Ein Zusammenhang von Antisemitismus und ökonomischer Krise besteht zwar offenkundig, ist aber doch schwer zu bestimmen. Schließlich folgt Judenhass so wenig automatisch aus der Krise, wie er in Prosperitätszeiten abwesend wäre. JustIn Monday, dessen im März 2015 in Berlin gehaltenen Vortrag wir im folgenden dokumentieren, befasst sich mit dem Verhältnis von Latenz und Manifestation des Antisemitismus und bezieht dessen Wandlungen auf die Geschichte von Krisen und Krisenlösungen (in) der kapitalistischen Gesellschaft.
Eine der ersten Versionen von Moishe Postones bekanntem Aufsatz „Antisemitismus und Nationalsozialismus“ wurde 1982 in der Zeitschrift Merkur veröffentlicht und trug dort den Titel „Die Logik des Antisemitismus“. Der Grund für die Titelwahl dürfte gewesen sein, dass im Mittelpunkt von Postones Argumentation die Dialektik und somit die Logik der Wertform steht.
Allerdings steht die einseitige Betonung der Logik, die dem Aufsatz insgesamt nicht gerecht wird, in dessen Rezeption aber tatsächlich eine zentrale Rolle gespielt hat, in einem eigentümlichen Verhältnis zur Geschichte des Antisemitismus innerhalb derjenigen Gesellschaft, in der der Wert die Form der Herrschaft darstellt. Denn diese ist zwar seit ihrem Beginn von Antisemitismus durchzogen, nur wirkt der keineswegs so kontinuierlich, wie es eine Herleitung aus den elementaren Formen vermuten lässt.
Das antisemitische Denken unterliegt wie kein anderes Ressentiment der bürgerlichen Gesellschaft assoziativen Sprüngen und irrationalen Fixierungen, weshalb die Rede davon, dass er eine Logik hat, mindestens fragwürdig ist. Aber nicht nur der Inhalt der Ressentiments ist inkonsistent. Die in der Antisemitismusforschung übliche Unterscheidung zwischen latentem und manifestem Antisemitismus ist eine Reaktion darauf, dass die gesellschaftlichen Subjekte sich schubweise und relativ plötzlich in jene verfolgende Unschuld verwandeln, die sie als AntisemitInnen sind.
Diese Seite des Antisemitismus – und darum soll es in dem Vortrag gehen – verweist auf die Bedeutung der Krise bei der Entstehung des Antisemitismus. Es ist kaum zu übersehen, dass die Assoziationsketten, die die antisemitische Agitation tragen, mit antiliberalen Schuldzuweisungen an vermeintliche Krisenverursacher ansetzen, um in ihrem Fortgang zu einer Vorstellung von der Welt als Ganzem zu kommen, in dem „jüdisches Handeln“ im Mittelpunkt allen Geschehens stehen soll. Erst in der Reflexion auf die Denkformen, die den kapitalistischen Subjekten zur Verfügung stehen, um die Krisentendenz ihrer Gesellschaft zu begreifen, lassen sich sowohl die stereotype politökonomische Systematik des Antisemitismus erkennen als auch die scheinbar vermittlungslos unsystematischen, hasserfüllten Affekte des antijüdischen Unbewussten wahrnehmen und zurückweisen. Ein Zusammenhang, der im Vortrag anhand einer Übersicht über die Geschichte des Antisemitismus entfaltet werden soll. [via Gebrochene Totalität]
Vom 26.-29. Oktober 2013 richtete die Gruppe »Exit!« ihr Jahresseminar unter dem etwas schlicht formulierten Thema »Gesellschaftliche Naturverhältnisse« aus. Im Folgenden werden alle vier Vorträge dokumentiert, die sich unter unterschiedlichen Gesichtspunkten (Ökonomie, Ökologie, Wissenschaft, Ideologie, Subjekt) mit einer Kritik der historischen wie gegenwärtigen Naturverhältnisse des warenproduzierenden Patriarchats befassten.
Die Mitschnitte sind, größtenteils auch in kleineren ogg-Versionen, ebenfalls auf archive.org zu finden (dort auch alles auf einmal als Zip-Archiv, knapp 400 MB). Bei den Vortragenden handelt es sich mit Ausnahme Karina Koreckys um Exit!-Redakteure. Die dokumentierten Diskussionen enthalten Beiträge u.a. von JustIn Monday und Roswitha Scholz.
Seminarankündigungstext von Roswitha Scholz:
Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks erlebte der Kasinokapitalismus in den 1990er Jahren seinen Höhepunkt. In diesem Kontext stellten sich auch linke und feministische Theoriebildung auf kulturalistische und dekonstruktivistische Konzepte um. „Natur“ und eine wie auch immer verstandene „Materie“ waren als Beschäftigungsgegenstand weithin suspendiert, ja geradezu verpönt. Man/frau trug stets die Essentialismus-Keule bei sich. In den 2000er Jahren änderte sich dies, nicht zuletzt die Finanzkrise von 2008 machte deutlich, dass objektive und „materielle“ Problemlagen nicht mehr selbstverständlich zurückgewiesen werden können. Nun drängten auch liegen gelassene ökologische Fragen wieder in den Vordergrund, ausgehend von Skandalisierung der Klimaveränderung. Allerdings sind postmoderne Schlacken in großen Teilen der Ökologie-Debatte noch deutlich sichtbar: So etwa im linksfeministischen Kontext: „Ziel der sozial-ökologischen Forschung ist es, Wissensinhalte in Bezug auf konkrete Problemlagen zu generieren, die es ermöglichen, praktisch verändernd in die Welt einzugreifen. Dementsprechend beansprucht das Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse keine universalisierende Welterklärung, sondern die Generierung kontextualisierten Gestaltungswissens. Gesellschaftliche Naturverhältnisse werden in ihrer Pluralität betrachtet und es wird zwischen einer Vielzahl gesellschaftlicher Naturverhältnisse differenziert – es gibt nicht das singuläre gesellschaftliche Naturverhältnis.“ (Diana Hummel/Irmgard Schulz, Hervorheb.i.O.)
Wenn wir von gesellschaftlichen Naturverhältnissen sprechen, geht es um etwas anderes, nämlich um das Verhältnis von Natur und kapitalistischem Patriarchat, das sich nicht in postmoderne Pluralität auflösen lässt. Ökologische Probleme können unter kapitalistischen Bedingungen nicht gelöst werden; darüber hinaus weisen neue ökologische Bewegungen starke ideologische Momente auf, die bei fortschreitender Krise ihr Destruktionspotential erst voll entfalten könnten, wie anhand der Postwachstumsbewegung aufgezeigt wird. Außerdem werden Überlegungen zum Androzentrismus in der Geschichte der Naturwissenschaften und zur „Natur des Subjekts und des Staates“ angestellt.
1. Claus Peter Ortlieb: Kapitalistische Krise und Naturschranke
Claus Peter Ortlieb leitete das Seminar ein mit recht umfangreichen Ausführungen zu aktuellen Positionen, die den Zusammenhang von kapitalistischer Ökonomie, Wachstumszwang und den Grenzen der ökologischen Belastbarkeit der natürlichen Umwelt thematisieren – und meist verfehlen. Der Vortrag enthält einige Zwischen- und eine Abschlussdiskussion, die ebenfalls dokumentiert sind. Der eingangs erwähnte Konkret-Artikel zum selben Thema ist mittlerweile online verfügbar.
Anders als die ökonomische Krise, die in der bürgerlichen Öffentlichkeit als vorübergehende Erscheinung gedeutet wird, wird die ökologische Krise dort durchaus als Grundproblem der modernen Lebensweise wahrgenommen. Allzu offensichtlich ist der Widerspruch zwischen den ökonomischen Wachstumsimperativen auf der einen und der Endlichkeit der stofflichen Ressourcen auf der anderen Seite. Solange allerdings die kapitalistische Produktionsweise für so natürlich gehalten wird wie die Luft zum Atmen, beruhen alle Problemlösungen auf Fiktionen: Während die einen die Naturschranke unter Hinweis auf den technischen Fortschritt als nicht existent vom Tisch wischen, vernachlässigen oder verniedlichen die anderen die systemischen Zwänge und halten allen Ernstes einen Kapitalismus ohne Wachstum für möglich. Dazwischen versucht eine Mehrheit, das Problem durch die Kreation logisch unverträglicher Begriffe wie den des „nachhaltigen Wachstums“ zu vernebeln und sich so die Vereinbarkeit des Unvereinbaren einzureden.
Zur Klärung der Frage, was da eigentlich so zwanghaft wächst, sollen im Referat die im Laufe der kapitalistischen Entwicklung dynamisch sich verändernden Beziehungen zwischen Mehrwertproduktion, stofflichem Output und Ressourcenverbrauch und die aus ihnen resultierenden Wachstumszwänge untersucht werden. Dabei zeigt sich, dass ökonomische und ökologische Krise einerseits dieselbe Ursache in dem immer weiteren Auseinandertreten von stofflichem und abstraktem Reichtum haben. Auf der anderen Seite geraten die innerkapitalistischen Lösungsversuche für beide Krisen miteinander zunehmend in Widerspruch: Während etwa im Rezessionsjahr 2009 die weltweite CO2-Emission tatsächlich leicht zurückging, laufen die vergeblichen Versuche zur Bewältigung der ökonomischen Krise darauf hinaus, noch die letzten natürlichen Schranken gewaltsam zu durchbrechen.
2. Johannes Bareuther: Überlegungen zum Androzentrismus der naturbeherrschenden Vernunft
Die Naturwissenschaften, die das Wissen zur Naturbeherrschung liefern können, tauchen in den Debatten, die sich auf die Kritische Theorie beziehen, in den letzten Jahren nur selten auf. Dankenswerterweise erinnert daher Johannes Bareuther mit seinen Überlegungen zum Androzentrismus der naturbeherrschenden Vernunft an einige Texte und Diskussionen zur Kritik der Naturwissenschaften. Hervorgehoben wird etwa ein unvollendetes Meisterwerk (Fabian Kettner) aus dem Jahr 2004: Eske BockelmannsIm Takt des Geldes, ein Buch, das anhand der Taktlehre aufzeigen konnte, wie Geld das Denken von seinen Grundlagen her bestimmt. Rhythmus nach betont/unbetont erscheint als etwas ganz Natürliches, ist aber erst seit dem 17. Jahrhundert Norm. Das Referat arbeitet die Grenzen der Untersuchung Bockelmanns sowie den Zusammenhang von Geschlecht und Wissenschaft heraus und nimmt Bezug auf einen älteren Aufsatz von Claus Peter Ortlieb.
Dass ein enger Zusammenhang zwischen der Entstehung der neuzeitlichen Naturwissenschaften und der kapitalistischen Vergesellschaftung besteht, aus dem sich auch deren destruktive Tendenzen erklären, diese Ahnung treibt schon länger TheoretikerInnen um. 2004 wies Eske Bockelmann in überzeugender Weise nach, dass sich die gesetzesförmige Naturerkenntnis der klassischen Mechanik einer an der Ware-Geld-Beziehung erlernten Abstraktionsleistung verdankt. Nicht in den Blick gerät in seiner Studie (wie in vielen anderen Wissenschaftskritiken) jedoch, welch konstitutive Rolle dem sich in derselben Zeit umwälzenden Geschlechterverhältnis hinsichtlich den naturwissenschaftlichen Denk- und Praxisformen zukam. Und dies, obwohl feministische Theoretikerinnen wie Elvira Scheich und Evelyn Fox Keller diesem Zusammenhang auf unterschiedlichen Ebenen bereits seit den 1980er Jahren nachgegangen sind. Keller untersuchte u. a. die geschlechtliche Metaphorik in den Schriften Francis Bacons, der von Bockelmann wie schon zuvor von Adorno/Horkheimer als Kronzeuge des modernen Programms wissenschaftlicher Naturbeherrschung herangezogen wird. Scheich wiederum knüpft in ihrem Buch Naturbeherrschung und Weiblichkeit (1993) an Sohn-Rethels Versuche an, die Entstehung der Naturwissenschaft aus der formalen Vergesellschaftung über das Geld zu erklären. Dabei erweitert sie Sohn-Rethels androzentrische Perspektive um die Dimension der abgespaltenen, unbewusst gemachten Gesellschaftlichkeit des Geschlechterverhältnisses und hebt die Bedeutung des Phantasmas der Weiblichkeit für das wissenschaftliche Naturverhältnis der Moderne hervor.
Der Vortrag möchte, an die feministische Wissenschaftskritik anknüpfend, einige Überlegungen vorstellen, wie eine wert-abspaltungs-theoretisch akzentuierte Kritik der Naturwissenschaft aussehen kann, wobei der Schwerpunkt auf der historischen Konstitutionsphase um das 17. Jahrhundert liegen wird.
Literatur:
Bockelmann, Eske (2004): Im Takt des Geldes: Zur Genese modernen Denkens. 1., Aufl. Springe: Zu Klampen.
Braun, Kathrin; Kremer, Elisabeth (1987): Asketischer Eros und die Rekonstruktion der Natur zur Maschine. Oldenburg: Bibliotheks- u. Informationssystem d. Univ. Oldenburg (Studien zur Soziologie und Politikwissenschaft).
Keller, Evelyn Fox (1986): Liebe, Macht und Erkenntnis. Männliche oder weibliche Wissenschaft. Carl Hanser.
Merchant, Carolyn (1987): Der Tod der Natur. Ökologie, Frauen und neuzeitliche Naturwissenschaft. C.H. Beck Verlag.
Ortlieb, Claus Peter (1998): „Bewusstlose Objektivität – Aspekte einer Kritik der mathematischen Naturwissenschaft“. In: Krisis. (21/22).
Scheich, Elvira (1993): Naturbeherrschung und Weiblichkeit: Denkformen und Phantasmen der modernen Naturwissenschaften. Pfaffenweiler: Centaurus (Feministische Theorie und Politik).
Scheich, Elvira (1990): „„Natur“ im 18. Jahrhundert und die Bestimmung der Geschlechterdifferenz“. In: Gerhard, Ute; Jansen, Mechtild; Andrea, Maihofer; u. a. (Hrsg.) Differenz und Gleichheit. Menschenrechte haben (k)ein Geschlecht. Frankfurt am Main: Ulrike Helmer Verlag.
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3. Karina Korecky: »Man nennt mich Natur und ich bin doch ganz Kunst«: Zur Natur des Subjekts und des Staates
Karina Korecky widmet sich der Geschichte des bürgerlichen Naturverhältnisses auf der Ebene der politischen Theorie. Die »innere Natur des Menschen«, die in den Vertragstheorien seit Hobbes als Voraussetzung des politischen Gemeinwesens, bürgerlicher Subjektivität und Rechtsgleichheit begriffen worden ist, verlor im Zuge der »Biopolitik« des »autoritären Staates« den Charakter einer positiven Berufungsinstanz und wurde folgerichtig im 20. Jh. zum Gegenstand rücksichtsloser »Dekonstruktion«. Wie angesichts dieser historischen Konstellation noch ein »Eingedenken der Natur im Subjekt« (Horkheimer/Adorno) möglich ist, ohne Natur zur Parole verkommen zu lassen, ist die letztlich unbeantwortbar bleibende Frage des Vortrags, der an vielen Stellen sympathisch-unsichere, fragende, aporetische Züge trägt.
Wer in kritischer Absicht von den Gründen für Unfreiheit, Unterdrückung und Diskriminierung spricht, verortet diese normalerweise in der Gesellschaft oder im Sozialen, keineswegs in der Natur. Alles, was gesellschaftlich, sozial, gemacht oder konstruiert ist, kann verändert werden, während „Natur“ Ungleichheit und Zwang verfestigt und legitimiert. Einst war das genau anders herum: Die Natur war gut und ihr zum Durchbruch zu verhelfen Programm der Aufklärung zur Durchsetzung von Freiheit und Gleichheit.
Die freundliche Natur der Aufklärung des ausgehenden 18. Jahrhunderts wurde zweihundert Jahre später zur Berufungsinstanz für Ungleichheit. Wer heute für gleiche Rechte kämpft, kritisiert „Naturalisierung“ und „Biologismus“. Am konsequentesten – sozusagen als Aufklärung mit umgekehrten Vorzeichen – geht dabei der linke Poststrukturalismus vor, der eine klare Feinderklärung an Natur abgibt und auf die Fähigkeiten des Geistes zur (De-)Konstruktion setzt. Demgegenüber steht in der linken Debatte ein eher hilfloser und vage bleibender Verweis auf Natur als das unverfügbare Moment, das sich sperrt, nicht aufgeht im beherrschenden Zugriff – manchmal verbunden mit der Hoffnung, da möge es ein Außen der gesellschaftlichen Totalität geben, vielleicht sogar einen Ausgangspunkt, an dem der revolutionäre Hebel angesetzt werden kann.
Der Vortrag handelt von der inneren Natur als Voraussetzung von Subjekt (Natur des Menschen) und Staat (Naturzustand) und ihrer Geschichte. Gezeigt werden soll, dass Materialismus nicht heißen kann, nach dem richtigen Naturbegriff zu suchen, sondern die Geschichte des Verhältnisses von Geist und Natur zu erzählen: von der Befreiung versprechenden Natur zur Biopolitik des autoritären Staates.
4. Daniel Späth: Postwachstumsbewegung: Eine Variante (links)liberaler Krisenverdrängung
Daniel Späth sprach noch einmal (siehe Mitschnitt aus Halle) über die verschiedenen Varianten linker und liberaler »Wachstumskritik«, die er in einen Zusammenhang mit der Aufklärungsphilosophie stellt.
Es ist ein Wesensmerkmal des linken ideologiekritischen Reduktionismus, sich in den vielfältigen Polaritäten moderner Subjektivität einzurichten und damit Freiheit im Sinne Adornos, als kritische Verweigerung gegenüber den herrschenden Alternativen, der Partikularität zu überantworten. Ob nun der Idealismus zu einem Materialismus (Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt) oder aber der Subjektivismus zu einem Objektivismus („Historischer Materialismus“) gewendet wird, das Resultat ist immer dasselbe: Als kritische Weiterentwicklung der bürgerlichen Vernunft apostrophiert, desavouiert sich der identitätslogische Anbau an der modernen Theoriearchitektur nicht etwa als transzendierende Kritik, sondern regelmäßig als ein immanenter Widerpart. Dieser Reduktionismus blamiert sich insbesondere in der Krise des warenproduzierenden Patriarchats. Der westliche Linksradikalismus, der statt der Fundamentalkrise überall „Chancen“ und „Aushandlungsoptionen“ wittert, hat die realgeschichtlichen Metamorphosen der Aufklärungsvernunft nicht überwunden, welche vielmehr zum unhinterfragbaren Selbstverständnis sedimentierte. Der weithin neoliberalisierten Linken scheinen sich quasi naturwüchsig neue Alternativen zu eröffnen: „Aufklärung“ versus „Gegenaufklärung“, „Vernunft“ versus „Unvernunft“, „Liberalismus“ versus „Volkstum“ etc., wobei, der identitätslogischen Versessenheit folgend, erstere gerne dem „rationalen Westen“ und letztere irgendwelchen „irrationalen Banden“ zugeordnet werden, wodurch der eigene männlich-westliche, weiße Standpunkt wieder mal fein raus ist.
Einer derart verkürzten „Ideologiekritik“ muss die „Postwachstumsbewegung“ als Wiederkehr eines ausgemacht völkischen Denkens gelten. Schließlich operieren ihre VertreterInnen nicht nur mit einem positiven Naturbegriff, darüber hinaus verweisen die diversen Begründungsmodi eines „falschen Wachstums“ auf eine strukturell antisemitische Ideologie, deren Ursachendiagnostik bezüglich der Krise sich ausschließlich auf das dämonisierte Finanzkapital und den inkriminierten Zins kapriziert. Für die assoziative Grundgesinnung des postmodernisierten Linksradikalismus bedürfte es hierbei keinerlei dialektischer Begründung mehr, zumindest dort, wo derartige Sachverhalte noch einem Anspruch der Kritik unterliegen: Naturversessenheit und struktureller Antisemitismus – na, wenn das kein völkisches Denken ist… Allerdings handelt es sich hierbei um einen Trugschluss. Denn dass struktureller Antisemitismus und ein problematischer Naturbegriff gleichwohl zu Bestandteilen liberaler Gesinnung gerinnen können, soll an ausgewählten Texten jener „Postwachstumsbewegung“ rekonstruiert werden. In diesem Sinne wird der erste Teil des Vortrags einen erkenntnis- und ideologiekritischen Durchgang durch zentrale Referenztheorien der Postwachstumsideologie (Immanuel Kant/ Silvio Gesell) versuchen, um den gemeinsamen epistemologischen Bezugsrahmen einer liberalen Zins- bzw. Geld„kritik“ offenzulegen, um sodann ihre zentrale Kategorie in den Fokus zu rücken: Die Natur. Auch weitere wichtige Aspekte der Postwachstumsbewegung (Regionalwährung, quasi subsistenzwirtschaftliche Arbeitsformen, neue Maßstäbe des Wachstums etc.) werden dabei einer Kritik unterzogen und in den Kontext der Fundamentalkrise gerückt, deren konstitutiver Bedingungszusammenhang für jene liberale „Kritik“ des Wachstums evident ist.
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Wir dokumentieren im Folgenden die Aufzeichnungen dreier Vorträge, die Anfang Oktober 2012 auf dem Jahresseminar der wert-abspaltungs-kritischen Theoriezeitschrift EXIT! Krise und Kritik der Warengesellschaft gehalten worden sind.
Alle Aufnahmen sind auch auf Archive.org zu finden.
1. Georg Gangl: Geld und Zeichen. Eine kleine Ideologiegeschichte
Georg Gangl nimmt sich in seinem Vortrag linker Theorien an, die das Geld als bloßes Zeichen begreifen. Nach einem Abriss der Marxschen Geldtheorie gibt einen Überblick über die Geschichte moderner Sprach- und Zeichentheorien im Kontext subjektivistischer Ökonomie, angefangen bei Ferdinand de Saussure. Im Hauptteil steht dann Derridas Geldtheorie im Zentrum der Kritik. Die Diskussion (mit Beiträgen u.a. von JustIn Monday und Roswitha Scholz) kreist u.a. um das Verhältnis solcher Theorien zur Krisenentwicklung und zum Antisemitismus.
Anfang Juni hieß es in einem Kommentar in der „Taz“, dass Geld kein Apfel sei, sondern eine soziale Konstruktion, die sich schlussendlich auf Vertrauen gründe. Diese Gegenüberstellung ist in ihrem einfachen Gegensatz (Geld als Ding vs. Geld als soziale Konstruktion) leicht als kapitalistische Ideologie zu dechiffrieren. Und in der Tat gibt es im Kapitalismus die ideologische Tendenz, Kategorien von gesamtgesellschaftlicher Geltung zu subjektivieren und der gar nicht mehr so neue Schrei in diesem Arsenal ist die soziale Konstruktion, die sich, wenn es politisch wird, auf Vertrauen reduzieren lassen soll. Nun musste sich bereits Marx im ersten Band des Kapitals, bei der fundamentalen Bestimmung der Geldware, nicht nur mit Theoretikern herumschlagen, die meinten, Geld sei nichts Anderes als ein Apfel, sondern auch mit solchen, die Geld als reines „Zeichen“ – und somit als „soziale Konstruktion“ – begriffen. In der „beliebten Aufklärungsmanier des 18. Jahrhunderts“, so Marx, erkannten diese Theoretiker, dass die „Geldform des Dings (…) bloße Erscheinungsform dahinter versteckter menschlicher Verhältnisse“ sei, welche von ihnen aber sogleich „für willkürliches Reflektionsprodukt der Menschen“ erklärt würde.
Diese Kritik ist auch heute noch gegen die modernen ZeichentheoretikerInnen des Geldes hochzuhalten, auch wenn die Marxsche Kulanz gegenüber den ideologiekritisch-aufklärerischen Aspekten der Geldkritiken des 18. Jahrhunderts gegenwärtig nicht mehr angebracht scheint. Denn eine Betonung des Konstruktionscharakters des Geldes geht in der kapitalistischen Ideologiegeschichte nur allzu leicht einher mit dem Benennen von angeblichen Schuldigen, die mit ihren vorgeblichen Machinationen das so wichtige Vertrauen in „unsere“ Konstruktion namens Geld arglistig hintertreiben.
Im Vortrag soll es schwerpunktmäßig um moderne Formen der Zeichentheorie des Geldes gehen, die von einem linguistisch-semiotischen Standpunkt aus argumentieren. Ausgang nimmt diese Art der Geldtheorie von Ferdinand de Saussures Linguistik. Als solche hatte sie zu Marxens Zeiten noch keinen Bestand, aber seine Kritik an der Willkürlichkeit der Zeichentheorien seiner Zeit scheint auch in diesem Fall treffend zu sein. In dieser Hinsicht ist nicht nur De Saussures Verhältnis zu Vilfredo Pareto von Interesse, sondern auch die späteren Weiterentwicklungen dieses ideologischen Gepräges in den Theorien von Jean Baudrillard, Jacques Derrida und Micheal Hardt und Antonio Negri. Dabei sollte klar werden, dass diese „linke“ Form der Geldtheorie und -kritik mit ihrem rechten Gegenpart mehr gemein hat als ihr selbst lieb sein kann und dass sie, akzeptiert bis weit in den bürgerlichen Mainstream, zu nichts Anderem führt als der sozialdemokratischen Illusion einer „demokratischen Kontrolle der Währung“.
2. Peter Bierl: Einige gute Aktionen, neunundneunzig Prozent falsche Analysen. Eine Zwischenbilanz zur Occupy-Bewegung
Seinen Vortrag zur Kritik der Occupy-Bewegung und ihrer ideologischen Elaborate beginnt Peter Bierl mit einem Überblick über die unterschiedlichen Protestbewegungen in verschiedenen Ländern, welche diesem Label zugeordnet werden. Anschließend widmet er sich ideologiekritisch David Graebers Buch Schulden. Die ersten 5000 Jahre.
Die Demonstranten, die in Athen protestierten und im Frühjahr 2011 den Tahrir-Platz in Kairo besetzten, inspirierten Menschen in der ganzen Welt. Den Anfang machten Jugendliche in Spanien und Israel. Aus der Besetzung des Zuccotti-Parks nahe der Wallstreet in New York im September leitet sich der Name für eine neue Bewegung ab: Occupy. Sie verzichtet bislang auf Forderungskataloge im Unterschied zu Globalisierungskritikern und traditionellen Linken. Die Bewegung ist zumindest in den USA und Spanien anarchistisch beeinflusst.
Statt einer sozialdemokratischen Einhegung des Kapitalismus stehen der direkte Anspruch auf Gebrauchswerte und eine direkte Demokratie im Vordergrund. Anstelle des Gipfelhopping der Globalisierungskritiker engagieren sich spanische „Empörte“ ebenso wie Occupy in den USA in Alltagskämpfen: gegen den Abbau von Gesundheitszentren und Bildung, gegen Polizeiterror gegen illegale Einwanderer (Spanien), gegen Zwangsräumungen und Zwangsversteigerungen von Häusern, für Gewerkschaftsrechte (USA). Ihre Methoden sind die direkte Aktion und der zivile Ungehorsam. Das sind erfreuliche Aspekte. In Deutschland dagegen beschränkte sich Occupy aufs Zelten, obskure Gruppen wie die Zeitgeist-Bewegung und die marktradikalen Anhänger der Zinstheorien Silvio Gesells mischen mit.
Occupy pflegt wie viele Linke und Globalisierungskritiker einen regressiven Antikapitalismus. Dazu gehören falsche Vorstellungen von einem Gegensatz zwischen Finanzkapital und „Realwirtschaft“ und dass gierige Banker und Börsianer für alle Übel der Welt verantwortlich wären, was einem verbreiteten Unbehagen in der Bevölkerung entspricht und nach rechtsaußen anschlussfähig ist. Praktisch drückt sich das in Camps im Frankfurter Bankenviertel oder an der Wallstreet aus. Der Anthropologe David Graeber verstellt eine stringente Kritik des Kapitalismus schon im Ansatz, insofern er die Marxsche Werttheorie verwirft. Stattdessen entwickelt er konfuse Vorstellungen über Schulden und Schuldenerlass. Geben-und-Nehmen in Familie, Nachbarschaft, Dorf und Stadtviertel gilt ihm als Kommunismus und zusammen mit Warentausch und Hierarchien als Basis menschlichen Zusammenlebens. Solche Verklärungen schätzt das bürgerliche Feuilleton und feiert Graeber als Mastermind der Bewegung.
In dem Vortrag sollen die Occupy-Bewegung und ihre länderspezifischen Ausprägungen, Aktionen und Strukturen skizziert und die Diagnosen und Perspektiven der Bewegung, ihrer Vertreter und Bezugspersonen kritisch analysiert werden.
3. JustIn Monday: Money makes the mind go round. Spekulationen zur Frage, welche Form der Erkenntnis in der gegenwärtigen Krise zerfällt
JustIn Monday geht in seinem Beitrag u.a. der Frage nach, was passiert, wenn der Alltagsverstand in der Krise sein praktisches Wissen im Umgang mit Geld aufgibt zugunsten eines Erkenntnisinteresses, das sich auf Geld und Geldsystem selbst richtet.
Vom Geld wird in der bürgerlichen Nationalökonomie entweder so gesprochen, als sei es die natürlichste Sache der Welt, oder aber reine Künstlichkeit. Entweder nichts besonderes, oder aber vom Teufel. Erstere Linie geht vom Liberalismus aus und endet bei und mit Keynes. In Adam Smiths Kapitel „Vom Ursprung und der Verwendung des Geldes“ ist Geld schlichtweg die nützlichste Erfindung seit Adam und Eva, weil ansonsten alle Gesellschaftsmitglieder in unpraktisch verschiedenen Einheiten tauschen müssten. Im Hinblick auf diese Eigenart, durch die Wertform der Waren unmittelbar evident gegeben und gleichzeitig der Erkenntnis entzogen zu sein, entwickelte Marx seine Analyse vom Fetischcharakter der Waren. Erkenntnistheoretisch thematisiert wird darin die Grenze der Erkennbarkeit der Welt in der Wertform, wovon die naturwüchsige Entstehung des Geldes Zeugnis ablegt.
Im wesentlichen blieb es bis Keynes bei dieser Konstellation. Einerseits verlängerte dieser die liberale Linie, weil er in „Die wesentlichen Eigenschaften von Zins und Geld“, dem einschlägigen Kapitel in seinem epochemachenden Hauptwerk, Geld ebenfalls als naturwüchsig voraussetzt. Was verwundert, denn immerhin soll es sich dabei um die „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ handeln. Gleichzeitig beendete er die liberale Linie aber auch, weil er diejenigen Eigenarten des Geldes herausarbeitete, die es von allen anderen Waren unterscheidet. Betont wurde nicht mehr seine Allgemeinheit, herausgestellt wurden vielmehr seine Spezifika. Dies lief auf nichts anderes hinaus als aufs bewusste Ende des laissez-faire. Darauf, die geldpolitische Kontrollierbarkeit der Gesetze der Wertform unmittelbar evident zu machen, nachdem die Weltwirtschaftskrise die Notwendigkeit, dies zu tun, auf die Tagesordnung gesetzt hatte.
Das allgemeine Äquivalent, das permanent gegen seinen eigenen Realismus verstoßen hatte, weil es in der Realität immer auch nationale Währung war, verwandelte sich so in nationale Währungen, die nur Bestand haben konnten, solange die nun wesentlich gewordene Geldpolitik es ihnen ermöglichte, als allgemeines Äquivalent erhalten zu bleiben. Das Geld als nationale Währung ist seitdem das Ebenbild jener gesellschaftlichen Konstruktion, als die das Erkenntnissubjekt in den Sozialwissenschaften von der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an bis heute behandelt wird. Aus der „baren Münze des Apriori“ (Alfred Sohn-Rethel) wurde das Gehalt der Angestellten des Bretton-Woods-Systems, deren erkenntnistheoretischer Relativismus dem System der Wechselkurse entspricht, dass sie verwalten. Seit dem Zusammenbruch des Systems noch zwanghafter als zuvor. Sie scheitern an der Reflexion der herrschaftlichen Genesis dieser Konstruktionen mit der gleichen Notwendigkeit wie ehemals der Liberalismus an Wertform und Geld sowie die idealistische Erkenntniskritik an derjenigen des autonomen Subjekts.
Weil zudem die geldpolitische Kontrollierbarkeit der Gesetze der Wertform aber nicht gegeben ist, musste und muss das Geld im Übergang von nationaler Währung und allgemeinem Äquivalent (und zurück) ausgetrieben werden, als sei es vom Teufel. Die unmittelbare Variante hiervon ist die esoterische Geldkritik, die in den letzten Jahren deutlich an Verbreitung gewonnen hat. Ihre grausame Verallgemeinerung ist der Antisemitismus, in dem die tatsächliche Unkontrollierbarkeit der vermeintlichen Übermacht der Juden zugeschoben wird. Er entsteht auch heute wieder im Zerfall der Erkenntnisform des Subjekts in der Krise. Diesmal aber, in seiner antizionistischen Variante, als Symptom der Unhaltbarkeit der zivilen Institutionen des Weltkapitals.
Am 18.7.2012 starb Robert Kurz im Alter von 68 Jahren. Mit ihm verliert die radikale Linke einen ihrer produktivsten wie innovativsten Theoretiker und Kritiker. Seine Analysen waren meist umstritten, aber stets von einer heute alles andere als selbstverständlichen Tiefe. War sein Tonfall zuweilen nicht frei von Polemik, so wurde sie ihm doch nie zum Selbstzweck. Schriften wie das Schwarzbuch Kapitalismus, deren Eindringlichkeit sich nicht zuletzt aus dem ungemilderten Hass aufs Bestehende und dessen Irrationalität speisten, brachten mich und sicher auch viele andere der Wert- und Abspaltungskritik näher und regten zum Weiterlesen, -fragen, -denken an. Robert Kurz und sein unbeirrbar kritischer Geist werden zweifellos fehlen in geistlosen Zuständen, die mehr denn je einer radikalen Kritik bedürfen. Ihm sind die folgenden Beiträge gewidmet.
1. Nachruf von Roger Behrens mit anschließendem Interview von 2006.
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2. Collage von FSK Hamburg. Eine Stunde, gefüllt mit Erinnerungen, Würdigungen sowie teilweise kommentierten Zitaten des Verstorbenen. Mit Beiträgen u.a. von JustIn Monday, Günther Jacob, Daniel Späth.
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3. »Proletarier aller Länder, macht Schluß!«
Das Manifest gegen die Arbeit der Gruppe Krisis stammt aus dem Jahre 1999 und ist im gleichen Zeitraum von der Redaktion 3 [FSK] eingelesen worden.
Download: Teil 1 (19 MB), Teil 2 (20 MB) via AArchiv | via FRN (~2 h, 103 MB)
Zum Schluss noch der Hinweis darauf, dass das neue Buch von Robert Kurz im Erscheinen begriffen ist.
Am 17.05.2012 war JustIn Monday im Rahmen der vom »Exit!«-Lesekreis Hamburg organisierten Veranstaltungsreihe Rotten System! Rotten World? eingeladen über den Wandel des Rassismus in der Krise zu sprechen. Seine These ist, dass dem Rassismus von jeher ein Widerspruch eigen ist, der in der Krise bemerkbar wird. Ist in Prosperitätsphasen der Rassismus kolonialer Prägung von der Unterwerfung der als »naturhaft« imaginierten Anderen durch den sich selbst mit Geist/Kultur identifizierenden Weißen Mann gekennzeichnet, so schlägt er in der Rassenbiologie/-hygiene in Selbstrassifizierung um. Dass der Weiße Mann sich nun um seine eigene Naturdeterminiertheit in Gestalt der »Rassenreinheit« sorgt und den Geist in antisemitischer Weise als jüdisches Prinzip verteufelt, ist laut JustIn Monday als kapitalistische Krisenerscheinung zu verstehen. Im letzten Teil vollzieht er dies an Thilo Sarrazin nach (siehe dazu auch Deutschland bildet sich), zuvor zeigt er auf, in welche Probleme die antirassistische Theorie gerät, weil sie diesen Widerspruch innerhalb des Rassismus nicht bemerkt, geschweige denn historisch oder krisentheoretisch, begreift.
Download: Vortrag (1:22 h, 28 MB), Diskussion (0:12 h, 5 MB) via AArchiv | Original via minus (mp3, ogg, flac)
Kritische Theorie, Geschlechterverhältnis und Aufklärungskritik
Adornos Gesellschaftskritik ist im Zuge einer allgemeinen Marxrenaissance wieder in aller Munde. Kritische Theorie war allerdings vor dem „cultural turn“ schon einmal zentraler Ausgangspunkt feministischen Denkens. Vernachlässigt wurde dabei jedoch die Kritik der gesellschaftlichen Formbestimmung; den Bezug bildete vor allem die soziologisch-analytische Dimension. Demgegenüber gilt es heute, die grundlegende Kritik der Wert-Abspaltung, also des Zusammenhangs von allgemeiner Form und Geschlechterverhältnis, im Hinblick auf die Theorie Adornos zu thematisieren. Dabei werden auch Aspekte einer Aufklärungskritik berücksichtigt, die übrigens in der Vor-Gender-Phase des Feminismus ansatzweise bereits vorhanden war, im veränderten Kontext allerdings neu zu formulieren ist.
Zunächst zeichnet Roswitha Scholz (Exit!) in diesem im August 2011 aufgezeichneten Referat einige Ansätze feministischer Adorno/Horkheimer-Rezeption und -Kritik im deutschsprachigen Raum nach, um zu zeigen, dass in diesen sowohl die Aufklärungskritik als auch die Ebene der basalen gesellschaftlichen Formbestimmung zu kurz gekommen oder falsch gefasst worden ist. Im zweiten Teil knüpft sie an einschlägige Passagen aus der Dialektik der Aufklärung an; im dritten akzentuiert sie die Bedeutung einer Kritik der Aufklärung im Kontext der Wert-Abspaltungs-Kritik. Die Diskussion kreist um das Verhältnis und den jeweiligen Status von (aufklärerischer) Erkenntnistheorie, »Relationalität« und Dialektik. Die Diskussionsbeiträge stammen u.A. von JustIn Monday, Georg Gangl und Daniel Späth.
Über die nationale Dynamik der Sarrazin-Debatte und ihre Geschichte
JustIn Monday wirft in diesem Vortrag einen Blick auf den Verlauf der sog. Sarrazin-Debatte, also auf die Äußerungen Thilo Sarrazins (»Deutschland schafft sich ab«) über Intelligenz, Vererbung und Integration sowie die Repliken, wie sie z. B. von Frank Schirrmacher (FAZ) vorgetragen worden sind. Es geht ihm dabei nicht darum, die Vorstellungen Sarrazins von links zu widerlegen. Vielmehr versucht er sich an einer ideologiekritischen und teilweise psychoanalytischen Deutung dieser Vorstellungswelt. Dazu stellt er einen Zusammenhang zu Denkern der »konservativen Revolution« (Oswald Spengler, Ortega y Gasset) und zur Krise der kapitalistischen Akkumulation her, auf welche erstere in den 1920/30er Jahren wie auch Sarrazin und einige seiner KritikerInnen heute ideologisch (rassistisch, sexistisch, nationalistisch usw.) reagier(t)en.
Der Vortrag wurde am 15. Oktober 2011 auf dem »EXIT!«-Seminar aufgezeichnet.
Auf dem diesjährigen Sommerworkshop des Wert-Abspaltungskritischen Lesekreises Berlin hat Daniel Späth (EXIT!) einen Workshop gegeben, in dem er einen kritischen Zugang zu Hegels Dialektik vorgestellt hat. Ausgehend von Hegels Frühwerk und insbesondere dem »System der Sittlichkeit« und der »Phänomenologie des Geistes«, hat er anhand einiger Zitate einen Überblick über wichtige Gedankengänge Hegels gegeben. Inwiefern handelt es sich beim Dreischritt der Hegelschen Dialektik um eine Subsumtionslogik? Inwiefern werden hier Momente des Geschlechterverhältnisses reproduziert und festgeschrieben? Inwiefern findet hier eine Ontologisierung von Arbeit als Grundvoraussetzung für Individualität und Selbstbewusstsein statt? Diese und andere Fragen hat Daniel Späth zusammen mit den TeilnehmerInnen diskutiert. Es sind dabei unter anderem Diskussionsbeiträge von Justin Monday und Karina Korecky zu hören, deren Vorträge wir in Kürze ebenfalls dokumentieren werden.
Der 1. Mai steht vor der Tür und mit ihm die »revolutionären Erster-Mai-Demonstrationen«. In Hamburg hat JustIn Monday den Aufruf zur örtlichen Demo ob seiner falschen Kapitalismuskritik kritisiert und Quergelesen hat seinen Text, »1. Mai an die Luft wo der Engels nach uns ruft«, vertont. Die Sendung befasst sich außerdem mit der Abschaltung der freien Radios in Sachsen.
Zum verkehrten Zusammenhang von Politischer Ökonomie und deutschen Zuständen
Ein weiterer interessanter Vortrag von JustIn Monday und zwar über die nationalsozialistische Krisenbewältigung, gehalten bei der Gruppe B17 und von dieser auch freundlicherweise bereitgestellt.
Download (nachbearbeitet): via AArchiv | via MF
(mp3, mono, 40 kBit/s; 1:08 h; 19,6 MB)
Unter gesellschaftstheoretischen und ökonomischen Gesichtspunkten gilt der Nationalsozialismus üblicherweise als absoluter Ausnahmezustand. Die konservativ-bürgerliche Öffentlichkeit derjenigen, die von allem nichts gewusst hatten, weigerte sich ohnehin, einen Zusammenhang zwischen ihrer Gesellschaftsform und der antisemitisch, rassistischen Raserei herzustellen. Die Linke hingegen wusste sich jahrzehntelang einzureden, dass in den frühen Jahren der Bundesrepublik mit den Mitteln des
Marshallplans, also mit ausländischem Willen und gegen den der Bevölkerung, eine Politik zur Restauration des Kapitalismus betrieben worden sei. Die Betonung personaler Kontinuität in den Eliten musste paradoxerweise gleichzeitig dazu herhalten, die in der Restaurationsthese implizit enthaltene Behauptung des zumindest nichtkapitalistischen Charakters des Nationalsozialismus verdeckt zu
halten. Offenkundig hatte diese Betonung den Sinn, eine Beschäftigung mit dem antikapitalistischen Selbstverständnis der Volksgemeinschaftsideologie zu vermeiden. Mit dem heutigen Schwadronieren von der Vorherrschaft des Neoliberalismus wird diese Vermeidungsstrategie fortgesetzt.
Völlig aus dem Blickwinkel der Kritik gerät so, dass die vermeintliche Restauration des Kapitalverhältnisses bereits unmittelbar nach der Weltwirtschaftskrise, also während des Nationalsozialismus stattfand. Auch war sie keine Rückkehr in die Verhältnisse vor der Krise, wie es
die rückwärtsgerichtete Bezeichnung impliziert, sondern die im Sinne späterer Kapitalakkumulation produktive Integration des autoritären Staates in die Gesetze der politischen Ökonomie, die ohne den völkischen Antikapitalismus und die Vorstellung vom Staat als organischer Einheit nicht hätte vonstatten gehen können. Vom dabei entstandenen Zusammenhang von apolitischem Produktionswahn und ökonomischer Krise, der die deutschen Verhältnisse bis heute prägt, handelt diese Veranstaltung.
Am 3. Juni dieses Jahres referierte JustIn Monday unter dem Titel »Das macht was mit Dir und mir« über das Subjekt in der Weltwirtschaftskrise. Sein Einstieg ist derselbe wie im Vortrag zum Staat in der Krise. Der Mitschnitt ist bei der Veranstalterin Redical [M] verlinkt oder in einer Bandbreite und Speicherplatz sparenden Fassung von unverminderter Tonqualität hier herunterzuladen:
Von den Beschränkungen und Eigenarten des aktuellen Krisenbewusstseins
Kurzbeschreibung: Mitschnitt eines Vortrages, gehalten im Rahmen der Veranstaltungsreihe der Hamburger Gruppe Kritikmaximierung zur aktuellen Weltwirtschaftskrise. Es referiert JustIn Monday zur Rolle des autoritären Staates in der Krise und im Neoliberalismus. Der Vortrag ist nicht nur politökonomisch fundiert, sondern auch mit psychoanalytischen Deutungen angereichert.
Gesamtlänge: 1:47 h
Audiocharakteristika: mp3, stereo, 160 kbit/s
Download & Info bei FRN: Teil 1, Teil 2 (Gesamtgröße: 122 MB)
Wenn den BürgerInnen, zumal den deutschen, in der Krise das Bewusstsein vom historischen Charakter ihres Ein und Alles – des Kapitalverhältnisses – droht, erscheint ihnen die Ewigkeit des nationalen Staates als Rettung. Gewiß sind sie sich dieser Ewigkeit so, wie sie sonst glauben, ihr Nierenleiden vom Uropa mütterlicherseits geerbt zu haben. In den Absichten mögen Unterschiede bestehen zwischen LinkskeynesianerInnen, die die Krise vermittels sozialstaatlicher Umverteilung beheben wollen, und denjenigen, denen die Produktion von Gebrauchswerten ganz unvermittelt nur Mittel zum Zweck der Kapitalakkumulation ist. Bei allen Unterschieden bestehen aber unübersehbare Gemeinsamkeiten im Krisenbewußtsein, d.h. in den fetischistischen Vorstellungen vom Charakter des gesellschaftlichen Ganzen. Vor Augen steht den RepräsentantInnen des herrschenden Elends dabei vor allem dessen Kontrollier- und Steuerbarkeit durch den Staat, der als dem Kapitalverhältnis äußere Macht halluziniert wird. Handele dieser nur richtig, sei er in der Lage, die Krise zu meistern. Darüber herrscht Einigkeit, oder besser Pfeifen im Walde. In dem Vortrag soll dagegen erörtert werden, inwieweit die auf den autoritären Staat und in Deutschland auf den Nationalsozialismus zurückgehende Einheit von Staat und Gesellschaft weniger eine Entwicklungsmöglichkeit der aktuellen Zustände ist, sondern deren Voraussetzung, die, als Motor vergangener Krisenlösung, inzwischen ihrerseits in der Krise ist.