Die Deutschen und der Stuttgarter Bahnhof

Über die Neuordnung des Eisenbahnknotens Stuttgart und die damit verbundenen baulichen Maßnahmen wird nach wie vor auf allen Ebenen gestritten: Der Bundestag hält eine aktuelle Stunde zum Thema ab, Feuilletonisten und Leitartikler beleuchten das Thema von allen moralischen Seiten, Soziologen rätseln über den neuartigen Charakter sozialer Konflikte, der hier zum Ausdruck kommen soll und die Linke weiß nicht so recht, wie sie sich zu all dem verhalten soll. Wir dokumentieren hier zwei Beiträge, die sich kritisch mit der neuen Protestbewegung gegen Stuttgart 21 auseinandersetzen.

1. Uff de’ schwäb’sche Eisebahne…“ – Der Protest gegen Stuttgart 21 als Spielwiese der Gegensouveränität:

Uli Krug (Redaktion Bahamas) referiert in seinem von der Gruppe Monaco in München organisierten Vortrag vor allem zwei Thesen: 1. Es ist kennzeichnend für die deutsche Protestbewegung, dass sie nicht die Welt verändern will, sondern dass sie verhindern will, dass sich die Welt verändert. 2. Im Protest gegen Stuttgart 21 wird ein Idealbild von Gesellschaft und Staat verhandelt: angestrebt wird eine Abkehr vom naturfernen, künstlichen Rechtsstaat – es handelt sich um eine Heimatschutzbewegung. Während diese Thesen (nebst eingestreuten Klagen über den Anti-Katholizismus) wohl von einem Bahamas-Redakteur zu erwarten gewesen sind, sind die weiteren Ausführungen dann doch recht interessant. So führt er aus, dass sich im Motto der Proteste, „Oben bleiben„, die soziale Abstiegsangst der grünen Mittelschicht ausdrückt, die ihren drohenden Abstieg in der Verlagerung des Stuttgarter Bahnhof ins Unterirdische symbolisiert sieht. So trennte ein überirdischer Bahnhof bisher sauber diejenigen, die sich ein Bahnticket leisten können, vom ubahnfahrenden Pöbel, während ein unterirdischer Bahnhof das bisher Getrennte nun zu vermischen droht. Dass hier nicht nur eine Analogie in der Symbolik vorliegt, macht er deutlich, indem er die Sozialstruktur Baden-Württembergs als von mittelständigen Zünften und Clans geprägt charakterisiert, die sich hartnäckig gegen Modernität und Mobilität zur Wehr setzen.

In Stuttgart wird ein Bahnhof gebaut. Der schäbige, alte Kopfbahnhof, der die Durchreisenden dazu zwang, länger als eigentlich nötig in der Spießermetropole Nummer 1 zu verweilen und kostbare Lebenszeit für mehr als einen Blick auf ein trostloses Beispiel antimoderner Architektur zu opfern, wird endlich abgerissen. Nicht eine einzige Person wird durch den Bau des neuen Bahnhofes absichtlich verletzt werden, keiner wird deshalb verhungern oder erfrieren (im Gegenteil), und niemand droht darum die Abschiebung oder Verhaftung. Und doch behaupten die Protestierenden, es gehe um nichts weniger als um die „Zerstörung der Stadt“ (www.kopfbahnhof-21.de). Wo der wahnwitzige Kult um die Heimat so stark ist, dass jede Veränderung, ja sogar jede Verschönerung zur „Zerstörung“ erklärt wird, während man sich um die physisch und psychisch durch den Gang der kapitalistischen Logik Zerstörten, die auch in Stuttgart allgegenwärtig sind, nicht im Geringsten schert, da ist „sozialer Protest“ nur ein anderes Wort für irregewordene Raserei. Der Bahnhof wird zur heiligen Stätte, die Steine selbst zum Symbol des Widerstands gegen ein fetischisiertes Abbild des Kapitalismus, der alles niederreiße und nichts als neue Wunden hinterlasse, die nie wieder verheilten.

Gegen diesen „Raubtierkapitalismus“ (Helmut Schmidt) der Banken und Konzerne helfe nur die geballte Wut des Volkes, ein Aufstand der Anständigen, die sich nicht mehr durch das korrumpierte Staatspersonal repräsentiert fühlen. Die in der Form Demokratie als Tendenz angelegte Herrschaft des Mobs wird in Stuttgart als wirksame Arznei gegen volks- und umweltschädliche Potentaten empfohlen. Die Zauberformel der Stunde heißt, in Ermangelung eines Volkstribuns Hitlerschen Typus, mit dem sich die Massen fraglos identifizieren könnten, „Volksbefragung“. Die Ausschaltung des Parlaments und des rationalen, weil kalkulierbaren Rechts zugunsten der obskuren und willkürlichen Beschlüsse eines sich ebenso spontan wie vorhersehbar bildenden Plebiszits der Öko-, Friedens- und Sozialaktivisten läuft auf nichts weniger als eine postmoderne Version der Volksgemeinschaft hinaus. [via]

    Download: original via MF (m4a; 27,1 MB; 56:42 min) oder nachbearbeitet via AArchiv (mp3; ; 56:42 min)

2. 17 Grad – Stuttgarter Bahnhof:

Dass es sich bei den Protesten gegen Stuttgart 21 tatsächlich um eine besonders deutsche Bewegung handelt, macht eine Sendung der Redaktion „17 Grad“ deutlich, die den Blick vor allem auf den Architekten desjenigen Gebäudes richtet, das hier so vehement verteidigt wird: Paul Bonatz, der das Hauptgebäude des Stuttgarter Bahnhofs entwarf, steht für diejenige nationalistische, antimoderne Architekturschule, die sich gegen das neue Bauen (Bauhaus etc.) engagierte, für die selbst das Bauen rassisch und naturverbunden zu sein hatte und die sich der nationalsozialistischen Herrschaft andiente und von dieser gefördert wurde. Der sonst von der 17Grad-Redaktion gewohnte gute Musikgeschmack lässt in dieser Sendung leider etwas zu wünschen übrig (gespielt wird ausschließlich Reggae), deshalb habe ich eine nachbearbeitete Version erstellt, in der die Musik entfernt ist.

    Download: Originalsendung via MF (mp3; 55,3 MB; 1 h) oder nachbearbeitet, ohne Musik via AArchiv (mp3; 13,9 MB; 24:19 min)

4 Gedanken zu „Die Deutschen und der Stuttgarter Bahnhof

  1. Pingback: Die Wahl der Qual. | Reflexion

  2. MoshMosh

    @ Klaus:

    Zunächst erstmal die Anmerkung, dass es bei der Audioarchiv-Redaktion keinen festgeschriebenen Konsens darüber gibt, welche Beiträge diskutierenswert sind und welche nicht (hierzu auch Ernsts Anmerkung hier) – dass ich den Vortrag von Uli Krug für diskutierenswert erachtet und dokumentiert habe, war meine Entscheidung und ich stehe dafür grade. Dass ich hingegen nicht unbedingt bedingungsloser Bahamas-Fan bin habe ich, denke ich, in der Kurzbeschreibung des Inhalts durchblicken lassen. Prinzipiell finde ich, dass trotz einer allgemeinen Tendenz zur Wahnhaftigkeit und zum Teil nicht hinnehmbaren Positionen, in der Bahamas auch hin und wieder Erkenntniserweiterndes zu lesen ist (so etwa eben jene Betrachtung der Stuttgart-21-Proteste). Du solltest dann deine Kritik an der Bahamas am Beispiel konkret machen und den Vortrag von Uli Krug inhaltlich kritisieren.

    Die Bemerkung zum Reggae war keine politische – es ist mir klar, dass nicht alle Reggae-Musiker reaktionär sind und ich traue es der 17-Grad-Redaktion zu, dass sie hier eine angemessene Musik-Auswahl getroffen hat. Dass mich selbst Reggae-Musik einfach nervt, egal ob mit oder ohne reaktionären Texten, ist mein persönliches Geschmacksurteil. Wenn ich deinen musikalischen Gefühlen mit der Bemerkung zu nahe getreten bin, tut mir das leid. Ich habe hier zudem niemanden bevormundet, weil ich beide Versionen zur Verfügung gestellt habe: die Originalsendung mit Musik via MF und die bearbeitete Version ohne Musik via AArchiv. Wenn du auf den MF-Link klickst, kannst du die Sendung mitsamt der ungekürzten musikalischen Umrahmung genießen.

    Was du hier als Nazi-Schnüffelei und bloß privates architektonisches Geschmacksurteil abtust, hat meines Erachtens eine gesellschaftliche und politische Relevanz. Es sollte bekannt sein, dass in architektonischer Gestaltung Machtverhältnisse und Kontinuitätslinien zum Ausdruck kommen. Die Frage nach dem guten Leben impliziert die Frage, wie unsere Städte gestaltet sein sollen, wie wir uns in ihnen bewegen können – diese Fragen hat eben jene Bewegung des neuen Bauens gestellt und zu beantworten versucht, gegen die sich Bonatz und Konsorten in antimoderner Raserei gewandt hatten. Relevant ist damit nicht nur, wer ein Gebäude gebaut hat, sondern auch, was in der Form eines Gebäudes zum Ausdruck kommt und es ist damit auch relevant, warum eine Bewegung so ein Teil als ein wertvolles Kulturerbe so krampfhaft verteidigt.

    Was du mit „unserem“ „Recht-auf-Stadt-Krampf“ meinst, ist mir ebenso rätselhaft, wie „die määnstriiem-variante knallerechts“.

  3. klaus

    dies post ist so linke szene, dass man sich fremdschämen muss.
    – wer nimmt denn die bahamas noch ernst? muss man sich mit leuten beschäftigen, die die taliban-clans in der badensichen pißjauche (marx) wiederentdecken? einem gegenstand die krätze anhängen um ihn kratzen zu können bzw. „irregewordene raserei“, sag ich da nur.
    – nur weil viele reggae-hörer und -künstler reaktionär sind, ist reggae nicht die allerschlechteste musik. es ist außerdem inakzeptabel, dass hörer hier bevormundet werden. schließlich ist auch hirnverbrannt, politisch korrekt musik hören zu wollen. darauf kann ja echt nur wieder ein linksradikaler kommen.
    – und dann die nazi-schnüffelei… wen kümmerts, ob ein nazi dies und das gebaut hat, solang es kein kz war. ok, grad gegoogelt und das ding schaut ja echt zum fürchten aus. aber wie macht das die knutbürger „tat­säch­lich zu einer be­son­ders deut­schen Be­we­gung“, die sie zweifellos sind? alles nationalsozialistische fans von bonatz? wird euer „recht auf stadt“-krampf etwa linker, wenn ihr die määnstriiem-variante knallerechts interpretiert?

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