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Gewerkschaft oder Klassenkampf?

Wir dokumentieren hier eine Veranstaltung zur Kritik der Gewerkschaften – einen Vortrag von Christian Frings, organisiert von der Translib Leipzig. Anlässlich dieser Veranstaltung ist auch eine Radiosendung entstanden – eine Ausgabe der Sendereihe Wutpilger-Streifzüge, die wir hier voranstellen. In der Radiosendung geht es um die historischen Ursprünge der Gewerkschaftsbewegung, um die Rolle der Gewerkschaften im 1. Weltkrieg und ihren Charakter als halbstaatliche Organisationen, sowie um den Charakter von Tarifverträgen und dem damit verbundenen Streikrecht. Eingestreut sind außerdem kurze Ausführungen zu Waren- und Lohnfetisch.

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Ähnliche Punkte führt Christian Frings auch im Vortrag aus – er geht zusätzlich auf Beispiele der Entwicklung von Gewerkschaften in den letzten 40 Jahren in Brasilien, Südafrika und Südkorea ein und berichtet von den Erfahrungen des Streiks bei Gate Gourmet.

Die rechtspopulistischen Mobilisierungen nicht nur in Ostdeutschland, sondern auch in anderen Ländern Europas, in den USA, der Türkei oder Brasilien haben zu einem neuen Interesse in linken Kreisen an Fragen des Klassenkampfs geführt. Dabei richten sich die Hoffnungen oft auf eine Revitalisierung gewerkschaftlicher Kämpfe und die Überwindung einer sozialpartnerschaftlichen Befriedungspolitik, die sich an nationalen Standortvorteilen in der internationalen Konkurrenz orientiert und damit den aufkommenden Nationalismus geradezu fördert.

Solche Erwartungen sind in der Vergangenheit immer wieder enttäuscht worden, ohne dass nach den grundlegenden Zusammenhängen zwischen der Organisationsform Gewerkschaft und den Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise gefragt wurde. Als das internationale Kapital Ende der 1960er-Jahre massiv in die industrielle Produktion in Brasilien und Südafrika investierte, entstanden dort in kurzer Zeit militante Klassenkämpfe, aus denen neue kämpferische Gewerkschaftsorganisationen entstanden. Die brasilianische CUT und die südafrikanische COSATU galten als beispielhaft für die Möglichkeit, alte bürokratisch verkrustete Gewerkschaftsstrukturen durch soziale Bewegungsgewerkschaften zu überwinden. Ähnlich vielversprechend war die gewerkschaftliche Entwicklung in Südkorea, nachdem dort eine massive Streikwelle 1987 die sozialen und politischen Verhältnisse erschüttert hatte. Heute müssen wir ernüchtert feststellen, dass es in allen drei Fällen mit dem Rückgang der offenen Kämpfe wieder zu einer Bürokratisierung und Verknöcherung dieser Organisationen gekommen ist. Sie treiben nicht die Klassenkämpfe voran, sondern haben sich in den Staat integriert und tragen zur sozialen Befriedung bei. Reiner Zufall?

In diesen Ländern des globalen Südens scheint wie im Zeitraffer ein Prozess abgelaufen zu sein, für den es im 19. Jahrhundert in Westeuropa Jahrzehnte brauchte. In mühevollen Debatten und Kämpfen musste überhaupt erst geklärt werden, was „freie Lohnarbeit“ sein soll, wenn doch in jedem Arbeitsverhältnis der Eigentümer der Produktionsmittel die Befehlsgewalt hat und kommandiert. Eine kollektivvertragliche Regelung der Arbeitsbedingungen, wie wir sie heute als Tarifvertrag für selbstverständlich halten, war zunächst sowohl für die Juristen und Staatsmänner als auch für die ersten Zusammenschlüsse von Arbeiter*innen völlig undenkbar – zumal es noch gar keine gerichtlichen Instanzen gab, die die Einhaltung solcher Verträge hätten erzwingen können. Erst nach der großen Streikwelle der Jahre 1889/1890 in Westeuropa, die zum größten Teil von bis dahin noch nicht organisierten Arbeiter*innen ausging, kam es zu einer Verfestigung von Gewerkschaften als Massenorganisationen. Sie konnten sich zunehmend auf die Anerkennung durch Unternehmer und den Staat stützen, von der wiederum ihre organisatorische Stabilität abhing. Die nationalistische Haltung dieser Organisationen im Ersten Weltkrieg war lediglich das konsequente Ergebnis dieser Integration in den Staat.

Diese historischen Befunde werfen die Frage auf, was diese Entwicklungstendenz gewerkschaftlicher Organisierung, die schon Anfang des 20. Jahrhunderts als „ehernes Gesetz der Oligarchie“ bezeichnet wurde, mit den allgemeinen Mystifikationen und Fetischformen der kapitalistischen Produktionsweise zu tun haben könnte. Von zentraler Bedeutung ist dabei die radikale Kritik der Lohnarbeit, wie sie Marx im „Kapital“ entwickelt hat – von der aber heute in linken Kreisen wenig gesprochen wird, weil die Wiederherstellung eines auf Lohnarbeit beruhenden „Normalarbeitsverhältnisses“ das einzig denkbare linke Reformziel zu sein scheint. Das Leiden der Menschen an dieser Normalität findet damit aber keinen – jedenfalls keinen linken und gesellschaftskritischen – Ausdruck mehr.

Diese theoretische und historische Kritik der Gewerkschaft verfolgt einen praktischen Zweck: Möglichkeiten und Wege zu eröffnen, an radikalen Tendenzen in sozialen Konflikten und Streiks anzuknüpfen und ihre Potentiale auszuloten, über die institutionelle Befriedung der Klassengegensätze hinauszugehen. Dies soll abschließend an einigen Beispielen und Erfahrungen erläutert werden.

Christian Frings ist Aktivist, Autor und Übersetzer aus Köln. Seit den 1970er-Jahren beschäftigt er sich mit der Kritik der politischen Ökonomie von Karl Marx und Fragen der globalen Klassenkämpfe. Als prekärer Jobber und Leiharbeiter hat er die verschiedensten Fabriken und Unternehmen in seiner Region kennengelernt und unterstützt selbstständige Arbeiter*innenkämpfe. (via)

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Bei labournet findet sich von Christian Frings der Text Should I Stay Or Should I Go? Gewerkschaften zwischen Sozialpartnerschaft und realen Arbeitskämpfen.

Kritik der Knastgesellschaft

Die Diskussion über Knastkritik und die gemeinsame Organisierung von Leuten drinnen und draußen ist weitestgehend aus den linksradikalen Zusammenhängen verschwunden – sie hatte (ähnlich wie die Psychiatrie-Kritik) in den 60’er und 70’er Jahren ihren letzten Höhepunkt. Wir dokumentieren hier einige aktuelle Beiträge zum Thema und freuen uns über Ergänzungen in der Kommentarspalte.

1.) Ein Jahr Gefangenengewerkschaft GG/BO

Am 01.10.2015 hat Oliver Rast von der Gefangenengewerkschaft GG/BO einen Vortrag im Berliner Café Kralle gehalten. Er hat im Vortrag über die Hintergründe der Gründung der GG/BO, über die Entwicklungen im Organisierungsprozess und über die Organisationsbedingungen der Gewerkschaft berichtet. Das Anarchist Radio Berlin hat den Vortrag dokumentiert.

Lohnarbeit im Gefängnis wird bewusst entrechtet und inhaftierte Beschäftige nicht als Arbeitnehmer*innen anerkannt. Trotzdem wird hinter Gittern ein exzessives Sozial- und Lohndumping betrieben um Auftraggeber*innen den Produktionsstandort Knast als attraktive Alternative oder sogar Sonderwirtschaftszone anzubieten.

Eine basisorganisatorische Gefangenen-Gewerkschaft macht bereits von Außen und Innen darauf aufmerksam und will mehr erkämpfen. Dabei wird der bisher sehr erfolgreiche Organisierungsprozess in den Knästen auf politischer und juristischer Ebene attackiert. Einblicke in die Arbeit der Gefangenen Gewerkschaft / Bundesweite Organisation – GG/BO sowie aktuelle Entwicklungen erfahrt ihr beim Tresen. (via)

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Beachtet auch, passend zum Thema, den Text „Ein Jahr Gefangenengewerkschaft – Eine Zwischenbilanz“ von Oliver Rast. Radio Corax hat mehrere Interviews mit Mitgliedern der Gefangenengewerkschaft geführt. So z.B ein Interview mit Oliver Rast, in dem es allgemein um die Gefangenengewerkschaft geht und ein Interview mit Gerd Rockmann über die Aktivitäten der Gefangenengewerkschaft in Sachsen-Anhalt.

2.) abrisse. Innen- und Außenansichten einsperrender Institutionen

2011 hat die Gruppe baul_ucken ein Buch unter dem Titel „abrisse. Innen- und Außenansichten einsperrender Institutionen“ bei Edition Assemblage herausgegeben. Das Buch wurde in engem Kontakt mit mehreren Gefangenen konzipiert, enthält Umfragen über das Thema Knast, einige theoretische Texte, sowie verschiedenen Sichtweisen von Gefangenen, Aktivist_innen aus verschiedenen Ländern und Antwält_innen, die über eine isolierte Betrachtung der Institution Gefängnis hinaus weisen. Am 12.10.2011 waren im Rahmen der Gegenbuchmesse zwei MitherausgeberInnen in der Klapperfeldstraße in Frankfurt zu Gast und haben das Buch dort vorgestellt. Zu Beginn werden O-Töne aus den Umfragen vorgespielt, dann geht es um die Entstehunsgeschichte des Buches und zuletzt wird ein Brief einer Gefangenen vorgelesen, der in dem Buch enthalten ist. In der Diskussion geht es eher grundlegend um Knastkritik und Alternativen zum Gefängnis.

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Eine Rezension des Buches gibt es hier. Im Vorfeld einer Buchlesung in Dresden hat Radio Corax ein Interview mit einem Mitherausgeber geführt, das hier nachgehört werden kann. Auf dem Blog der Gruppe baul_ucken findet sich auch ein Text von Albert Destinazero mit dem Titel „Warum Knastkritik? Selbstverständlichkeiten und Einsprüche. Zur Entstehungsgeschichte und Rechtfertigung des Gefängnisses„.

3.) Anti-Knast-Tage 2014 in Wien / Anarchistische Texte zur Knastkritik

Das Anarchistische Radio Wien hat in einer Sendung die Anti-Knast-Tage dokumentiert, die 2014 im Wiener EKH stattfanden. Gesendet wurden Ausschnitte aus den Vorträgen und Diskussionen, die auf den Anti-Knast-Tagen stattgefunden haben.

Von 7. bis 9. November 2014 fanden in Wien die Anti-Knast-Tage statt. An drei Tagen tauschten sich Interessierte zu diversen Kämpfen gegen Knast und Repression aus, es gab Diskussionen, Vorträge und Workshops, die sich sehr unterschiedlichen Themen widmeten. Einige Höhepunkte waren beispielsweise die Veranstaltung zur neu gegründeten Gefangenengewerkschaft in Deutschland oder ein Vortrag zur aktuellen Situation in den griechischen Knästen.

Diese Sendung fasst unvollständig und bruchstückhaft das Wochenende in Wien zusammen und gibt einen kleinen Einblick für alle, die nicht dabei sein konnten bzw. will mit den Audiomitschnitten allen Teilnehmer_innen die spannenden Vorträge in Erinnerung rufen. (via)

    Download: via Anarchistisches Radio (mp3; 76 MB; 56:57 min)

Das Anarchistische Radio hat außerdem in einer weiteren Sendung mehrere Texte zur anarchistischen Knastkritik eingelesen: Die Einleitung des Buches „Stein für Stein – Kämpfen gegen das Gefängnis und seine Welt“ von einer belgischen Gruppe und den Text „An wen richten wir uns?“ aus der italienischen Zeitschrift „Machete„.

4.) Die Unsichtbaren

Nanni Balestrini hat die Erfahrung der Knastkämpfe in Italien während und nach dem Bürgerkrieg in den 70’er Jahren in seinem Roman „Die Unsichtbaren“ literarisch verarbeitet. Auszüge aus diesem Roman wurden in der Juni-Ausgabe der Sendereihe „Wutpilger-Streifzüge“ vorgelesen (nach einer Besprechung des Buches „Den Himmel stürmen„).

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Texte zur Kritik am Gefängnis (aus einer eher liberalen Warte) finden sich auf knastkritik.org. Ein grundlegendes Buch zum Thema ist „Sozialstruktur und Strafvollzug“ von Otto Kirchheimer und Georg Rusche. Grundlegend für die Anti-Knast-Bewegung war außerdem das Buch „Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses“ von Michel Foucault. Eine Tradition der Knastikritik hat sich vor allem im anarchistischen Milieu gehalten – die Download-Seite auf der Internet-Präsenz des Anarchist Black Cross Berlin stellt einige Zeitschriften der anarchistischen Knastkritik zur Verfügung. Die Broschüre „Die vernebelte Spur von Os Cangaceiros durch die soziale Pampa“ versammelt einige deutschsprachige Übersetzungen von Texten der „Totengräber“, einem in den 70’er und 80’er Jahren in Frankreich umherreisenden Kollektiv, das sich auch dem Kampf gegen die Knäste widmete. Weitere Literatur-Tips und Links zu Audio-Beiträgen zum Thema (ob historisch-materialistisch oder kritisch-genealogisch) können in der Kommentarspalte hinterlassen werden.