bei dem Alltagsverstand der nicht-intellektuellen Menschen nicht doch schon stets um intellektuelle Tätigkeit? Inwiefern birgt das technische Wissen jeder verrichteten Arbeit nicht auch ein Potential von Reflexion und Kritik? Diese Fragen diskutiert Martin Krempel (BiKo) in seinem Vortrag, den er am 08.07.2011 in Jena gehalten hat. Er referiert jeweils mehrere Thesen zum Theorie-Praxis-Verständnis von Theodor W. Adorno und Antonio Gramsci, die er gegenüberstellt und aneinander abarbeitet, um das Vermittlungsproblem zwischen Theorie und Praxis in den analytischen Blick zu bekommen, ohne letztlich beide miteinander wie auch immer zu versöhnen.
Seit über einem Jahrhundert werden in gesellschaftskritischen Gruppen grundlegende Fragen immer wieder diskutiert. Vorrang der individuellen oder der kollektiven Bedürfnisse? Spontaneismus oder Organisation? Revolution oder Reformation? etc. Neben diesen Dauerbrennern wird eine Frage jedoch immer relevanter für politische Arbeit: »Wie ist das Verhältnis von Theorie und Praxis zu bestimmen?« Dieses Problem lässt nicht nur Differenzen im politischen Verständnis auftauchen, sondern es verhindert auch ganz explizit Bündnisse und schafft es ganze Assoziationen zu spalten. Die Fraktion einer »ohnmächtigen Theorie« steht dann häufig der Fraktion einer »blinden Praxis« gegenüber. Die »Theoretiker_innen« sehen meistens als die wichtigste Aufgabe von linker Politik die ideologiekritische Aufklärung über den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang an. Die »Praktiker_innen« dagegen präferieren die direkten Aktion und Organisation gegen Herrschaftsmechanismen. Beide idealtypischen Parteien finden sich jedoch in der heutigen Zeit zu einem großen Teil blockiert und fragmentiert vor. Eingeklemmt zwischen bürgerlicher Hegemonie und dem Alltagsverstand der Leute stößt jede kritische Theorie und Praxis auf eminente Probleme. So ist kritische Theorie isoliert, der antikapitalistischen Bewegung fehlen Anknüpfungspunkte in die Gesellschaft und eine Aufbruchsstimmung ist auch nicht in Sicht. Um die Möglichkeiten und Grenzen kritischer Handlungsfähigkeit auf dem theoretischen wie dem praktischen Terrain zu erkunden lädt das »Biko« zu einem Vortrag über das spannungsgeladene und widersprüchliche Verhältnis dieser beiden »Praxen« ein. Der Theorie/ Praxis- Komplex soll durch den Rückgriff auf die unterschiedlichen Gedanken von Theodor W. Adorno und Antonio Gramsci »neu« aufgerollt und durchleuchtet werden. Erstens um über das schwierige Verhältnis von Theorie und Praxis – mit einem kühlen Kopf nachzudenken und zweitens dadurch einen kleinen Schritt zur Überwindung eines innerlinken Grabenkampfes leisten zu können. Der Diskurs über den Theorie/ Praxis- Nexus soll im Vortrag zugespitzt werden, nicht um ihn zu schließen, sondern im Gegenteil um ihn unter Spannung verhandelbar zu machen. [via]