Charles Fourier und die Avantgarde-Bewegungen
Ich bin gerade mehr oder weniger durch Zufall wieder auf einen Vortrag gestoßen, den Tilman Reitz am 15.04.2010 im Rahmen der Reihe Kunst, Spektakel und Revolution gehalten hat. Der Vortrag gibt einen kurzen Überblick über das theoretische Werk Charles Fouriers und konzentriert sich dann vor allem auf die Rezeption Fouriers in der Kunst-Avantgarde und einem ihr nahestehenden intellektuellen Umfeld. Besonders ist die bearbeitete Radio-Version zu empfehlen, da dort dem Vortrag der Auszug eines Gedichts von André Breton über Fourier vorangestellt ist. Der Vortrag ist als ausgearbeiteter Textbeitrag in der zweiten Broschüre zur Reihe Kunst, Spektakel und Revolution erschienen und kann hier vollständig gelesen werden.
Eine Gesellschaft, die auf dem Spiel- oder Formtrieb aufbaut, hätte vermutlich starke zeremonielle, von ‚Sinn’ entlastete, aber strukturell gestaltete Anteile. Charles Fourier hat dieses Motiv in seiner frühsozialistischen Utopie konsequent durchgeführt: Er arrangiert Produktionsweisen, soziale Rangordnungen, Wohn- und Geschlechterverhältnisse so, dass ein Maximum künstlicher Ordnung höchste Abwechslung für die Beteiligten verspricht. Seine formalen Muster entnimmt Fourier Mythologie, Mathematik und Militär – die zentrale Produktionseinheit des ‚Palanstère’ leitet sich von der Phalanx, der antiken Schlachtreihe her – sein Formungsgegenstand sind die menschlichen Leidenschaften – die er selbst vorrangig als Triebe zu Spiel und Variation begreift. Die Ergebnisse lassen wenig von den gewohnten, bürgerlichen oder auch nur ‚realistischen’ Prinzipien von Vergesellschaftung übrig: Alle Arbeit soll attraktiv, die Konkurrenz ästhetisch, das Geschlechtsleben polymorph werden. Man muss sich daher kaum über das Interesse der Surrealisten an Fourier wundern. Neben seiner Fusionierung von Kunst und Leben dürfte für sie nicht zuletzt sein technischer, konstruktivistischer Umgang mit dem Begehren anziehend gewesen sein, der zwischen Befreiungsversprechen und planerischer Grausamkeit oszilliert (Benjamin und Barthes ziehen denn auch vergleichend de Sade heran). Fouriers Utopie kann als Traum wie als Alptraum erscheinen. Im Vortrag wird es darum gehen, was die anti-naturalistische, anti-bürgerliche und kunstkritische Avantgarde konkret mit Fourier anfangen konnte oder könnte – und wie seine eigenen Impulse zwischen der sozialtechnischen Tradition, der neuen Warenästhetik und dem utopischen Horizont des 19. Jahrhundert verortet sind.
Tilman Reitz schrieb über Ideologiekritik im historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus, promovierte zu „Bürgerlichkeit als Haltung“ und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. [via]
Download:
- via FRN (mp3; 48,9 MB; 71:11 min)
- via AArchiv: Vortrag (mp3; 36,0 MB; 62:50 min) | Diskussion (mp3; 12,8 MB; 22:25 min)
- bearbeitete Radio-Version: via Mediafire (mp3; 82,6 MB; 1 h 30:11 min)
Außerdem hat Swen Meyer auf Radio Corax ein Interview über Charles Fourier mit Tilman Reitz geführt, in dem dieser noch einmal zentrale Momente der Fourierschen Utopie zusammenfasst und in Beziehung zur Gegenwart und zur Möglichkeit des Kommunismus setzt: