Gespräch zur Situation nicht nur in Irak und Syrien
Die Weltereignisse überschlagen sich täglich, wie derzeit etwa in der umkämpften syrisch-kurdischen Grenzstadt Kobane – demgegenüber ist das Audioarchiv, gerade in seinem Anspruch, Tondokumente über eine länger Zeit hinweg verfügbar zu machen, ein recht langsam funktionierendes Medium. Dennoch hoffen wir, dass es für möglichst viele Leute nützlich ist, wenn wir folgendes hörenswertes Radiogespräch zur Verfügung stellen:
In einer Gemeinschaftssendung von Shalom Libertad und Quergelesen am 23.09.2014 haben sich Stefan Negator und Wolfgang Seibert mit Danyal (Cosmoproletarian Solidarity) und Ramin über die derzeitige Situation im Nahen Osten unterhalten. Ausgehend von der derzeitigen Offensive des Islamischen Staats auf Kobane entwirren die vier die Kräftekonstellationen, Konfliktlinien und Machtverhältnisse dieses Schauplatzes des syrischen Bürgerkriegs. Insbesondere geht es auch um die Aufstellung und Zusammensetzung der kurdischen Gebiete, die machtpolitischen Grundlagen des IS, sowie die Interessen der Türkei, des Irans und anderer arabischer Staaten. Zuletzt haben sie darüber gesprochen, welche Bedeutung die Entwicklung des syrischen Bürgerkriegs für Israel hat und über die Interessen Deutschlands sowie die Reaktionen der deutschen Linken.
Wer sich mit der weltpolitischen Katastrophe des syrischen Bürgerkriegs auseinandersetzen möchte, dem seien zum Einstieg folgende Audiomitschnitte empfohlen:
1.) Syrien – Katastrophe ohne Ende?
Auf Einladung der Antifaschistischen Initiative Freiburg hat Thomas von der Osten-Sacken (u.a. Autor von Jungle-World und Aktivist bei WADI) einen allgemeinen Überblick über die Zustände in Syrien gegeben. Dabei hat er relativ viele Aspekte berührt, u.a.: Vorgeschichte und Verlauf des Bürgerkriegs; Flucht aus Syrien; das Versagen der UN; Syrien im Kontext des „arabischen Frühlings“; die geopolitischen Beziehungen, die in den Konflikt hineinspielen und ihn bestimmen; die ethno-religiösen Spaltungslinien innerhalb Syriens; die „Islamisierung“ des Konflikts und eine mehr oder wenige pessimistische Aussicht. Zuletzt betont er einerseits, dass es durchaus Initiativen in Syrien gibt, denen Solidarität zu gelten hat und andererseits, dass mit dem syrischen Bürgerkrieg die bisherigen Erklärungsmuster zum Nahen Osten ihre Gültigkeit verloren haben.
Vor drei Jahren war die Hoffnung groß: Plötzlich fanden sich Teile der arabischen Gesellschaft nicht mehr mit den autoritären Regimen im Nahen Osten zusammen, um Israel- und USA-Fahnen zu verbrennen, sondern richteten ihren Zorn gegen die eigenen Herrscher*innen. Es roch nach Aufbruch. Langjährige Diktatoren wurden gestürzt, so in Tunesien, Ägypten und Libyen. Auch in Syrien schien es einem blutrünstigen Henker endlich an den Kragen zu gehen. Doch das Assad-Regime hält sich bis heute mit unvorstellbarer Brutalität an der Macht, die Menschen leiden unter einem furchtbaren Bürgerkrieg, dem nicht nur Zehntausende aus der Zivilbevölkerung zum Opfer fallen, sondern der auch unzählige Islamist*innen ins Land lockt. Während Russland, der Iran und die Hizbollah das Assad Regime mit Geld, Waffen und Kämpfern stützt, lässt der Westen die demokratische Opposition im Stich.
Der Überblick fällt zunehmend schwer. Wer sind und was wollen die verschiedenen Akteur*innen? Wer kämpft gegen wen? Welche internationalen Interessen treffen in dem Konflikt aufeinander? Wie ist das Agieren Russlands, des Iran, der USA einzuschätzen? Welche Bedeutung hat das alles für Israel? Haben die Menschen in Syrien noch Aussicht auf den Sturz des Regimes? Und ist überhaupt noch etwas übriggeblieben vom „arabischen Frühling“? Ist die Hoffnung auf mehr Demokratie und Emanzipation in Syrien und der arabischen Welt vergeblich?
Thomas von der Osten-Sacken ist Geschäftsführer der Hilfsorganisation Wadi e.V. und als solcher seit über 20 Jahren regelmäßig im Nahen Osten unterwegs. Außerdem ist er freier Publizist und schreibt u.a. für die Jungle World und die Welt. [via]
Im Rahmen ihrer Antifa-Kneipe hat sich die Antifaschistische Initiative Freiburg am 30.06.2014 mit dem Islamismus im Allgemeinen und dem Islamischen Staat (ISIS bzw. IS) im Besonderen beschäftigt. Zur Kritik des politischen Islam hat ein Mitglied der Initiative ein Input-Referat gehalten, das folgende Aspekte beinhaltete: Betonung des modern-antimodernen Charakters der islamistischen Ideologie; Unterscheidung Islam und Islamismus; die unterschiedlichen Konfessionen des Islam; Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Islamismus und Faschismus; ein historischer Abriss der Entwicklung des Islamismus und des arabischen Nationalismus; zentrale Eigenschaften der islamistischen Ideologie; der Unterschied zwischen rechter und linker Islamismuskritik.
Lars Stern (u.a. aktiv bei Adopt a Revolution und Syrian Freedom) hat dann einen Vortrag über die islamistische Terror-Miliz „Islamischer Staat im Irak und in Syrien“ gehalten. Er referierte über folgende Punkte: Arabischer Frühling zwischen zivilgesellschaftlichem Engagement und islamistischer Radikalisierung; Entstehungsgeschichte von ISI im Kontext der Baath-Diktatur Saddam Husseins und in der Zeit nach dessen Sturz; Beteiligung und ethnisch-politisch-religiöse Stellung von ISIS im syrischen Bürgerkrieg; von der al-Nusra-Front zum ISIS; jüngste Vorstöße von ISIS; Ziele und militärischer Charakter von ISIS; Wer unterstützt ISIS und wie finanziert sich ISIS?; Bedingungen der Entstehung von ISIS; Was tun gegen ISIS – wen unterstützen?
Das erklärte Ziel der islamistischen Terrorgruppe ISIS, welche sich 2011 in Syrien gründete, ist die Errichtung eines Khalifats, welches sich von Bagdad über Jerusalem bis ins heutige Syrien erstrecken soll. Nun lassen sie ihren Worten Taten folgen und erobern weite Teile des irakischen Staatsgebietes . Die angrenzenden autonomen kurdischen Gebiete sind von der Invasion noch nicht direkt betroffen, aber die kurdische Miliz nutzte das entstehende Machtvakuum und besetzte die wichtige Ölstadt Kirkurk.
Als fundamentaler Gegner dieser sunnitischen Kämpfer*innen geriert sich das Regime im Iran. Während in Syrien dessen Handlanger Assad ISIS weitgehend verschont, um sich auf den Kampf gegen die Freie Syrische Armee zu konzentrieren, streben die Mullahs aus Teheran im Irak eine Einheitsfront, bestehend aus der irakischen Armee, dem Iran und den USA, gegen ISIS an.
Die USA sind diesem Vorschlag nicht völlig abgeneigt, auch andere westliche Staaten wie Großbritannien nähern sich dem iranischen Regime wieder an. Das Streben nach atomarer Bewaffnung und die damit immer wieder verbundenen Auslöschungsdrohungen gegen Israel scheinen vergessen zu sein.
Der Konflikt in Syrien zieht seine Kreise. In Belgien wurden bei dem schlimmsten antisemitischen Anschlag seit Langem in einem jüdischen Museum drei Menschen erschossen. Der Täter ist der Gruppe ISIS zuzurechnen. Doch was ist die islamistische Ideologie, welche solche Gruppen hervorbringt, und warum ist sie entstanden? Was haben wir als radikale Linke ihr entgegenzusetzen? Wie geht der Konflikt in Nahen Osten weiter, was wollen die Akteur*innen und welche Konsequenzen hat dies für den Krieg in Syrien?
Am Montag, den 30.6., um 20 Uhr wird im White Rabbit unsere erste Antifakneipe stattfinden. Auf der Grundlage unserer Stellungnahme zum Auftritt von Pierre Vogel in Freiburg wird es von uns ein kurzes Inputreferat über Islamismus geben, danach spricht Lars Stern vom Netzwerk Syrian Freedom zur aktuellen Situation. [via]
3. Revolution in Rojava – Der kurdische Norden Syriens zwischen Krieg und Rätedemokratie
Während es sich zumindest herumgesprochen hat, dass es im Zuge des syrischen Bürgerkriegs zur Konstitution mehrerer autonomer kurdischer Gebiete kam, ist hingegen kaum bekannt, wie sich das gesellschaftliche Leben in diesen Regionen gestaltet. Nicht nur, dass es in diesen Gebieten keinen Bürgerkrieg gibt, die Angriffe der ISIS-Einheiten zurückgeschlagen werden können und sogar kurdische Einheiten aus Syrien den irakischen Kurden bei der Zurückschlagung der ISIS-Angriffe zur Hilfe kommen – in „Westkurdistan“ gibt es zudem rätedemokratische Bestrebungen. Über diese Bestrebungen, die schon vor Ausbruch des Bürgerkriegs begonnnen haben und dann im Zuge des Zusammenbruchs des syrischen Staats das Machtvakuum nutzen konnten, hat Ercan Ayboga (u.a. aktiv bei Tatort Kurdistan) am 21.08.2014 auf Einladung des DGB-Bildungswerks Thüringen in der [L50] einen Vortrag gehalten. Der Vortrag basiert vorwiegend auf einem Bericht von einer Reise, die Ayboga im März 2014 zusammen mit GenossInnen nach Rojava unternommen hat und er schildert vor allem die politische Struktur der kurdischen Autonomie in Syrien. Der Vortrag orientiert sich relativ stark an einer Bilderpräsentation, die uns nicht vorliegt – ich hoffe, man kann dem Vortrag dennoch gut folgen. In der Diskussion geht es dann auch noch einmal um den Charakter von ISIS.
Als der Aufstand und kurze Zeit später der mörderische Krieg in Syrien begann, entschieden sich die KurdInnen für einen Dritten Weg. Im Norden Syriens bzw. in Westkurdistan (Rojava) bauten sie erst in allen Orten Rätestrukturen und Selbtverteidigungskräfte auf. Als der Krieg sie erreichte, befreiten sie ab 2012 ihre Regionen von den Truppen Assads. Genauso halten sie Distanz zur islamistisch-nationalistischen Opposition.
Seitdem wird die Gesellschaft in radikal-demokratischer Weise neu strukturiert. Heute hat fast jeder Strassenzug und jedes Dorf seine Kommune, die das politische, soziale und kulturelle Leben in kollektiver Art organisiert. Die Frauen sind bei der darauf aufbauenden Rätestruktur ganz vorne mit dabei. Anfang 2014 haben sie gemeinsam mit den zahlreichen ethnischen und Religionsgruppen in den drei Regionen von Rojava Cizîre, Kobanî und Efrin die „Demokratische Autonomie“ ausgerufen.
Wie funktioniert das politische, soziale und wirtschaftliche Leben heute in Rojava? Welche Herausforderungen gibt es beim Aufbauprozess; auch angesichts der Angriffe von ISIS und anderer Kräfte und des Embargos durch die Türkei, den ISIS und die kurdische Regionalregierung im Nordirak? Welche politische Perspektive steckt hinter der Selbstverwaltung fern von Nationalstaat und Patriarchat? Welche positiven Folgen kann Rojava auf Syrien und den Mittleren Osten haben? Welche Auswirkungen haben die neuesten ISIS Eroberungen im Irak auf Rojava?
Ercan Ayboga von der Delegation der Kampagne „TATORT Kurdistan“, die in Rojava die selbstorganisierten Strukturen in Rojava im Mai 2014 besuchte, berichtet von den Verhältnissen und Entwicklungen rund um Rojava. [via]