Robert Kurz zur Geschichte der Wertkritik

Zum historischen Bedingungszusammenhang der Wert- und Abspaltungskritik

Der im August 2010 gehaltene Vortrag thematisiert die Entstehung und den Anspruch der Wert-Abspaltungskritik. Robert Kurz (Redakteur bei »EXIT!«) geht es dabei nicht nur um theoriegeschichtliche Abläufe, sondern auch um die historische Selbstverortung von Theoriebildung (im allgemeinen) und um Kriterien für deren Kritik, u.a. erläutert an den Differenzen zur »neuen Marxlektüre«.

Veranstaltet und aufgezeichnet vom Wert-Abspaltungskritischen Lese- & Diskussionskreis Berlin in Zusammenarbeit mit dem Verein für kritische Gesellschaftswissenschaften e.V.

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Ankündigungstext:

Eine neue kritische Theorie wie die Wert-Abspaltungskritik entsteht immer aus der Auflösung von Widersprüchen der älteren kritischen Theorien im Zusammenhang mit der realen gesellschaftlich-historischen Entwicklung. Es handelt sich also nicht um geniale Einsichten des freischwebenden reinen Intellekts. Andererseits muss gerade deswegen jede neue kritische Theorie einen Anspruch auf historische (d.h. bedingte, begrenzte) Wahrheit erheben. Nicht weil ihre Träger und Protagonisten klüger sind als die früheren, sondern weil sie sich auf veränderte Bedingungen bezieht, in der sich der Kapitalismus zur fortgeschrittenen Kenntlichkeit entwickelt hat. Deshalb kann die neue kritische Theorie nicht einfach eine andere Interpretation des als unverändert unterstellten Kapitalismus liefern, sondern sie muss gleichzeitig das Terrain der veränderten Verhältnisse analysieren, ihren eigenen Ort im historischen Prozess reflektieren und sich selbst erklären können. Dieser Problem- und Bedingungszusammenhang soll in fünf Aspekten erläutert und dargestellt werden.

Erstens ist zunächst festzuhalten, dass das genannte Problem nur in der Subjekt-Objekt-Dialektik der dynamisierten modernen Fetischverhältnisse besteht. Dabei haben sich in der Konstitution des Kapitalismus die eigenen Handlungen, Hervorbringungen und Verhältnisse den Akteuren gegenüber blind objektiviert und verselbständigt. Erst daraus entsteht die Aufgabe der Kritik, diesen Zusammenhang zu erklären und zu überwinden, und erst daraus ergibt sich der Anspruch einer „objektiven Wahrheit“ in Bezug auf die so verfasste Gesellschaft. Mit der Überwindung der negativen Objektivität wird auch diese Art der Theoriebildung gegenstandslos, aber erst dann. Diese negative Objektivität ist aber keine statische, sondern eine dynamische. Deshalb dürfen die kapitalistischen Grundkategorien auch nicht als statische gedankliche Abstraktionen festgehalten werden, zu denen die empirische Geschichte nur in einem äußerlich-akzidentiellen Verhältnis steht (Kapitalismus als ewige Wiederkehr des Gleichen). Vielmehr sind diese Kategorien als reale auch real historisch-dynamische, die in ihrem inneren Entwicklungsprozess einer fortschreitenden kritischen Darstellung und Analyse bedürfen.

Diese Bestimmung soll zweitens in Grundzügen erläutert werden an der Differenz zwischen der Wert-Abspaltungstheorie und der sogenannten „neuen Marxlektüre“. Dabei geht es im Wesentlichen um den Unterschied zwischen einer historischen und einer philologischen Auffassung der Marxschen Theorie. Dieses epistemische Grundproblem lässt sich an der Theoriebildung einer „Rekonstruktion der Kritik der politischen Ökonomie“ in der neuen Linken seit den 1960er Jahren aufweisen. In der Folge hat dies zu einem völlig gegensätzlichen Verständnis des „doppelten Marx“ bei der Wert-Abspaltungskritik und bei der „neuen Marxlektüre“ (insbesondere Michael Heinrich) geführt.

Drittens geht es um die Geschichte der Wert-Abspaltungstheorie selbst in den letzten 25 Jahren. Diese neue kritische Theorie konnte sich zunächst gewissermaßen selbst nicht „wissen“. Es handelte sich, ausgehend vom Zustand der Linken in den 1980er Jahren und den damaligen gesellschaftlichen Bedingungen, um ein mühsames Herausarbeiten aus dem traditionellen Marxismus, das in seinen wichtigsten Stationen nachgezeichnet werden soll (Eigenständigkeit der Theorie gegenüber dem Praxisimperativ, Kritik des Positivismus, Kritik der Sowjetökonomie, Kritik der Wertform und der Arbeitsontologie, schließlich als entscheidende – meist nicht als solche wahrgenommene – Weiterentwicklung die Kritik des geschlechtlichen Abspaltungsverhältnisses und der androzentrisch-universalistischen Aufklärungsvernunft). Erst ab einem bestimmten Grad der Theoriebildung schälte sich diese als eigenständiges und umfassendes neues Paradigma einer „kategorialen Kritik“ heraus, das eine historische Einordnung der Theorie- und Bewegungsgeschichte vornehmen konnte; auch wenn dieser Zusammenhang bis jetzt noch nicht vollständig ausformuliert ist.

Viertens soll diese begrifflich-analytische Einordnung in Grundzügen vorgestellt werden. Dabei geht es zum einen um die gesellschaftliche Bestimmung des „Arbeiterbewegungsmarxismus“ in der historischen Bedingtheit seiner Auffassungen von Kapitalismus und Sozialismus/Kommunismus unter Einschluss des „doppelten Marx“. Diese Epoche fand ihr Ende mit der Niederlage gegen den NS und setzte sich in Ausläufern bis nach dem 2. Weltkrieg fort. Zum andern geht es um die gesellschaftliche Bestimmung des „Postmodernismus“ bzw. der postmodernen Linken (Poststrukturalismus, Postoperaismus) ebenfalls in der historischen Bedingtheit ihrer Auffassungen von Gesellschaftskritik. Dazu gehört die neoliberale Epoche einer Virtualisierung des Kapitals (Finanzblasen-Ökonomie) mit entsprechenden ideologischen Mustern ebenso wie der Übergang des „Linksseins“ in eine soziale Mittelschichtsorientierung. Die Wert-Abspaltungstheorie als „kategoriale Kritik“ setzt sich von Arbeiterbewegungsmarxismus und Postmodernismus nicht nur im Verständnis des Kapitalismus und seiner Krisendynamik auf der Höhe der erreichten Entwicklung ab, sondern sie erhebt auch den Anspruch, das Feld der theoretischen Auseinandersetzung in seiner historisch-gesellschaftlichen Verfasstheit mitzureflektieren und auf den Begriff zu bringen.

Fünftens schließlich ergibt sich daraus ein Problem für die Rezeption der Wert-Abspaltungstheorie, die ebenfalls von den gesellschaftlichen Bedingungen geprägt ist. Das neue Paradigma ist zwar in gewisser Weise in die linken Szenen und Bewegungszusammenhänge eingesickert, aber nur bruchstückhaft in der Isolierung einzelner Momente (etwa der Arbeitskritik) und „praxeologisch“ herunter gebrochen. In dieser Rezeptionsweise wird die „kategoriale Kritik“ nicht als umfassende neue Theorie mit historischem Wahrheitsanspruch wahrgenommen, sondern eklektisch mit traditionsmarxistischen und postmodernen Theoremen amalgamiert. Aus dem Eklektizismus ergibt sich aber keine übergeordnete Synthese, sondern nur eine Verwässerung und Aufweichung des ganzen Ansatzes bis zur Unkenntlichkeit. Wahrheitsmomente der älteren, immer noch den Mainstream der Linken dominierenden Theorien werden nicht kritisch integriert, sondern die Wert-Abspaltungstheorie bzw. „kategoriale Kritik“ selber wird eher desintegriert. Das hat etwas mit einem postmodern sozialisierten Bewusstsein zu tun, das sich auf einem „Markt der Meinungen“ oder an einer theoretischen Supermarkt-Theke wähnt, aus der es sich ein individuelles „Menü“ zusammenstellen kann. Jedes Kriterium für die objektive, historisch bedingte Wahrheit fehlt und damit auch jede Bestimmtheit in der Auseinandersetzung. Die Wert-Abspaltungstheorie ist nicht sakrosankt und immun gegen Kritik, aber wer sich damit eigenständig befassen will, muss sich auch auf die darin enthaltene Reflexion der historischen Entwicklung und Bedingtheit einlassen, weil nur so die Auseinandersetzung nicht in einem ahistorischen Raum schwebt, in dem alle Katzen der Theorie grau sind.

Ein Gedanke zu „Robert Kurz zur Geschichte der Wertkritik

  1. Namenlos

    Ich wollte mich mal bei Euch für die ganzen tollen Beiträge bedanken! Ihr vollbringt wertvolle Aufklärungsarbeit! Weiter so!

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