Roger Behrens: Versuche einer kritischen Radiopraxis

Er hielt Rundfunkvorträge, nahm an Gesprächsrunden1 teil, diskutierte im Fernsehen über Fragen der kritischen Theorie, bediente sich des Rundfunks, um im Sinne der Erziehung zur Mündigkeit mit politisch – philosophischen Beiträgen Aufklärung zu leisten: Theodor W. Adorno. Michael Schwarz, Mitarbeiter im Adorno-Archiv, hat allein 114 Rundfunkgespräche gezählt, bei denen sich Adorno vor das Mikrophon setzte. Noch höher ist die Zahl der ausgestrahlten Vorträge im Radio. Durch die Partizipation im öffentlich-rechtlichen Rundfunk versprach er sich seinen Teil zur Entbarbarisierung beizutragen; das Radio als Kommunikationsapparat zu nutzen, statt es wie in der Kulturindustrie zum Volksempfänger zu funktionalisieren.
Das (öffentlich-rechtliche) Radio, das hilft nicht zu verkümmern, ist heute Illusion: Rundfunkanstalten sind vernarrt in die Idee, dass Hörfunk eine Art überall erreichbaren Services sei. Die Konsequenz ist das kleinste zumutbare gemeinsame Vielfache: Musik, die durch den Alltag dudelt und – quasi zusätzlich- Informationen über das Wetter, den Verkehr und das tagesaktuelle Geschehen – möglichst gut und schnell verdaulich. Nicht verwunderlich daher, dass Akteure, die sich in der Tradition der Kritischen Theorie sehen, sehr selten in solchen Formaten zu Wort kommen. Die Wenigen, die dennoch zu hören sind, sind zumeist auf die limitierten Möglichkeiten freier Radios angewiesen. Ein Beispiel liefert Roger Behrens Sendung Freibaduniversität (im Winter Hallenbaduniversität genannt), die er für das Freie Senderkombinat Hamburg und Radio Corax produziert. Einige Sendungen der letzten Monate dokumentieren wir im Folgenden.

Zu Walter Benjamins Über den Begriff der Geschichte2

Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund ist offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewandt. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm. (Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte) Roger Behrens spricht über die posthum unter dem Titel „Über den Begriff der Geschichte“ publizierten geschichtsphilosophischen Thesen Benjamins.

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Verstummen. Versuch einer Aktualisierung der Kritischen Theorie

Roger Behrens unternimmt den Versuch einer Bestandsaufnahme sowie einer Aktualisierung der kritischen Theorie des Sozialphilosophen Theodor W. Adorno; dabei geht es auch um Aspekte, die in der kritischen Gesellschaftstheorie Adornos widersprüchlich oder bloß angedeutet blieben, etwa um die Frage der gegenwärtigen Bedeutung der Kritik der Kulturindustrie für die neuere Popkultur, um die Perspektiven einer ästhetischen Theorie nachdem Kunst endgültig verstummt scheint.

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Die Moderne redigiert. Zum Tod von Heinz Paetzold

Am 9. Juni ist der Kulturphilosoph und Kritische Theoretiker Heinz Paetzold gestorben. Wer Paetzold liest, merkt sofort, auf welche Vielfalt von Theorien er sich bezogen hat. Keineswegs ist sein Zugriff auf die unterschiedlichsten Theorien affirmativ, wenn auch insofern wohlwollend, als er selbst Arnold Gehlen oder Shuzo Kuki und Tetsuro Watsuji in der Perspektive rettender Kritik rezipiert.

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Über und gegen Heideggers Ontologie

Heideggers Ontologie wurde von unterschiedlichsten Schulen nachgerade euphorisch rezipiert als vermeintlich einziger Denkweg, der im gegenwärtigen Zeitalter überhaupt noch beschritten werden könne. Dass Heidegger die Metaphysik endgültig zerschlagen wollte und Jacques Derrida dies mit dem Verweis quittierte, Heidegger sei damit nicht weit genug gegangen, ist überdies symptomatisch für eben die Paradoxie, die die moderne Ontologie im Kontext der Geschichte des 20. Jahrhunderts ohnehin bezeichnet: Die Fundamentalontologie ist nur naiv oder zynisch vom deutschen Boden zu trennen, auf dem die Lichtung des unverborgenen Seins inmitten des nationalsozialistischen Terrors ausgemacht wurde. Dass Heidegger sich nicht nur persönlich zum Faschismus bekannte, gilt noch heute in der akademischen Philosophie als Tabu.

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Erich Fromm und die kritische Theorie des Subjekts

Erich Fromm über den angepassten Menschen heißt ein kurzer, zweiminütiger Clip auf Youtube, in dem Fromm in einem Interview von 1977 über die spätkapitalistische Gesellschaft spricht: Wie werden Menschen in die bestehende Ordnung integriert, und wie wird dabei ihr psychischer Apparat so organisiert, dass man sich mit einer Struktur abfindet, in der die Repression nachgerade als Erfüllung höchster Ziele erscheint? Fromm beginnt: Die Normalsten sind die kränkesten, und die Kranken sind die gesündesten … Der Mensch, der krank ist, der zeigt, dass bei ihm gewisse menschliche Dinge noch nicht so unterdrückt sind, dass sie in Konflikt kommen mit den Mustern der Kultur und dass sie dadurch Symptome erzeugen … Glücklich der, der ein Symptom hat; wie glücklich der, der einen Schmerz hat, wenn ihm etwas fehlt. Das wissen wir: Wenn der Mensch keinen Schmerz empfinden würde, wäre er in einer sehr gefährlichen Lage. Aber sehr viele Menschen sind so entfremdet, dass sie schon gar keinen Konflikt mehr empfinden, das heißt, ihr wirkliches Gefühl ist so verkümmert, dass sie das Bild einer chronischen leichten Schizophrenie zeigen.

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Allumfassende Kulturindustrie

In der Konkurrenz der Medien ist der Bedarf nach Musik, Geschichten und Bildern ebenso unersättlich wie in der politischen Konkurrenz der Interessen der nach Expertenäußerungen. Irgendwelche Verbindlichkeit hat das alles nicht. Ein Musikstück folgt dem anderen, eine Expertenäußerung wird von der nächsten aufgehoben. Künstler machen es mehr mit modischer Unangepaßtheit. Aber im Großteil der Fälle passiert gar nichts. Roger Behrens über die Totalität und die Möglichkeiten einer Kritik der Kulturindustrie.

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Krieg und Pop

Die Gammler und der Protest gegen die atomare Wiederaufrüstung, die friedliche Nelkenrevolution mit den Blumen in den Gewehrläufen, die Poster, auf denen Atompilze und sterbende Soldaten mit einem Why? befragt wurden, und die Mauer, auf der steht: Stell Dir vor es ist Krieg, und keiner geht hin!; Yoko Ono und John Lennon (Make Love, not War), Joseph Beuys (Wir wollen Sonne statt Reagan, in), Nicole (Ein bißchen Frieden) und natürlich die Bots, überhaupt die Friedensbewegung, das Friedenszeichen und Picassos weiße Taube, und so weiter. Doch die Symbolik der Popkultur ist nur augenscheinlich eine des Friedens: Bereits die frühen Jugendbewegungen zogen 1914 begeistert in den ersten Weltkrieg; eine – wie auch immer codierte – Adaption militärischer Accessoires gehört zu fast allen Popkulturen, von den Flieger-Lederjacken bis zu den Parkas der Mods und! der derzeitigen Camouflagebekleidung. Ihren Protest gegen den Krieg setzt die Popkultur nicht selten mit den Mitteln des Krieges um – diesen Zynismus hat zuerst der Punk erkannt, allen voran Gruppen wie Crass, die dann auch richtig stellten: Fight War, not Wars!. Um es kurz zu machen; Kein Pop ohne Krieg. Friedrich Kittler hat die Nähe zwischen Kriegselektronik und moderner Kulturtechnik nachgewiesen; die Fundierung der sexistischen Gewalt in der Popkultur, die im Krieg etwa als Massenvergewaltigung eingesetzt wird, bestätigt Männerphantasien von Ernst Jünger bis Slayer. Alle maßgeblichen Elemente der Massenkultur sind zugleich Elemente des Krieges. Roger Behrens über Krieg und Pop.

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Gesellschafts- statt Kulturkritik.75 Jahre traditionelle und kritische Theorie (Max Horkheimer)

Die Frage, ob man für oder gegen Kritische Theorie sei, ist Unfug; sie entspricht der herrschenden Tendenz in den Geistes- und Sozialwissenschaften, vom theoretischen Ballast, von schwerverdaulicher Kritik sich zu verabschieden: sich frei zu machen, womöglich von Theorie überhaupt; als ob nicht die Zustände das Problem seien, sondern die Theorie, die diese Zustände als problematisch beschreibt. Mit der Kulturindustriethese gelingt Adorno eine Kulturkritik, die über den konservativen und restaurativen Kulturpessimismus mehr als hinausgeht – und deswegen keine Kulturkritik ist, sondern an der Kultur explizierte Gesellschaftskritik; mit der Kulturindustriethese entfaltet Adorno die Notwendigkeit einer dialektischen Aufhebung der Kultur, als deren Resultat das stünde, was Adorno kaum auszusprechen wagte, was zugleich im Namen der Kultur strukturell verhindert wird: die emanzipierte Gesellschaft. Roger Behrens – aus Anlass des 75. Jahrestages des Erscheinens des Aufsatzes traditionelle und kritische Theorie von Max Horkheimer – zur Aktualität der Kritischen Theorie.

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Kritik der Medien und des Pop

Seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts bilden Neue Medien, Pop, Postmoderne und die dazugehörigen theoretischen Derivate die kulturelle, technische und ideologische Architektur des Spätkapitalismus; zusammen mit Wörtern wie Information, Kybernetik, Kommunikation und dergleichen bestimmen sie den Ausdruckszusammenhang der Entwicklung von der fordistischen zur postfordistischen Gesellschaft bis in die Gegenwart. Pop, Medien oder Postmoderne werden dabei in je spezifischen Diskursformationen (Popdiskurs, Cultural Studies, Medientheorie, Postmoderne und Poststrukturalismus) als Paradigmen eingeführt. Dabei werden Bezeichnungen wie Pop und Medien auf immer mehr Bereiche der gegenwärtigen Gesellschaft ausgedehnt und verallgemeinert (ohne damit aber Allgemeines zu begreifen): Die Gesellschaft wird zum abstrakten Modell, die konkreten Beziehungen der Menschen immaterialisiert. Die materiellen Bedingungen der Produktion sind aufgelöst in Feldern, Koordinaten, Systemen, oder werden schlichtweg theoretisch annulliert. Roger Behrens übt eine Kritik der Medien und des Pop.

    Download: via FRN (mp3; 49 min; 35 MB)

Weitere aktuelle Beiträge von Behrens werden unregelmäßig, aber früher als im Audioarchiv, hier zusammengetragen.

  1. Eine kleine Auswahl findet sich unter anderem bei Ubu:
    http://ubu.com/sound/adorno.html

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  2. In dieser Sendung tauchen auch hin und wieder Sequenzen des Ammer & Console Projektes Loopspool (1999) auf. Dort finden sich die Stimmen von Theodor W. Adorno, Laurie Anderson, Ernst Bloch, Lisa Fittko, Heiner Müller, Max Rychner und Gerschom Sholem: http://www.coderecords.de/code01loopspool.html [zurück]

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