50 Jahre 1968 – Geschichte und Gegenwart
Anschließend an die 1968er-Sendereihe von Radio Corax fand von Mai 2018 bis Januar 2019 eine Veranstaltungsreihe in Halle (Saale) statt. Titel war: „Das unmögliche Verlangen“ (oder: „Das Unmögliche verlangen“?) Folgendermaßen wurde die Reihe angekündigt:
Pariser Mai und Prager Frühling, sexuelle Revolution und „versäumte Revolte“ (Stefan Wolle) – das Jahr 1968 wurde schon vielbeschrieben und doch gibt es noch unentdeckte oder kaum thematisierte Perspektiven. So sind nicht nur die weiblichen Akteure der “68er” sondern auch die Geschehnisse in der DDR und im ganzen Ostblock kaum im öffentlichen Gedächtnis verankert.
In Kooperation mit Radio Corax und der Oper Halle wirft die Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt 50 Jahre nach den bewegenden Ereignissen in Ost und West in sieben Veranstaltungen im Frühsommer und Herbst einen Blick auf die blinden Flecken dieses – zu erwartenden – Jubiläums-Spektakels und fragt dabei auch nach Bezügen zur Gegenwart. (via)
1.) Keine Ruhe nach dem Sturm
Im Februar 2018 hat Ulrike Heider ein autobiographisches Buch über 1968 und die nachfolgenden Jahre der Bewegung veröffentlicht. In der Lesung spricht sie über den SDS in Frankfurt, die Gruppe „Revolutionärer Kampf“ (RK), das Leben in Wohngemeinschaften und besetzten Häusern, Geschlechterverhältnis und sexuelle Befreiung, die Sponti-Szene und die Autonomen. Es ist eine kritische Aufarbeitung, die nicht der Abschwörung verfällt. Sie blickt auf ein linkssozialistisches, rätekommunistisches Umfeld. Siehe auch das ausführliche Interview mit Ulrike Heider, das wir hier dokumentiert haben.
Lebendig und mitreißend erzählt Ulrike Heider 50 Jahre ihrer persönlichen Geschichte als spannungsreiche Zeitgeschichte. Den politischen und kulturellen Aufbruch der späten 1960er Jahre erlebte Ulrike Heider als befreiend. In ihrem jüngst bei Bertz+Fischer veröffentlichten Buch (“Keine Ruhe nach dem Sturm“) beschreibt sie Höhepunkte, Kriminalisierung und Zerfallserscheinungen der antiautoritären Protestbewegung. Ob es um SDS-Versammlungen, Experimente mit der freien Liebe, die Frankfurter Universitätsbesetzung, um Straßenschlachten oder Hausbesetzungen geht, immer sind ihre Erinnerungen intim und kritisch zugleich. Mit Ulrike Heider begegnen wir auch Mackertum, Untertanenmentalität, Antisemitismus und das alltägliche Elend des Zerfalls einer Bewegung.
Ulrike Heider, Jahrgang 1947, studierte Politik und Germanistik, promovierte, zog später nach New York und lebt seit 2000 als freie Schriftstellerin in Berlin. Sie schreibt Bücher, Essays und Radiosendungen zu den Themen Schüler- und Studentenbewegung, Anarchismus, afroamerikanische Politik und Sexualität. Zuletzt »Vögeln ist schön – Die Sexrevolte von 1968 und was von ihr bleibt« (Berlin 2014). (via)
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2.) Politik und Psychedelik
Ostblock-Popkultur zwischen Nonkonformismus und “Normalisierung” 1968 – 1978. Alexander Pehlemann erkundet in seinem Vortrag musikalisch-subkulturelle Milieus des Ostblocks im Jahrzehnt nach 1968. Er schildert kenntnis- und anekdotenreich subkulturelle Zusammenhänge und Szenen in verschiedenen Ländern des Ostblocks und befördert dabei Radikales wie Skurriles zutage.
Das Jahr 1968 war weltweit ein Aufbruch in vehementer Ablehnung der Verhältnisse, die sich schnell auch in den Ländern des Warschauer Pakts etablierte. Deren „Love, Peace & Happiness“ wurde schnell zur Provokation, auf die repressiv reagiert wurde. Aber die Saat der Subkultur konnte nicht komplett unterdrückt werden, zumal das System sich im Widerspruch bewegte, den antikapitalistischen Jugend-Bewegungen des Westens wie der Dritten Welt aufgeschlossen gegenüber wirken zu wollen. Parallel entwickelten sich so auch Tendenzen der Tolerierung und sogar Förderung, die mit Einhegung und Reglementierung einhergingen, jedoch auch zu einer einzigartigen Phase gegenseitigen kulturellen Austauschs führte. Alex Pehlemann wird daher nicht nur die jugendkulturelle und künstlerische Opposition betrachten, sondern zugleich das widerspruchsreiche Einsickern ihrer Ästhetik, in dessen Vor- und oft auch Rückbewegungen. Dabei geht es quer durch den gesamten Ostblock mit den jeweiligen Landesbedingungen sowie einmal durch die Dekade 1968-1978.
Alexander Pehlemann wurde 1969 in Berlin-Lichtenberg geboren. Er ist seit 1993 Herausgeber des »Zonic«, Magazin für »Kulturelle Randstandsblicke & Involvierungsmomente«, dabei mit Vorliebe in osteuropäische Subkulturzonen blickend. (via)
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3.) Mein ’68
„Mein ’68 – Ein verspäteter Brief an meinen Vater“ ist ein Film von Hannes Heer aus dem Jahr 1988, in dem er den Bruch zwischen ihm und seinem Vater im Zuge von 1968 verarbeitet (siehe auch das Gespräch mit Hannes Heer darüber: hier). Im Vortrag geht es Hannes Heer um zwei zentrale Punkte: 1968 markiert für ihn einerseits den Punkt, an dem ein Teil der Generation, die in den 40er Jahren zur Welt gekommen ist, damit begann, die Elterngeneration nach ihrer (Mit)Täterschaft im Nationalsozialismus zu befragen. Andererseits ist für ihn 1968 ein Kulminationspunkt der Verweigerung, die Rekonstituierung des Kapitalismus nach 1945 hinzunehmen – davon ausgehend entsteht ein Experimentierraum einer Fundamentalopposition. Diese beiden Punkte erläutert er in acht Kapiteln, in denen er u.a. die Debatten innerhalb des SDS und die Diskussion mit Intellektuellen der Nachkriegszeit (u.a. Herbert Marcuse, Norbert Elias, Jürgen Habermas) beleuchtet.
Hannes Heer, Jahrgang 1941, führt in die Geschichte der Revolte in zweifacher Weise ein – mit einem Vortrag und einem Film: „Mein 68. Ein verspäteter Brief an meinen Vater“ versucht eine im Leben gescheiterte und nur filmisch mögliche argumentative Auseinandersetzung des Autors mit seinem Vater. Dieser, früher NSDAP-Mitglied und nach dem Krieg CDU-Wähler, reagierte auf den politischen Aufbruch der damaligen Studentengeneration und seines eigenen Sohnes mit hasserfülltem Unverständnis und brach 1968 alle Brücken zu ihm ab. An diesem Nichthinsehen- und Nichthinhören-Wollen setzt der Film an. Er rekonstruiert auf nachdenkliche und selbstkritische Weise im fiktiven Dialog mit dem Vater die Gründe, die die Studentenbewegung auslösten.
Hannes Heer war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung und Leiter des Ausstellungsprojektes „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“. Er dreht für ARD und ZDF zahlreiche Dokumentationen. Der Film “Mein 68” wurde, nach heftigen internen Kämpfen, vom WDR ausgestrahlt. (via)
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4.) Im Osten nichts Neues?
Von ’68, dem Autoritarismus und den späten Folgen. In der DDR gab es im Jahr 1968 keine vergleichbare Revolte wie in anderen europäischen Ländern. Ob dies eine Ursache für immer wiederkehrende nationalistische und rassistische Mobilisierungen ist, darüber haben in einer Podiumsdiskussion Bernd Gehrke, Thorsten Hahnel und Petra Dobner debattiert. Bernd Gehrke schildert, inwiefern es gleichwohl in der DDR im Jahr 1968 zahlreiche Proteste gab und wie es zum antikommunistischen Drive in der Wendebewegung kam; Thorsten Hahnel erzählt von nationalistischen, rassistischen und konformistisch motivierten Angriffen, denen sich damals auch Hahnel als Punk zu erwehren hatte; Petra Dobner vertritt einige unklare Thesen und verwendet dabei universitäre Redewendungen. Siehe auch: Ausführliches Interview mit Bernd Gehrke über 1968 im Ostblock (Unterpunkt 6) / Wendefokus-Gespräch mit Thorsten Hahnel.
Was hat die derzeitige globale Krise der Demokratie mit 1968 zu tun? Und wie sieht das mit Blick auf Ostdeutschland aus? Ist die Anziehung eines Viertels der Bevölkerung für autoritäre und rassistische Bewegungen wie Pegida oder die AfD eine Folge der fehlenden ’68 Revolution im Osten Deutschlands?
Diese und weitere Fragen diskutieren der DDR-Oppositionelle und Historiker Bernd Gehrke, Thorsten Hahnel (Miteinander e.V.) und Prof. Dr. Petra Dobner (Lehrstuhl für Systemanalyse und Vergleichende Politikwissenschaft, MLU).Auch wenn in der DDR 1968 keine vergleichbare Revolte stattfand wie in der BRD, war es ein Jahr außerordentlicher Proteste. Bernd Gehrke spricht über die Auseinandersetzungen um Öffentlichkeit in den Betrieben und die niederschmetternden Folgen. Letzere sind für Thorsten Hahnel eine Erklärung für die heutige konformistische Rebellion um Pegida und AFD gerade auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Die derzeitige reaktione Welle, auf der in vielen Teilen der Welt wieder autokratisches, nationalistisches Denken mehrheitsfähig wird, analysiert Petra Dobner als Umkehrung eines 68er Postmaterialismus und fordert, “mehr 68” zu wagen. (via)
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