Über die historische Vergänglichkeit von »Geschichte und Klassenbewusstsein«

Geschichte und Klassenbewusstsein war ein zu Recht prägendes Werk des Marxismus und es gibt Grund genug, 90 Jahre nach seinem Erscheinen an dieses Buch und seinen Autor, Georg Lukács, zu erinnern. Aber es gibt keinen Grund, auf eine kritische Revision seiner Grundlagen zu verzichten oder über die Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts hinwegzugehen, als ließe sich bruchlos an den jungen Lukács anknüpfen. Das dachte sich auch die Hamburger Gruppe Melange und organisierte am 4. Juli 2013 eine Art Gegenveranstaltung zur Reihe »Über das Schicksal der Revolution entscheidet das Klassenbewusstsein«. Die Reihe wurde von Kritikmaximierung organisiert und ist bei uns dokumentiert worden.

In den ersten knapp 20 Minuten des folgenden Mitschnitts formuliert ein Vertreter der Gruppe Melange eine Kritik an der Ausrichtung der Veranstaltungsreihe und stellt anschließend den Referenten Robert Fechner vor. Dieser befasst sich im ersten Teil seines Vortrags mit Lukács‘ Verdinglichungsaufsatz und kritisiert die diesem zugrunde liegende Interpretation der Kritik der politischen Ökonomie. Fechner attestiert Lukács u.a. Gebrauchswertfetischismus und ein falsches Verständnis der Kategorie »abstrakte Arbeit«. Im zweiten Teil wendet er sich Axel Honneths Verdinglichungstheorie zu und liefert eine fulminante Kritik an dessen idealistisch-ideologischem Anerkennungsgefasel.

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Ankündigungstext:

Die 1923 von Georg Lukács veröffentlichte Aufsatzsammlung Geschichte und Klassenbewusstsein gilt bis heute völlig zu Recht als entscheidender Markstein bei der Entstehung des sogenannten westlichen Marxismus und der Kritischen Theorie. Insbesondere mit seinem Aufsatz über Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats schuf Lukács einen Strang kritischer Theoriebildung, der die Marxsche Warenanalyse zu ihrem Ausgangspunkt nahm und deren erkenntniskritischen Motive betonte. Die Kritik der teleologischen Geschichtsauffassung und des Basis-Überbau-Schematismus des traditionellen Marxismus, wie die Neuaneignung des philosophischen Erbes Hegels bei Marx und der Fetischismuskritik hat in ihm ihren Referenzpunkt.

Der Versuch einer Aktualisierung der Marxschen Revolutionstheorie trägt aber selbst noch die Züge einer Zeit, in der die kommunistische Weltrevolution als greifbar erschien. Das historische Scheitern des Proletariats, das nicht nur nicht die Weltrevolution auf den Weg brachte, sondern es auch nicht vermochte Auschwitz zu verhindern, machte eine Revidierung der Lukácsschen Prämissen notwendig. Sie ist Kritik an einer Position, die sich auf der Suche nach einem quasi nicht-verdinglichten Rest befindet: der Versuch der Rettung einer positiven Revolutionstheorie, die ihren archimedischen Punkt im Subjekt-Objekt der Gesellschaft, dem Proletariat, hat.

Dass Georg Lukács die Vernichtungslager nicht voraussehen konnte, kann ihm nur schwer zum Vorwurf gemacht werden: wenn heute aber die selbsternannten neuen kritischen Theoretiker im Dunstkreis von Axel Honneth endlich wieder positive Theorie im Anschluss an Lukács betreiben wollen, dann schlägt dies in Ideologie um. Anstatt einen kritischen Begriff von Verdinglichung zu entwickeln, wird dieser zum anerkennungstheoretischen Popanz, der die vermeintliche »Verkümmerung oder Verzerrung einer ursprünglichen Praxis« (Honneth) anklagt und die Einübung in positve thinking und Realtitätsverdrängung ist. Und hierin besteht Einigkeit mit einer Linken, die das eigene historische Scheitern verleugnen muss, um an jeder Straßenecke die Abnehmer ihrer Revolutionsromantik zu entdecken: die einen reden nur von Subalterne, andere von vorgelagerter Anerkennung und manche meinen selbst im Jahre 2013 noch, über das Schicksal der Revolution entschiede das Klassenbewusstsein.

Zu Gehalt der Lukácsschen Theorie und Kritik ihrer Fans wird Robert Fechner auf Einladung der Gruppe Melange referieren. Von Fechner erschien ein Aufsatz zur Beziehung von Georg Lukács und Max Weber in dem 2012 im ca-ira Verlag veröffentlichten Sammelband Verdinglichung, Marxismus, Geschichte. Von der Niederlage der Novemberrevolution zur Kritischen Theorie.