90 Jahre Georg Lukács’ »Geschichte und Klassenbewußtsein«

Denn es gibt kein Problem […], dessen Lösung nicht in der Lösung des Rätsels der Warenstruktur gesucht werden müßte. (Georg Lukács)

Diejenigen, die beim Namen Georg Lukács an den ungarischen Kommunisten denken und nicht (nur) an Star Wars, werden in den letzten Monaten wieder zahlreicher. Bücher, Artikel und Vortragsveranstaltungen beschäftigen sich derzeit mit dem anspruchvollen und widersprüchlichen Werk des ersten genuinen Philosophen der Oktoberrevolution (Lars Quadfasel), der die Kategorie der Verdinglichung ins Zentrum seiner Gesellschaftskritik stellte. Lukács war es, der in seinem Werk Geschichte und Klassenbewusstsein darauf verwies, dass mit der universellen Warenform – die alle Lebensäußerungen entscheidend beeinflussende Form – die Verdinglichung total wurde. In Hamburg organisierte Kritikmaximierung eine dreiteilige Veranstaltungsreihe mit Frank Engster/Patrick Eiden-Offe, Rüdiger Dannemann und Detlev Claussen, die wir hier dokumentieren können.

Über das Schicksal der Revolution entscheidet das Klassenbewusstsein

Ankündigungstext der Reihe:

Die Bedeutung von Georg Lukács’ 1923 erstmals veröffentlichtem Essayband »Geschichte und Klassenbewusstsein« ist immens. »Die Wirkung dieses Buches kann man fast als unheimlich bezeichnen.« Es gibt keinen Denker aus dem Kreis des »westlichen Marxismus«, der davon unbeinflusst blieb. Das Werk gehört zu den wichtigsten seiner Zeit.
Obwohl Lukács seine Thesen später aus Parteigehorsam widerrief, stellt »Geschichte und Klassenbewusstsein« zusammen mit Karl Korschs‘ im gleichen Jahr publizierten Werk »Marxismus und Philosophie« den Wendepunkt in der marxistischen Theorie nach dem Ersten Weltkrieg dar. Der offizielle Partei-Marxismus war theoretisch bestimmt durch quasi-naturwissenschaftliche Annahmen, die eine evolutionäre Entwicklung hin zum Sozialismus antizipierten. Die Geschichte würde ganz von selbst in die befreite Gesellschaft einmünden. Mit der Katastrophe des Ersten Weltkriegs und dem Ausbleiben einer von Linken erwarteten bolschewistischen Revolution in Westeuropa war dieser Geschichtsdeterminismus praktisch widerlegt. Diese Krise des Kommunismus verlangte auch der marxistischen Theorie eine notwendige undogmatische Neuausrichtung ab, die von Lukács angeschoben wurde.
Es wundert deshalb kaum, dass Lukács‘ Arbeiten auch im Zuge der antiautoritären Revolte von 1968 eine Relektüre erfuhr. Noch heute – weitere vierzig Jahre später und neunzig Jahre nach der Erstveröffentlichung – ist die Anziehungskraft Lukács’ ungebrochen. Dies belegen aktuelle Neuerscheinungen.
Daran anknüpfend soll mit drei Veranstaltungen der Versuch unternommen werden, Lukács‘ zentrale Begriffe, trotz der Diskussion um ihre Bedeutung, wieder in die Debatte um eine der Gegenwart angemessene Gesellschaftskritik einzuführen: Warenform und Fetischcharakter, Verdinglichung, Dialektik, Totalität – Begriffe, die in einer aufklärerischen Tradition und quer zur postmodernen Verwischung von Gesellschaftskritik stehen.
Zugleich ist aber fraglich, ob die tradierte und auch transformierte Idee einer revolutionären Veränderung noch gültig sein kann. Es bleibt ungeklärt, wie sich angesichts der Dialektik von steigender Vereinfachung und Komplexität, bei fortschreitendem Verlust spontan-subjektiver Momente mit transzendentem Charakter und immer tiefergehender Integration des Subjekts, die Utopie einer befreiten Gesellschaft überhaupt bewahren lässt – ohne in einen selbstreferenziellen Revolutionsgestus zu verfallen, wie es in der gegenwärtigen Linken weit verbreitet ist.
Es stellt sich hier die zentrale Frage nach der Geltung von Lukács’ Begriffen. Ob diese angesichts der vergangenen und andauernden Katastrophen aktualisiert werden können, soll in der Veranstaltungsreihe diskutiert werden.

Frank Engster/Patrick Eiden-Offe: Georg Lukács »Geschichte und Klassenbewußtsein« – Werk und Wirkung

Frank Engster und Patrick Eiden-Offe, die beide in Zeitschriften wie Phase 2 oder Sozial.Geschichte Online zu (post)marxistischer Theorie und Klassenfragen publizieren, versuchen sich an einer Rekonstruktion der historischen Rezeptions und Wirkungslinien von „Geschichte und Klassenbewußtsein“.

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Diskussion

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Die kontroverse Diskusion führte dazu, dass der FSK Zwi, der sich mehrfach mit kritischen Einwürfen zu Wort meldete, ins Studio eingeladen hat.

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Ausserdem führte das Freie Sender Kombinat noch ein nachträgliches Telefongespräch mit Engster und Eiden-Offe.

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Rüdiger Dannemann: Die Bedeutung des Begriffs der Verdinglichung für die Gegenwartsdiagnostik

Rüdiger Dannemann, Vorstandsmitglied/Mitbegründer der Internationalen Georg Lukács Gesellschaft und Herausgeber des Lukács-Jahrbuch, verdeutlicht die Bedeutung der Verdinglichung für die Gegenwart und leistet eine Aktualisierung des Begriffs.

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Diskussion

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Detlev Claussen: Geschichte ohne Klassenbewußtsein? Georg Lukács’ kurzes 20. Jahrhundert.

Detlev Claussen, emeritierter Professor für Gesellschaftstheorie der Universität Hannover, Herausgeber von Lukács’ Aufsätzen zu Lenin, Oktoberrevolution und Perestroika, spricht kenntnisreich und anekdotisch über eine Geschichte ohne [!] Klassenbewußtsein.

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Diskussion

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