Ein Zusammenhang von Antisemitismus und ökonomischer Krise besteht zwar offenkundig, ist aber doch schwer zu bestimmen. Schließlich folgt Judenhass so wenig automatisch aus der Krise, wie er in Prosperitätszeiten abwesend wäre. JustIn Monday, dessen im März 2015 in Berlin gehaltenen Vortrag wir im folgenden dokumentieren, befasst sich mit dem Verhältnis von Latenz und Manifestation des Antisemitismus und bezieht dessen Wandlungen auf die Geschichte von Krisen und Krisenlösungen (in) der kapitalistischen Gesellschaft.
Eine der ersten Versionen von Moishe Postones bekanntem Aufsatz „Antisemitismus und Nationalsozialismus“ wurde 1982 in der Zeitschrift Merkur veröffentlicht und trug dort den Titel „Die Logik des Antisemitismus“. Der Grund für die Titelwahl dürfte gewesen sein, dass im Mittelpunkt von Postones Argumentation die Dialektik und somit die Logik der Wertform steht.
Allerdings steht die einseitige Betonung der Logik, die dem Aufsatz insgesamt nicht gerecht wird, in dessen Rezeption aber tatsächlich eine zentrale Rolle gespielt hat, in einem eigentümlichen Verhältnis zur Geschichte des Antisemitismus innerhalb derjenigen Gesellschaft, in der der Wert die Form der Herrschaft darstellt. Denn diese ist zwar seit ihrem Beginn von Antisemitismus durchzogen, nur wirkt der keineswegs so kontinuierlich, wie es eine Herleitung aus den elementaren Formen vermuten lässt.
Das antisemitische Denken unterliegt wie kein anderes Ressentiment der bürgerlichen Gesellschaft assoziativen Sprüngen und irrationalen Fixierungen, weshalb die Rede davon, dass er eine Logik hat, mindestens fragwürdig ist. Aber nicht nur der Inhalt der Ressentiments ist inkonsistent. Die in der Antisemitismusforschung übliche Unterscheidung zwischen latentem und manifestem Antisemitismus ist eine Reaktion darauf, dass die gesellschaftlichen Subjekte sich schubweise und relativ plötzlich in jene verfolgende Unschuld verwandeln, die sie als AntisemitInnen sind.
Diese Seite des Antisemitismus – und darum soll es in dem Vortrag gehen – verweist auf die Bedeutung der Krise bei der Entstehung des Antisemitismus. Es ist kaum zu übersehen, dass die Assoziationsketten, die die antisemitische Agitation tragen, mit antiliberalen Schuldzuweisungen an vermeintliche Krisenverursacher ansetzen, um in ihrem Fortgang zu einer Vorstellung von der Welt als Ganzem zu kommen, in dem „jüdisches Handeln“ im Mittelpunkt allen Geschehens stehen soll. Erst in der Reflexion auf die Denkformen, die den kapitalistischen Subjekten zur Verfügung stehen, um die Krisentendenz ihrer Gesellschaft zu begreifen, lassen sich sowohl die stereotype politökonomische Systematik des Antisemitismus erkennen als auch die scheinbar vermittlungslos unsystematischen, hasserfüllten Affekte des antijüdischen Unbewussten wahrnehmen und zurückweisen. Ein Zusammenhang, der im Vortrag anhand einer Übersicht über die Geschichte des Antisemitismus entfaltet werden soll. [via Gebrochene Totalität]
[This article includes one lecture in english language – look at the third caption.]
Dass die Krisen des Kapitalismus immer wieder faschistische Kräfte mobilisieren ist zur Zeit in drei europäischen Ländern besonders sichtbar: In Griechenland hat in den letzten Jahren die faschistische Partei „Goldene Morgenröte“ an Zulauf gewonnen, eine rassistische Stimmung und daraus folgende Übergriffe haben erheblich zugenommen; in der Ukraine sind im Zuge der Staatenkonkurrenz um diesen Wirtschaftsraum unter deutscher Mithilfe Faschisten in die Übergangsregierung gekommen während auch die von Russland unterstützte Separatistenbewegung im Osten der Ukraine Nationalisten und Rassisten rekrutiert; in Ungarn versucht Victor Orban mit einer völkisch-nationalistischen Kampagne die Macht seiner Clique auszuweiten, während dem Antisemitismus der faschistischen Jobbik-Partei nicht widersprochen wird – Sinti und Roma sind in Ungarn der Diskriminierung und Gängelung durch staatliche Behörden schutzlos ausgeliefert. Im Folgenden jeweils ein Beitrag über Ungarn, die Ukraine und Griechenland.
1.) Ágnes Heller im Gespräch über Ungarn
Am 22. Januar 2014 war die ungarische Philosophin Ágnes Heller im Republikanischen Club in Wien zu Gast. Im Gespräch mit Gerhard Scheit hat sie über verschiedene Aspekte der ungarischen Verhältnisse berichtet: Der spezifische Charakter des Antisemitismus in Ungarn, Charakterisierung der Fidesz-Regierung (Heller beschreibt sie als „bonapartistisch“), Verhältnis von Oligarchie und Politik in Ungarn, Jobbik und die Ungarische Garde, Opposition in Ungarn u.a..
Im April 2014 finden in Ungarn Parlamentswahlen statt. Die Macht des Systems Orban scheint dabei nicht in Gefahr. Weiterhin wird in Ungarn auf die Erzählung von „nationalen Tragödien“, von Trianon bis zur Sowjetzeit, bei gleichzeitiger Tradierung von Antisemitismus und Gewohnheiten der autoritären Machtausübung, gesetzt.
Ein Gespräch zu den aktuellen Entwicklungen und ihren historischen Ursachen mit der Philosophin Ágnes HELLER. Moderation: Gerhard SCHEIT (Autor und Essayist), Begrüßung: Thomas WALLERBERGER (RC) [via]
Die Parlamentswahlen im April, über deren Ausgang in der Veranstaltung noch spekuliert wurde, hat eine eindeutige Zwei-Drittel-Mehrheit von Fidesz ergeben – eine Einschätzung von kurz nach den Wahlen findet sich hier. Kritische Nachrichten über Ungarn gibt es bei Pusztaranger.
2.) Ukraine – Zwischen Demokratisierung, Faschismus, Bürgerkrieg und Zerfall
Jörg Kronauer (Autor von Konkret) und Jörn Schulz (Jungle-World-Redakteur) haben am 13.06.2014 im Hamburger Golem über die Entwicklungen in der Ukraine sowie über die Einschätzung der deutsch-europäischen und der russischen Außenpolitik diskutiert:
Der aktuelle Konflikt begann mit dem – in der bundesrepublikanischen Debatte heute weitgehend vergessenen – Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine. Hinter diesem relativ harmlos klingenden Technokratenbegriff steckte ein radikales Sparprogramm, das die verarmte Post-Sowjet-Ökonomie aus den Fängen Russlands reißen sollte. Der bis dato regierende autoritäre (Post-)Oligarch Viktor Janukowitsch wollte dieses letzte Ultimatum hinauszögern, um die gleichermaßen zu Russland und der EU bestehende ökonomische Abhängigkeit der Ukraine nicht einseitig zu Lasten Russlands (und damit der günstigen russischen Gaslieferungen) aufzulösen.
Der Rest dürfte allseits bekannt sein: Der antiwestliche Kurs von Janukowitsch brachte eine heterogene Protestbewegung auf die Straße, die allein die Ablehnung des herrschenden Regimes vereinte. Neben EU-Anhängern und Demokraten waren vor allem die Faschisten des »rechten Sektors« tonangebend bei der Zuspitzung des Konflikts. Auf dem Maidan-Platz in Kiew und andernorts tobten Straßenschlachten, in deren Verlauf etliche Menschen starben. Janukowitsch musste fliehen und spülte die Protestbewegung an die Macht. Separatistische Truppen tauchten in der Folgezeit zunächst auf der Krim und später in der Ostukraine auf. Sie setzten das staatliche Gewaltmonopol aus Kiew weitgehend außer Kraft und bereiteten eine Ablösung der Regionen aus dem ukrainischen Nationalstaat vor. Seitdem flackern in der Ostukraine immer wieder militärische Auseinandersetzungen zwischen Regierungseinheiten und Separatisten auf.
Die Rezeption der Ereignisse in der Ukraine ist in Deutschland von einer bemerkenswerten Einseitigkeit geprägt. So stellt die paramilitärische Formierung und die damit einhergehenden faschistische Parolen der Maidan-Proteste für die staatstragende deutsche Politik kein Problem dar: Im Gegensatz zu den hierzulande von der Polizei mit der ganzen Berechtigung demokratischer Staatsgewalt niedergeprügelten »linken Chaoten« (wie etwa in Hamburg am 21. Dezember 2013) erblickte die deutsche Politik in den dortigen Auseinandersetzungen ausschließlich »Freiheitskämpfer« und »Europa-Freunde« (Rebecca Harms, Bündnis90/Die Grünen). Auch die vorübergehende Regierungsbeteiligung der faschistischen Swoboda-Partei stieß auf keine nennenswerte Empörung. Wie irrlichternde Einseitigkeit anders herum funktioniert, bewies hingegen der Großteil der hiesigen antiimperialistischen Linken: die Reaktion Russlands auf die EU-Annäherung der Ukraine mit der Annektierung der Krim und Einflussnahme in der Ostukraine werte sie als »antifaschistische Aktion« gegen die »NATO-Kriegspropaganda«.
Wie ist die erneute Frontstellung des kalten Krieges – der Westen mit den USA und der EU auf der einen, Russland auf der anderen Seite – zu bewerten? Sollte linke Kritik das außenpolitische Programm des »Hauptfeinds Deutschland« und der EU in den Fokus rücken? Oder müssten die Waffen der Kritik eher gegen das geopolitische Agieren Russlands und die prorussische Querfront von Teilen der Linkspartei über die Alternative für Deutschland bis hin zur extremen Rechten gezückt werden?
Wie die Situation in der Ukraine einzuschätzen ist und wie sich eine Linke, die es ernst meint mit der »Assoziation der Freien und Gleichen«, hinsichtlich des Konflikts zu positionieren hätte, wollen wir auf einem der seltenen Gipfeltreffen mit Vertretern der beiden linken Publikumsblätter Jungle World und konkret diskutieren. Zu Gast sind der freie Journalist und konkret-Autor Jörg Kronauer, sowie dem Jungle World Redakteur Jörn Schulz. [via]
Im März dieses Jahres haben die Falken Erfurt einen Genossen aus Griechenland von der antigriechischen Zeitschrift 0151 eingeladen, der über die gegenwärtige Situation in Griechenland berichtet hat. Im Vortrag berichtet Panos Dionisos dabei weniger von den ökonomischen Folgen der Krise, sondern vor allem über die Situation von MigrantInnen in Griechenland. Er beschreibt eine Gesellschaft voll von Rassismus, wobei nicht nur organisierte Nazis oder der Staat ins Blickfeld geraten. Er beschreibt eine gesellschaftliche Atmosphäre im Ganzen und hat auch an der griechischen (radikalen) Linken einiges zu kritisieren.
Am Anfang des Vortrags hat Panos einen Film gezeigt, der hier (oder untenstehend) zu sehen ist. Der Vortrag wird auf englisch gehalten und ins Deutsche übersetzt. Siehe auch: Dawn of the Greeks.
Griechenland hinter den Kulissen!
Ein Vortrag mit Leuten aus dem Umfeld der neuen griechischen, antifaschistischen Zeitschrift „0151“ zur gegenwärtigen Situation in Griechenland und deren historischen Wurzeln.
Bei den letzten Wahlen in Griechenland, welche im Mai und Juni 2013 stattfanden, bekam die Neo-Nazi-Partei „Goldene Morgenröte“ eine halbe Million Stimmen und damit 7% aller abgegebenen. Schlimmer noch, in den Meinungsumfragen der letzten Monate bekannten 15-17% der Griechen, die Neo-Nazi-Partei zu unterstützen und bekundeten ihre Sympathie für die Aktivitäten der „Goldenen Morgenröte“. Zugleich sind Angriffe auf MigrantInnen in Athen und anderen Städten Griechenlands in den letzten Jahren zur Normalität geworden.
Jedoch sind Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus, Homophobie und Faschismus auch schon während der letzten Jahrzehnte sowie während aller vorhergehenden Epochen der nationalen Geschichte dauerhafte Bestandteile der griechischen Gesellschaft gewesen.
Die griechische Gesellschaft weiß, wie mit Fremden umzugehen ist, und zeigt sich gastfreundlich.
Von den geschäftigen Stadtvierteln Athens bis zu den Feldern des griechischen Hinterlandes gab es in den vergangenen Jahrzehnten Erschießungen, Vergewaltigungen, Morde und staatliche Gefangennahmen von GastarbeiterInnen, Geflüchteten und Roma. Diese Übergriffe wurden von der griechischen Mehrheitsgesellschaft unterstützt oder beschwiegen. Doch auch andere, die von den Normen der nationalen Mehrheit abweichen (LGBTQ, FeministInnen, politische Radikale usw.), sahen sich immer wieder Feindseligkeit und gesellschaftlicher Ächtung ausgesetzt.
(Die griechische Zeitschrift „0151“ versucht sich an einer Dokumentation, Untersuchung und Zurückdrängung des Antisemitismus, des Rassismus, des Faschismus, der Homophobie und des Sexismus der griechischen Gesellschaft und ihrer Avantgarden.) [via]
In March 2014 the group „Falken Jena“ invited a comrade from greece (who’s author of the anti-greec magazine 0151), to report of the current situation in Greece. In his presentation Panos Dionisos didn’t talk so much about the economic consequences of the crisis, but more about the situation of immigrants in Greece. He describes a society full of racism and he focusses not only organized Neonazis or the state. He describes the atmosphere of a whole society and he also criticizes the (far) Left-Wing movement.
On the beginning of the presentation Panos showed a movie, that is available here. The presentation is hold in english and translated into german language. Also have a look at: Down of the Greeks.
Greece behind the scenes!
A public presentation regarding the current situation in Greece and its historical roots: pogroms, assassinations, police repression, fascist speech, society of control, detention camps, greek borders.
In the last Greek elections, in May as well as in June 2012, the neonazi party Golden Dawn took 7% with half a million votes. Worse than that, in the recent pulse surveys of the past months approximately the 15%-17% of greeks support the neonazi party and they sympathize with the neonazi party activities. At the same time attacking immigrants in Athens and various other greek cities has become mainstream in the last years.
However racism and antisemitism, nationalism, homophobia and fascism have been permanent features of the greek society for all the previous decades and historical periods of the country.
Greek society knows how to treat and show hospitality to strangers.
From the busy districts of Athens to the fields of the greek countryside, migrant workers, refugees, Roma people ) were shot, raped, murdered, detained by the state all the past decades with the support or silence of the greek majority. But also others who are considered abnormal by the national majority (LGBTQ, feminists, radicals etc.), face hostility and marginality.
This event is organized by people involved with a new antifascist magazine called 0151.
0151 attempts to document, research and push back the Antisemitism, the Racism, the Fascism, the Homophobia and the Sexism of the Greek society and its avant-gardes. [via]
Der 3. Akt der Chronologie der Nötigung ist erschienen. Die Sachzwang FM-Reihe beschäftigt sich anhand von Texten aus der Jungle World mit der Euro-Krise und der Rolle der BRD darin. Downloadvia AArchiv (2 h, 41 MB)
Nachdem es zu einiger Verzögerung meinerseits kam, dokumentiere ich nun gleich zwei Vorträge aus der Reihe »Nackte Gewalt«.
1. Jordi Maiso: Gegenwärtige Vorgeschichte: Versuch einer Standortbestimmung
Jordi Maiso (u.a. Hrsg. der Constelaciones. Revista de Teoría Crítica) nimmt die Thematik von Arne Kellermanns Vortrag auf und führt sie fort: Was bedeutet es für kritische Theorie, dass sie wirkungslos bleibt in einem historischen Augenblick, in dem tiefgreifende Veränderung mehr denn je geboten, ja überfällig ist, aber nicht stattfindet, sondern die kapitalistisch induzierte Barbarei von der Peripherie in die Zentren zurückkehrt? Er bezieht sich u.a. auf Robert Hullot-Kentor (vgl. A New Type of Human Being and Who We Really Are) sowie auf Schriften von Robert Kurz, Detlev Claussen, Wolfgang Pohrt und Falko Schmieder.
Kritische Theorie, die vielen überholt dünkte, bleibt aktuell, weil blind wirkendes Naturgesetz und gesellschaftlich organisierter Wille ineinander übergehen. Die Vorstellung, dass mit dem Ende des Kapitalismus auch das Ende der Vorgeschichte erreicht wäre, scheint heute nicht mehr haltbar. Wenn der Kapitalismus gegenwärtig vor einem Auflösungsprozess steht, passiert dies nicht auf Grund der bewussten Handlung lebendiger Subjekte, sondern auf Grund der inneren Widersprüchen des »automatischen Subjekts« und der materiellen Widerstände einer Welt, die nicht grenzenlos ausbeutbar ist. Angesichts der Verrohung sozialer Verhältnisse, der enormen Opfer, die das immer mühseligere Weitergehen des business as usual fordert, scheint die Kritik der »Pathologien« der Moderne und der Vernunft bereits eine arge Verharmlosung. Kritische Theorie sieht sich heute genötigt, eine neue Stufe der Vorgeschichte zu begreifen, in der das Misslingen von Subjektivität und Geschichte gewaltsam zutage tritt: Was heißt das für die Theoriebildung, für die Fähigkeit zur Einsicht überhaupt? Wie wirkt das auf die subjektiven Triebkräfte der Kritik? Wie verändert sich unter diesen Bedingungen die Möglichkeit von Erfahrung? Bei aller Dringlichkeit einer gesellschaftstheoretischen Reflexion, die seinem Gegenstand gerecht wird, muss auch die Ohnmacht reiner Theorie mitreflektiert werden: »Für Kontemplation scheint es zu spät«.
2. Joachim Bruhn: Kalkül und Wahn, Vertrauen und Gewalt. Vor dem Ausnahmezustand des Kapitals
Joachim Bruhns (ISF/ça ira Freiburg) Vortrag ist vor allem eine Zitateschlacht mit ideologischem Material aus Druckerzeugnissen von der FAZ bis zur Apothekenumschau, das illustriert, welchen, teils rationalisierten, teils schlicht esoterischen, Unsinn das bürgerliche Bewusstsein hervorbringt, wenn es sich in der Krise auf den »Gegenstand« Geld richtet. Der Vortrag könnte auch den Titel eines anderen Referats tragen, das Bruhn kürzlich in Leipzig gehalten hat: „Gescheites Rindvieh“ – Über die Volkswirtschaftslehre als die Kunst, das Unbegreifliche des Kapitals zur gefälligen Ideologie zu rationalisieren.
Prognosen sind schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen. Gleichwohl: Die Gesellschaft der totalen Konkurrenz ist in heller Panik, sie wird sich zersetzen und zerstören. Unmöglich noch kann sie die Bedingung der Möglichkeit ihrer eigenen Existenz aus sich selbst heraus reproduzieren: der vollendet autistische Selbstbezug des Kapitals, die losgelassene Akkumulation um der Akkumulation willen, die »Plusmacherei« (Marx) rutscht ins historische Minus, zerbricht an sich und eben daran, dass die Gesellschaftlichkeit der Individuen als Subjekte bloß auf dem generalisierten Ausschluss aller durch alle gründet, der, eben in den Formen von Wert, Geld, Kapital den totalen Einschluss stiftet, d.h.: die gesellschaftliche Synthesis als vollendet negative. Das ist gewiss paradox: die unbedingte gesellschaftliche Einheit in der Form des totalisierten Atomismus; ein Paradox jedoch, das im Geld dingliche Gewalt annimmt und als »logisches Rätsel« (FAZ) erscheint. In der Panik wird sich die falsche Gesellschaft ihres eigenen Widersinns inne, allerdings in einer nur noch verrückteren Form, einer Form, die das bankrotte Kalkül der Ökonomie vermittels des Wahns der Politik zu therapieren verspricht, tatsächlich zu überbieten sucht: der Form eines paranoiden Souveräns, der den Triumph des Willens über den kapitalen Sachzwang beschwört und so gerade die »Angst vor dem Chaos« schürt, darin die Flucht nach vorn anpeitscht und so auf den autoritären Staat provoziert, auf den Ausnahmezustand, d.h. auf die ursprünglich faschistische Situation: denn nichts anderes ist der »Preis des Marktes« als das politisch, vermittels des Gewaltmonopols auf Leben und Tod erzwungene Opfer der Individuen.
Entgegen dem Bekenntnis der parlamentarischen Linken zu Markt, Staat und Kapital, aber auch entgegen der naiven und gefährlichen Legende, eine gesunde Realwirtschaft sei der Habgier von Bankern zum Opfer gefallen, fanden in den letzten Monaten wiederholt Veranstaltungen statt, die daran erinnerten, dass die Ursachen für die viel zitierte Krise nicht in der Gier oder in ungenügenden Reglementierungen liegen, sondern auf eine strukturelle Analyse zu pochen sei. Eine Analyse, die darauf beharrt, dass Kapitalismuskritik eine Kritik der Normalität des Kapitalismus bedeutet – und auf der Erkenntnis, dass zu dieser Normalität auch die Krise gehört.
In Halle organisierten die kritischen Interventionen eine Veranstaltungsreihe zur Krisenhaftigkeit des Kapitalismus (mit Ernst Lohoff (Krisis), Daniel Späth (Exit!), Anton Landgraf und Hannes Bode als Referenten) und deren Folgen. In Bremen sprach Thomas Ebermann zum Verhältnis von Krise und Nationalismus. Beides wollen wir an dieser Stelle dokumentieren.
Stets kritisch, begibt sich Sachzwang FM diesmal in die Niederungen der sogenannten Realpolitik und beschäftigt sich mit der Euro-Schuldenkrise … Was passiert, wenn zu omnipräsentem ökonomischen Sachzwang die Niedertracht politischer Nötigung hinzutritt?
Die insgesamt vierstündige Doppelsendung beschäftigt sich in mehr oder weniger kurzen, analytischen und ideologiekritischen Episoden mit den politökonomischen Vorgängen im krisengeschüttelten, deutsch dominierten Europa. Der erste Akt enthält zwölf Beiträge aus der Zeit von Mai 2010 bis Oktober 2011.
Der zweite Akt beinhaltet sechzehn Beiträge – Reportagen, Analysen und Kommentare über die Installation der Technokraten – von November 2011 bis April 2012:
Am 17.05.2012 war JustIn Monday im Rahmen der vom »Exit!«-Lesekreis Hamburg organisierten Veranstaltungsreihe Rotten System! Rotten World? eingeladen über den Wandel des Rassismus in der Krise zu sprechen. Seine These ist, dass dem Rassismus von jeher ein Widerspruch eigen ist, der in der Krise bemerkbar wird. Ist in Prosperitätsphasen der Rassismus kolonialer Prägung von der Unterwerfung der als »naturhaft« imaginierten Anderen durch den sich selbst mit Geist/Kultur identifizierenden Weißen Mann gekennzeichnet, so schlägt er in der Rassenbiologie/-hygiene in Selbstrassifizierung um. Dass der Weiße Mann sich nun um seine eigene Naturdeterminiertheit in Gestalt der »Rassenreinheit« sorgt und den Geist in antisemitischer Weise als jüdisches Prinzip verteufelt, ist laut JustIn Monday als kapitalistische Krisenerscheinung zu verstehen. Im letzten Teil vollzieht er dies an Thilo Sarrazin nach (siehe dazu auch Deutschland bildet sich), zuvor zeigt er auf, in welche Probleme die antirassistische Theorie gerät, weil sie diesen Widerspruch innerhalb des Rassismus nicht bemerkt, geschweige denn historisch oder krisentheoretisch, begreift.
Download: Vortrag (1:22 h, 28 MB), Diskussion (0:12 h, 5 MB) via AArchiv | Original via minus (mp3, ogg, flac)
Bevor der Euro schließlich doch noch notgeschlachtet wird (oder sich vielmehr selbst erledigt), möchte ich hier auf einen Vortrag Gerhard Stapelfeldts vom 27. Mai 2011 hinweisen, der sich mit der politischen Ökonomie und Krise des Euro sowie mit dessen integrativer wie identitätsstiftender Funktion befasst. Er liegt als Audio- und als Video-Mitschnitt vor.
Allein schon Deutschland Part 2, diesmal mit der Gruppe Café Morgenland: via AArchiv (mp3; 19 MB; 33:13 min) — Vortrag zum nachlesen hier. Vor der Veranstaltung waren die Referenten beim FSK und haben dort über die Situation in Griechenland und Deutschland im Rahmen der Eurokrise gesprochen: hier und hier [via]. Das Café Morgenland ist nun außerdem mit einer monatlichen Kollumne auf FSK zu hören – die erste Kolumne zur Debatte über den »Rechtsterrorismus« (inkl. Diskussion) gibt es hier. Zum selben Thema war auf dem Freien Radio für Stuttgart ein Artikel vom Gegenstandpunkt zu hören – zum Nachhören: hier. Apropos »Rechtsterrorismus« – in Ungarn ist nach wie vor die Zeit zurückgedreht; Radio Corax berichtet hier.
Über die nationale Dynamik der Sarrazin-Debatte und ihre Geschichte
JustIn Monday wirft in diesem Vortrag einen Blick auf den Verlauf der sog. Sarrazin-Debatte, also auf die Äußerungen Thilo Sarrazins (»Deutschland schafft sich ab«) über Intelligenz, Vererbung und Integration sowie die Repliken, wie sie z. B. von Frank Schirrmacher (FAZ) vorgetragen worden sind. Es geht ihm dabei nicht darum, die Vorstellungen Sarrazins von links zu widerlegen. Vielmehr versucht er sich an einer ideologiekritischen und teilweise psychoanalytischen Deutung dieser Vorstellungswelt. Dazu stellt er einen Zusammenhang zu Denkern der »konservativen Revolution« (Oswald Spengler, Ortega y Gasset) und zur Krise der kapitalistischen Akkumulation her, auf welche erstere in den 1920/30er Jahren wie auch Sarrazin und einige seiner KritikerInnen heute ideologisch (rassistisch, sexistisch, nationalistisch usw.) reagier(t)en.
Der Vortrag wurde am 15. Oktober 2011 auf dem »EXIT!«-Seminar aufgezeichnet.
Norbert Trenkle (Autor der wertkritischen Zeitschrift „Krisis„) geht in seinem Vortrag vom populistischen Konsens aus, dass infolge der sogenannten Finanzkrise gespart werden müsse, um daran anschließend die Frage zu stellen, warum angesichts der enormen Reichtumsproduktion der kapitalistischen Weltgesellschaft ein Sparzwang unausweichlich scheint. Davon ausgehend erklärt er grundlegende Widersprüche der kapitalistischen Produktion und wieso die Krisenhaftigkeit den Wertvergesellschaftungsprozess unvermeidbar kennzeichnet.
Die globale Krise wird von den meisten Beobachtern auf die “entfesselte Spekulation” zurückgeführt, die von “gierigen Heuschrecken” angefacht worden sei. Tatsächlich jedoch ist die Aufblähung des Finanzüberbaus nicht Ursache, sondern Folgewirkung und Verlaufsform einer strukturellen Krise des Kapitalismus, die seit gut dreißig Jahren durch Kredit und Spekulation immer wieder aufgeschoben wurde. Diese Methode des Krisenaufschubs stößt nun an ihre Grenzen – mit dramatischen Folgen für die gesamte Gesellschaft. Nicht die “Spekulanten” sind das Problem, sondern der Widersinn einer Produktionsweise, die Reichtum nur als Abfallprodukt von Warenproduktion und Kapitalverwertung produziert. [via]
»Der kommende Aufstand«, ein viel diskutiertes und umstrittenes Pamphlet aus Frankreich, wurde in einer deutschen Übersetzung vertont und kann via FRN gehört/geladen werden. Eine Auseinandersetzung mit dem Text folgt hier später auch noch findet sich hier.
EDIT: Eine kleinere Fassung des Hörbuchs kann jetzt von uns bezogen werden:
1. Teil: Vorwort, Aus welcher Sicht, 1. bis 3. Kreis
Im Rahmen der vom Jugendhaus Erlangen in Kooperation mit der örtlichen VHS durchgeführten Veranstaltungsreihe »Krise und Ideologie« referierte Claus Peter Ortlieb (EXIT!) am 25.10.2010 über die inhärente Krisentendenz des Kapitalismus und ihre aktuelle Zuspitzung. Seine Ausführungen umfassten dabei auch Entgegnungen zur Kritik Michael Heinrichs.
Als weiterführende Literatur empfiehlt sich der ausführliche Aufsatz »Ein Widerspruch von Stoff und Form«.
In der anschließenden Diskussion, die hier ebenfalls dokumentiert wird, kamen unter anderem Daniel Späth, Roswitha Scholz und Robert Kurz zu Wort. Da aber das sonstige Publikum scheinbar zu einem nicht unbedeutenden Teil aus Propagandisten des Bedingungslosen Grundeinkommens, Zinsknechtsschaftsideologen u.Ä. bestand, ist dem Resümee des letztgenannten zuzustimmen: Die meisten Diskussionbeiträge befinden sich nicht annähernd auf dem Niveau des Vortrags (bzw. auf der Höhe des Problems).
Robert Kurz (»EXIT!«) stellt seine Theorie einer inneren Schranke der Kapitalakkumulation vor. Er bewegt sich dabei auf der kategorial-logischen Ebene des »Kapital im Allgemeinen«, nicht auf der Ebene der konkreten Krisenverläufe auf dem Weltmarkt. Am Rande gibt es einige Spitzen gegen die Neue Marxlektüre, besonders Michael Heinrich und Abgrenzungen zu früheren Krisentheorien (R. Luxemburg, H. Grossmann).