Das Bildungskollektiv aus Chemnitz versuchte mit zwei Veranstaltungsreihen (2012/2013) die kritische Auseinandersetzung in und mit Popkultur ein wenig voranzutreiben und stellte die Frage nach der Rolle von Popkultur in einer nachmodernen Gesellschaft. In einem vorangestellten Text zur Reihe heißt es: „[…] Kulturarbeit soll sozialen Frieden produzieren, Frustrationen und Unglück sollen ihren gemäßen künstlerischen Ausdruck finden. Nur wenn der Kulturbetrieb tatsächlich die sozialen Konflikte in Auseinandersetzungen gleichzeitig befriedet und thematisiert, bleibt es auch im Interesse der Verwaltung einen prekär funktionierenden freien Sektor am zehrenden Leben zu erhalten. Heute bedeutet Kulturarbeit aber weniger Einladung zu gepflegter bürgerliche Konversation, sondern vielmehr Krisenverwaltung in Eigenregie.[…] Weniger als vom bürgerlichen Glücks- und Freiheitsversprechen handelt Popkultur heute tatsächlich von Krise, Verzweiflung und Zerfall.“
1.) Exile on Main Street – Vom Spektakel zum Debakel. Pop und Punk und Politik als Problem. Roger Behrens (Freibad-/Hallenbaduniversität Hamburg)
Roger Behrens mit historischen Exkursen über Sinn und Unsinn von subversiven Strategien in der verwalteten Welt.
Ein paar Fragen: Was macht eigentlich den Pop politisch? Und wann oder warum? War Punk politisch, Pop aber nicht? Oder ist Punk einfach nur politischer als Pop? Oder politisch korrekter, oder wenigstens politisch glaubwürdiger? Oder wurde Punk erst politisch als Pop? Ist die Politik des Pop eine andere Politik? Oder hat der Pop – zum Beispiel mit dem Punk – das, was heute Politik genannt wird, überhaupt erst hervorgebracht? Gibt es Pop, der nicht politisch ist? Und gibt es noch Politik, die nicht auch Pop ist, irgendwie? Schließlich: Sind das wichtige Fragen, wenn es um die Entscheidung geht, bestimmte Bands gut zu finden, und das was sie »sagen« (also singen, mit ihrer Musik thematisieren, wo sie stehen etc.) richtig? Oder sind die Fragen nicht ziemlich belanglos, gleichgültig, uninteressant, wo es doch eigentlich um anderes geht? – Mögliche Antworten auf diese Fragen stellt der Vortrag zur Diskussion: in historisch-kritischen Exkursen über Sinn und Unsinn von subversiven Strategien (Subkulturen) in der verwalteten Welt (Kapitalismus).
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2.) “Die richtige Einstellung”. Tilman Kallenbach zu den Verhältnissen zwischen Pop und Politik
Tilman Kallenbach mit einem Versuch verschiedene theoretische Zugänge der Linken zum Phänomen Pop zu skizzieren.
Über wenige Pop-Phänomene ist in letzter Zeit so inbrünstig berichtet und diskutiert worden, wie über die Stadion-Rock-Band Frei.Wild, die einigen deutschen Feuilletonist_innen dann offensichtlich doch zu rechts war. Wenn an dieser Debatte irgendetwas gut war, dann doch die Erinnerung, dass Pop doch auch irgendwie politisch ist – und diffus links. Dabei ist das Verhältnis der deutschen Linken zur Pop-Kultur ein mindestens gespanntes und schwankt zwischen der Parole „Stellt die Gitarre in die Ecke und diskutiert“ und einer ausschließlich auf den “richtigen” Lifestyle orientierten linken Subkultur. Der Vortrag unternimmt den Versuch verschiedene theoretische Zugänge der Linken zum Phänomen Pop zu skizzieren, um von dieser Basis aus, in einem zweiten Schritt aktuelle Pop-Strategien zu analysieren. Es wird die Frage gestellt: Wo und wie kann Pop Gesellschaftskritik oder Politisierungsmoment sein?
Tilman Kallenbach hat in Bamberg Pädagogik studiert und hat zum Thema seine Diplomarbeit verfasst. Er ist lose mit der freien uni bamberg assoziiert und nicht zuletzt ergebener Fan.
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3.) “Der Krieg kommt schneller zurück als du denkst.” Ole Löding zu Vergangenheit und Geschichtsbildern im Pop
Zum kulturellen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und dem Stand der bundesdeutschen Vergangenheits’bewältigung‘ referierte Ole Löding, dessen Buch “Deutschland Katastrophenstaat. Der Nationalsozialismus im politischen Song der Bundesrepublik” unlängst veröffentlicht wurde.
Die politische Popmusik in der Bundesrepublik reagiert unmittelbar und direkt auf ihr gesellschaftliches Umfeld. Sie thematisiert wichtige gesellschaftspolitische Ereignisse, Kontroversen und Personalien – von der 68er-Revolte, dem RAF-Terrorismus der 70er Jahre, dem Filbinger-Skandal, der Strauß-Kanzlerkandidatur, dem Ost-West-Konflikt bis hin zur Wiedervereinigung. Gleichzeitig ist sie sehr stark von ihrem politischen Umfeld geprägt. Deshalb lässt sich an ihr der kulturelle Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit besonders gut ablesen. Diese Wechselwirkung macht den politischen Song von den 60er Jahren bis zur Gegenwart zu einem präzisen Seismograph, an dem sich der Stand der bundesdeutschen Vergangenheits’bewältigung‘ ablesen lässt. In seinem mit zahlreichen Beispielen unterstützten Vortrag gibt Ole Löding einen Überblick darüber, wie die deutschsprachige Popmusik eine „musikalische Vergangenheitsbearbeitung“ vorgenommen hat, wie sehr stark sich der Umgang mit dem Nationalsozialismus, Geschichtsbilder, Vergangenheitsdiskurse und Aufarbeitungsdebatten seit den 60er Jahren gewandelt haben. Zu diskutieren wird u.a. sein, welche kritischen Perspektiven der popkulturellen Aufarbeitung in MIA´s Berliner Republik zu hören sind.
Ole Löding ist seit 2011 Mitarbeiter im Deutschen Musikinformationszentrum Bonn. Im Transcript Verlag veröffentlichte er das Buch: “Deutschland Katastrophenstaat. Der Nationalsozialismus im politischen Song der Bundesrepublik.”
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Siehe auch Frank Apunkt Schneiders Plädoye für eine Ästhetik der Verkrampfung.
4.) “Anders als die andern Jungs”. Robert Zwarg zum Phänomen Hipster
Mit dem Hassobjekt Hipster beschäftigte sich Robert Zwarg bereits vor drei Jahren bei Beatpunk. Die These: Im Phänomen des Hipsters und dem Ressentiment, das ihn trifft spiegelt sich die gesamte Gesellschaft: Der Hipster sei sowohl Symptom und Produkt einer gesellschaftlichen Entindividualisierung, wie auch Reflex auf eine reale Auflösung von Klassengrenzen, von historischem Bewusstsein und traditionellen Geschlechterrollen.
Kaum ein Sozialtypus hält sich so beharrlich als Hassobjekt wie der Hipster. Man ist sich uneinig, wie er aussieht, doch alle kennen ihn und niemand möchte einer sein. Einerseits scheint es sich um ein klassisches Phänomen der Mode zu handeln: man denkt an weiße, junge Erwachsene mit einem Hang zu Retro bzw. Vintage-Chic, Jungs mit Bart und Flanellhemd und Mädchen im Lolita-Look. Anderseits ist der Hipster ein beliebtes Ziel von Spott und Hass. Die Liste seiner bemäkelten Eigenschaften ist lang: Geschmäcklertum, unreflektierter Konsumismus, inhaltslose Ironie, Arroganz, Oberflächlichkeit, Unproduktivität, Vorhut der Gentrifizierung. Im Phänomen des Hipsters und dem Ressentiment, das ihn trifft – so die These des Vortrages – spiegelt sich die gesamte Gesellschaft. Die Veränderung der Arbeitswelt lässt sich an dem als Latte Macchiato schlürfenden imaginierten Kreativarbeiter ebenso ablesen, wie die Entzeitlichung der Mode und der Verfall der Subkultur. Sowohl die Chronisten als auch die Verächter des Hipsters verkennen allerdings seinen gesellschaftlichen Grund. Der Vortrag möchte den Hipster als zugleich Symptom und Produkt einer gesellschaftlichen Entindividualisierung deuten, als den Sozialtypus gewordenen Reflex auf eine reale Auflösung von Klassengrenzen, von historischem Bewusstsein und traditionellen Geschlechterrollen; kurz, als Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen Entdifferenzierung.
Robert Zwarg lebt in Leipzig und ist Mitglied der Redaktion der Phase 2. Seine Texte erschienen u.a. in der Jungle World, bei beatpunk.org und der Phase 2.
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5.) “Personal Jesus”. Bärbel Harju zur Geschichte und Aktualität christlicher Rockmusik
Bärbel Harju beobachtete, dass in vormals nichtreligiösen, „agnostischen“ Subkulturen wie Punk und Hardcore christliche Künstler_innen zunehmend Fuß fassen und fasst zusammen: „Religion als Pop bedeutet keineswegs Verweltlichung.“ Harju hat im Transcript-Verlag das Buch „Rock und Religion“ veröffentlicht.
Religion als Popkultur ist vital, nicht Religion „light“. Das genuin U.S.-amerikanische Phänomen Christian Pop hat sich seit den 1960er Jahren zunächst als Subkultur in einer Art Paralleluniversum etabliert. Heute existiert in den USA nicht nur eine millionenschwere christliche Musikindustrie; auch im musikalischen Mainstream und in vormals nichtreligiösen, „agnostischen“ Subkulturen wie Punk und Hardcore fassen christliche Künstler_innen zunehmend Fuß. Zu fragen wird sein, welche subversiven Strategien Bands wie P.O.D. anwenden und wieso, um die Stigmatisierung als christliche Musiker zu umgehen, welches Wertesystem vertreten wird und wie die Künstler_innen mit Kommerzialisierung und dem Aufgehen im Universum Pop umgehen. Religion als Pop bedeutet keineswegs Verweltlichung. „Christian Pop“-Künstler setzen einen modernen Evangelisierungsstil um, indem sie subtile Botschaften in massenkompatiblen Musikstücken transportieren. Erst durch die Warenförmigkeit des religiösen Angebots wird dieses im „marketplace of culture“ konkurrenzfähig und findet sich aufgrund des kalkulierbaren Publikumansturms auf der Bühne säkularer AJZs.
Bärbel Harju ist Amerikanistin an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie hat 2012 im Transcript-Verlag das Buch „Rock und Religion“ veröffentlicht.
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Leider wurden nicht alle Vorträge der Reihe dokumentiert. Als Ergänzung daher: Ein ganz ähnlicher Vortrag von Sascha Pöhlmann zu Politisierungen des Black Metal, ein Text zum Verstandnis des Conne Island zum kulturbetrieblichen Alltag und – passend zum letzten Referat – ein Text zur Aktualität der Kulturindustriethesen aus dem Extrablatt.
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