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Kritik und Eigensinn im Zeitalter der Katastrophe

Im Folgenden werden drei Beiträge dokumentiert, die thematisch mehr oder weniger zusammen hängen, jedoch jeweils einen eigenen thematischen Fokus haben. Es geht um Rechtsruck, ökologische Krise, Widerstand auf verlorenem Posten, Erziehungsweisen, die Kategorie des Eigensinns und um Ästhetik.

1.) Widerstand ohne Hoffnung

Am 08. Januar 2019 hat der Autor Wolfram Ette einen Vortrag im Chemnitzer Lesecafé Odradek gehalten. Der Vortrag wirft die Frage auf, wie angesichts der historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, der Antiquiertheit des Fortschrittsglaubens und düsterer Zukunftserwartungen überhaupt noch eine emanzipatorische Perspektive formuliert werden kann. Dafür wird das Motiv des „Widerstands ohne Hoffnung“ eingeführt, das Ette aus der Lektüre der „Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiß entwickelt. Zudem argumentiert Ette, dass der Erfolg rechtspopulistischer und rechtsextremer Motive ein Stück weit aus der Desavouierung des Fortschrittsglaubens erklärbar ist. Die Thesen des Vortrags sind unter dem Eindruck der Ereignisse in Chemnitz im Spätsommer 2018 entstanden.

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Einige Motive des Vortrags werden auch in dem Manifest „Schwarze Linke unter Sternen“ entwickelt. Texte von Wolfram Ette und Anderen finden sich unter wolframettetexte.wordpress.com.

2.) Das eigensinnige Kind

2019 hat Wolfram Ette im Büchner-Verlag das Buch „Das eigensinnige Kind. Über unterdrückten Widerstand und die Formen ungelebten Lebens“ veröffentlicht. Dieses Buch wurde im Oktober 2021 in der Sendereihe Wutpilger-Streifzüge vorgestellt, wobei Wolfram Ette ausführlich zu Wort kommt. Es geht in der Sendung um das Märchen vom eigensinnigen Kind (Gebrüder Grimm), die Kategorie des Eigensinns und um die pathologischen Folgen unterdrückten Eigensinns.

„Es war einmal ein Kind eigensinnig und tat nicht, was seine Mutter haben wollte. Darum hatte der liebe Gott kein Wohlgefallen an ihm und ließ es krank werden, und kein Arzt konnte ihm helfen, und in kurzem lag es auf dem Totenbettchen.“ – So beginnt eines der kürzesten Märchen aus den Sammlungen der Gebrüder Grimm. Das Märchen vom eigensinnigen Kind verdeutlicht die Bedeutung dessen, was Eigensinn ist: Eine Reaktion auf unterdrückende Verhältnisse, die das Leben tendenziell unmöglich machen. Aber Eigensinn muss keineswegs eine emanzipatorische Stoßrichtung haben, er kann auch gemeine, barbarische, reaktionäre Züge tragen. Wolfram Ette untersucht in seinem Buch „Das eigensinnige Kind – Über unterdrückten Widerstand und die Formen ungelebten Lebens“ die pathologischen Folgen unterdrückten Eigensinns. Einigen Gedanken dieses gesellschaftspolitischen Essays folgt diese Sendung.

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3. Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind

Die nachfolgende Ausgabe der Sendereihe Wutpilger-Streifzüge widmet sich dann einer kritischen Auseinandersetzung mit Johanna Haarer und dem nationalsozialistischen Erziehungsratgeber „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind„. In der Sendung kommt vor allem die Literaturwissenschaftlerin Karin Nungeßer zu Wort. Die Sendung ist auch ein Ergebnis des Seminars „Das eigensinnige Kind„, das Karin Nungeßer und Wolfram Ette im November 2021 im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Kritik und Eigensinn“ im Conne Island Infoladen in Leipzig durchgeführt haben. Ausgehend vom „eigensinnigen Kind“ wird der Frage nachgegangen, wie das Nachwirken von Johanna Haarers Erziehungsratgebern nach 1945 zu erklären ist.

Diese Radiosendung setzt sich kritisch mit der Pädagogik von Johanna Haarer (1900-1988) auseinander. Mit den Büchern „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ und „Unsere kleinen Kinder“ schrieb Haarer die wichtigsten nationalsozialistischen Erziehungsratgeber. Doch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ wurde auch nach 1945 unter verändertem Titel bis in die 1980er Jahre wieder aufgelegt. Was machte die Pädagogik von Johanna Haarer aus? Was war das neue an dieser Pädagogik? Worin bestehen Kontinuitäten bis heute? Was machte Haarers Bücher auch nach 1945 anschlussfähig? Zu diesen Fragen kommen Karin Nungeßer, Wolfram Ette, Anne Kratzer und Benjamin Ortmeyer zu Wort.

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Auf dem Youtube-Kanal Schachtel1000 werden zahlreiche Folgen der Sendereihe Wutpilger-Streifzüge hochgeladen. Hier findet sich ein Verzeichnis von Wutpilger-Sendungen – auf aergernis.org finden sich wesensverwandte Interview und Beiträge.

Kunst und Gesellschaftskritik in Zeiten der Kulturindustrie (II)

Drei weitere Vorträge, der bereits ausgiebig gewürdigten Reihe der Kritischen Interventionen (Halle) zum Verhältnis von Kunst und Gesellschaftskritik, können wir dokumentieren: Detlev Claussen mit Thesen zur Aktualisierung der Kritik von Kulturindustrie und Halbbildung, Roger Behrens mit Anmerkungen zu Faschismus, Avantgarde und Befreiung in der verwalteten Welt und Rüdiger Dannemann über die späte Ästhetik bei Georg Lukács.
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Peter Weiss: Abschied von den Eltern

Es zählt ohne Frage zu den wichtigsten Büchern des 20. Jahrhunderts: Die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss, der auf knapp 1000 Seiten in alten Mythen nach Strategien sucht, um sich in einer mörderischen Geschichte zu behaupten und dabei immer wieder an Utopien, Träume, Irrtümer, Narben wie Verbrechen der Emanzipationsbewegung erinnert. Ein Buch das weiterhin seine Relevanz besitzt; in einer Zeit, da der nun eingetretene Fortschritt diese Versuche auf den Müll der Geschichte werfen und am liebsten der Erinnerungslosigkeit preisgeben will. (Weiteres zum Buch ist mit Hilfe einer Besprechung von Lorettas Leselampe hier zu erfahren)
Der Bayrische Rundfunk hat sich nun dankenswerterweise an einer Hörspielfassung eines weiteren Werkes von Peter Weiss versucht: Abschied von den Eltern. Dabei wird der Tod der Eltern für den Erzähler Auslöser zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich. Das äußerst gelungene Hörstück wird von Robert Stadlober gelesen und musikalisch von The Notwist bearbeitet.

Abschied von den Eltern, erstmals 1961 erschienen, handelt von dem Zauber und den Abgründen der Kindheit, von den schmerzhaften Prozessen des Wachsens, der unausweichlichen Loslösung von Vater und Mutter, der Suche nach einem eigenen Leben. Sprunghaft und dennoch kunstvoll gewebt, mit einer gleichermaßen soghaften wie präzisen Sprache breitet Weiss ein Netz aus Momentaufnahmen aus und entwirft eine Ausdeutung seiner Vergangenheit, die in seine Entwicklung zum Künstler mündet. Der Erzähler berichtet von der frühen Kindheit und den ersten prägenden Eindrücken seiner Heimatstadt, schildert die sublimen Machtspiele unter Kindern und seine ersten sexuellen Erfahrungen. Er berichtet von Friederle, dem Nachbarsjungen, der ihn beständig drangsaliert und darüber, wie ausgeschlossen er sich nicht nur gegenüber Gleichaltrigen, sondern auch innerhalb seiner Familie fühlt. Die Beziehungslosigkeit der autoritären Eltern und ihre unantastbare Dominanz erzeugen für ihn den Eindruck als Fremder unter Fremden zu leben und den Wunsch nach Wärme und Zugehörigkeit. Als die geliebte Schwester Margit stirbt, beginnt für ihn die allmähliche Auflösung seiner Familie, die begleitet wird durch die lange Flucht vor den Nationalsozialisten ins schwedische Exil über London und Prag. Schließlich führt die Möglichkeit, eigene Ausdrucksformen in Malerei und Literatur zu finden, zu freiheitlicher Selbstbestimmung und innerer Unabhängigkeit. Eine Entwicklung, der seine Eltern durch eine Lehre im Warenhaus vergeblich versuchen, entgegen zu wirken. „Und die Unruhe, die jetzt begonnen hatte, ließ sich nicht mehr eindämmen, nach Wochen und Monaten langsamer innerer Veränderungen, nach Rückfällen in Schwäche und Mutlosigkeit, nahm ich Abschied von den Eltern.“
Abschied von den Eltern erscheint als erster Teil einer autobiografischen Künstlerprosa, die in Fluchtpunkt (1962) ihre Fortsetzung findet. Obwohl Peter Weiss immer sehr nah an seinen persönlichen Erfahrungen bleibt, bekommen seine Schilderungen etwas entwicklungspsychologisch Allgemeingültiges. Gleichzeitig schafft er durch die differenzierte Beschreibung des Einflusses von Familie auf das Individuum auch eine kritische Betrachtung des konservativen Bürgertums Mitte des 20. Jahrhunderts, wodurch seine Erzählung zu einem wichtigen Werk für die Jugendprotestbewegung von 1968 wurde.
Peter Weiss, geb. 1916 in Nowawes (heute Potsdam). Sohn eines jüdische Textilfabrikanten ungarischer Herkunft und einer deutschen Schauspielerin. Deutsch-schwedischer Schriftsteller, Maler, Filmemacher und Illustrator. 1934 Tod der Schwester Margit und Emigration über London nach Prag. Studium der Malerei an der Prager Kunstakademie. 1938 Aussiedlung über die Schweiz ins Exil nach Schweden. Trotz Annahme der schwedischen Staatsbürgerschaft bleibt das Gefühl des nicht Dazugehörens. Durch intensiven Briefwechsel mit seinem Idol Hermann Hesse Bestärkung zur künstlerischen Arbeit. In den 30er – 40er Jahren vorrangig Beschäftigung mit expressionistischer Malerei. Ab den 50er Jahren erste kleinere Erfolge als Experimentalfilmer. 1960 Durchbruch mit Der Schatten des Körpers des Kutschers und Aufnahme in die Künstlerverbindung Gruppe 47. Auf die surrealistische Prosa folgen politische Werke analytisch-dokumentarischen Charakters. Zentral ist dabei die vergangenheitspolitische Aufarbeitung Europas in der Kunst. Weiss propagiert, Kunst und Leben nicht zu trennen. 1982, im Jahr seines Todes, sollte Weiss mit dem Georg-Büchner-Preis geehrt werden, er erhält die Auszeichnung posthum.

Part 1+2

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Part 3

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Part 5

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Part 6

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