Gesellschaftskritik – Subjekt – Psychoanalyse

EXIT!-Seminar 2015

Nachdem von verschiedenen Seiten bereits großes Interesse an den Mitschnitten des diesjährigen Seminars der Gruppe EXIT! bekundet worden ist, möchte ich die Beträge von Anselm Jappe und Daniel Späth an dieser Stelle dokumentieren. Mit dem Rahmenthema »Psychoanalyse« hat sich die Gruppe einem Dimension von Gesellschaftskritik zugewandt, dessen weitgehende Abwesenheit in der Wertkritik von Seiten anderer Strömungen oft bemängelt worden ist. Im Zentrum stand der Begriff des Narzissmus als Sozialcharakter der Gegenwart und als Struktmerkmal des bürgerlichen Subjekts überhaupt.

Die Aufzeichnungen sind im mp3- und ogg vorbis-Format auch auf archive.org zu finden.

1. Johanna Schmidt: Gesellschaftskritik und Psychoanalyse. Eine kritische Einführung in die Psychoanalyse – der Einstiegsvortrag ist bereits hier dokumentiert.

2. Anselm Jappe: War alles Descartes‘ Schuld? – Einige Betrachtungen zum Verhältnis von Narzissmus und Warenfetischismus

Der Narzissmus gehört zum postmodernen, neoliberalen Kapitalismus wie die klassische Neurose zum Kapitalismus der Aufstiegsphase: diese Ansicht ist mittlerweile recht verbreitet. Aber meistens wird »Narzissmus« nur als übertriebenes Selbstwertgefühl verstanden. Eine weitergehende, sich z. T. auf Christopher Lasch stützende Interpretation sieht darin eine Regression auf archaische, frühkindliche Stadien. Lasch selbst bringt diese Regression in Zusammenhang mit dem postfordistischen, konsumorientierten Kapitalismus, so wie auch neuere Autoren (Götz Eisenberg, Neo-Lacanianer in Frankreich). Das reicht aber nicht. Der Narzissmus, im Sinne der Abwesenheit echter Objektbeziehungen, ist eng mit der abstraktifizierenden Wertlogik verknüpft, die von jedem Inhalt absieht . Dieser Zusammenhang besteht bereits seit Descartes‘ »Cogito ergo sum« und seiner »Weltlosigkeit«, aber zeigt sich erst heute in seinem ganzen Destruktionspotential.

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    Download: Vortrag (1:15 h, 45 MB), Diskussion (0:50 h, 30 MB) via AArchiv

3. Daniel Späth: »Kritik durch Deutung« – Wert-Abspaltungs-Kritik, Psychoanalyse und die Irrationalität des narzisstischen Zerfallssubjekts

Fünfundzwanzig Jahre ist es mittlerweile her, dass die radikale Krisentheorie mit dem »Kollaps der Modernisierung« (Robert Kurz) sich innerhalb der linken Publizistik und ihrer Reaktionen auf den Zusammenbruch der Sowjetunion positionierte. Dass der ökonomische Ruin des Staatssozialismus der Vorschein einer tiefer liegenden Krise des gesamten Weltkapitals sein könne, diese These stand quer zur krisentheoretischen Abrüstung des Linksradikalismus. Verblasste, bedingt durch die postmoderne Wende, auch bei den orthodox-marxistischen Teilen jedweder Bezug auf akkumulationstheoretische Begründungen, um die objektivierte Fetischkonstitution in bloße politische Kräfteverhältnisse und Wechsellagen aufzulösen, musste die Reformulierung der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie auf der Höhe der Zeit von Anfang an verdächtig erscheinen.

Wurde die radikale Krisentheorie zunächst auch und gerade von linksradikaler Seite totgeschwiegen, konnte sie doch über ihren krisentheoretischen Kern hinaus Einfluss in der Linken gewinnen, sodass die Ignoranz von der Denunziation abgelöst wurde: Kapitalismus und objektive »innere Schranke« (Marx)? Ihr habt sie doch nicht mehr alle! Zu allem Unglück erfasste die objektive »innere Schranke« des Weltkapitals spätestens seit 2008 in vollem Umfang, sodass selbst die in konkretistischer Manier immerzu angeführte Empirie nur noch schwer gegen die radikale Krisentheorie ins Feld geführt werden kann. Seitdem sind Ignoranz und Denunziation gegen die radikale Krisentheorie von ihrer eklektizistischen Aneignung abgelöst werden, wodurch Versatzstücke der radikalen Krisentheorie in dem zur Szene verkommenen Linksradikalismus herumgeistern, ohne dass auch nur einer kategorialen Krise des Kapitals oder die daraus erwachsenden Implikationen in Bezug auf die Verwahrlosung des postmodernen Zerfallssubjekts in irgendeiner Form ernsthaft in Betracht gezogen würden.

Die aus Sicht der Wert-Abspaltungs-Kritik paradoxe Gegenläufigkeit, dass einerseits die Theorie einer fundamentalen Krise des Kapitals durch die europäische Krisenverwaltung ungemein an Brisanz gewinnt, andererseits die Linke aber noch nie so weit wie heute davon entfernt war, eine inhaltliche Auseinandersetzung mit ihr auch nur im Ansatz zu versuchen, drängt geradezu zu einer psychoanalytischen Kritik dieser grunsätzlichen Krisenaversion. Der postmoderne Eklektizismus, dem sich auch die Linke leidenschaftlich verschrieben hat, wirft sich auf jede noch so konträre Auffassung, um ihr durch Einverleibung den Stachel der Kritik zu ziehen. Diese irrationale Aversion gegen die Krisentheorie, die wie kein anderer Affekt für die gedankliche Selbstauslieferung des Linksradikalismus an die fetischistischen Systemgesetzte steht, bedarf einer kritischen Aufarbeitung; und das umso mehr, da der Versuch des Unschädlich-Machens radikaler Krisentheorie nur der zugespitzte Ausdruck einer Erosion des Linksradikalismus ist, die wesentlich auch sozialpsychologisch konstituiert ist.

Allerdings ist diese psychosoziale Irrationalität des narzisstischen Sozialcharakters der Postmoderne nicht mehr mit den Kriterien der Marxschen »Kritik durch Darstellung« zu fassen. Mit dem Aufbrechen der objektivistischen Wertkritik und der Entstehung der Wert-Abspaltungs-Kritik konnte auch die psychoanalytische Ebene für die Kritik des postmodernen Zerfallssubjekts fruchtbar gemacht werden. Da die Psychoanalyse als eigener theoretischer Gegenstand einer wert-abspaltungs-kritischen Ausarbeitung bis heute harrt, muss sich die – in sich widersprüchliche – Integration der psychoanalytischen Ebene in die Wert-Abspaltungs-Kritik am inhaltlichen Begründungsanspruch messen lassen. In diesem Sinne wird der Vortrag versuchen, eine wert-abspaltungs-kritische »Kritik durch Deutung« von der Marxschen »Kritik durch Darstellung« abzugrenzen, um insbesondere in Bezug auf die Freudsche Theorie darzulegen, wie ihr als Konstitutionstheorie der psychischen Form sowohl kritische, als auch affirmative Momente eignen. Ein zweiter Teil wird auf dieser Basis die psychodynamischen Implikationen des narzisstischen Sozialcharakters ausleuchten, um so letztlich auch auf die sozialpsychologischen Schranken aufmerksam zu machen, die sich der radikalen Krisentheorie gegenüber auftun.

Ankündigungstext:

Einladung zum EXIT!-Seminar 2015

vom 16. – 18. Oktober in Mainz

Gesellschaftskritik – Subjekt – Psychoanalyse

Im Exit-Seminar 2015 soll es um den Themenkreis Gesellschaftskritik – Subjekt – Psychoanalyse gehen. Es reicht heute nicht aus, Zerfallsprozesse des kapitalistischen Patriarchats und eine entsprechende »Krise des Subjekts«, die sich immer mehr zuspitzen, vor allem ökonomisch und politisch zu analysieren – die gebrochene Totalität der Spätpostmoderne ist komplizierter. Das Problem des Verhältnisses von Wert-Abspaltungs-Kritik und Psychoanalyse ist dabei nach wie vor ungelöst und es kann wohl auch nicht im Sinne einer systemischen Eintracht zur Deckung gebracht werden; dazu sind die gesellschaftlichen Verhältnisse zu widersprüchlich. Mit Adorno sollte hier also keine Zwangsvereinheitlichung angestrebt werden. Den Schwerpunkt des Seminars bildet der Zusammenhang von (Spät)Postmoderne und narzisstischem Sozialcharakter, der schon seit Jahrzehnten einschlägige Teile der Linken umtreibt, ja mittlerweile geradezu zur Plattitüde geworden ist.

Mit dem psychanalytischen Blick auf die spezifische Verfassung des Subjekts in der Krise heute ergibt sich jedoch auch das Problem, in welches Verhältnis die von Marx vorgelegte »Kritik durch Darstellung« zur völlig anders verfahrenden freudschen »Kritik durch Deutung« aus Sicht der Wert-Abspaltungs-Kritik zu setzen ist. Ausgangspunkt für die Behandlung dieser Fragestellung ist, dass man/frau die fundamentale Krise und ein Zu-ende-gehen des Kapitalismus in der Linken immer noch häufig abwehrt, obwohl jede/r im Grunde genommen weiß (durch die Verlaufsformen der gnadenlosen Krisenverwaltung es zunehmend unleugbar wird), dass es so nicht weitergehen kann.

3 Gedanken zu „Gesellschaftskritik – Subjekt – Psychoanalyse

  1. x

    vielleicht mögt ihr den mitschnitt bei euch verlinken?

    Ein Überblick über #Kaltland & die völkischen Bewegungen

    In der Veranstaltung haben zwei Referent/innen von deutschland demobilisieren! – einer Gruppe der NFJ Berlin – einen Überblick über die rassistischen Mobilisierungen des Jahres 2015 gegeben. Wer sind die Akteur_innen, wie haben sich die Aktionsformen verändert, was ist die Reaktion von Polizei, Justiz und Medien? Zudem war Thema, wie sich die Artikulation des Mobs in einen gesamtgesellschaftlichen Rassismus einfügt und wie es um das Verhältnis von Mob und Staat bestellt ist. Für eine linke Antwort auf die rassistische Formierung wurden vom Podium einige Strategie- und Aktionsvorschläge gemacht.
    Online unter:
    https://www.mixcloud.com/demob/ein-%C3%BCberblick-auf-kaltland-die-v%C3%B6lkischen-bewegungen-demob-bei-vosifa-am-15122015/

  2. Benjamin Dietze

    Es ist schon eine recht gewagte These von Jappe, daß der frühkindliche Narzißmus gerade eine Reaktion auf ein allgemeines Ohnmachtsgefühl wäre, anstatt einfach die Unfähigkeit zur Differenzierung von Selbst und Umwelt. In der Säuglingsphase, die Jappe als vor dem Narzißmus liegend beschreibt, ist eventuell nichtmal ein Begriff des Selbst vorhanden. Freud schreibt vielmehr, daß die Frustration, die Jappe beschreibt, Ursache der Erkenntnis von der Getrenntheit zwischen Selbst und Umwelt sei.

    Es ist befremdlich, daß Jappe gerade das Gegenteil dessen, was Freud als Narzißmus bezeichnet, ebenfalls als Narzißmus bezeichnet, nämlich das Einswerden mit der Welt unter Kontrolle nicht des Narzißten, sondern der Welt. Das Beispiel der Naturbeherrschung deutet Jappe ebenfalls narzißtisch, obwohl es in der DdA als sadomasochistisch gedeutet wird.

    Auch scheint Jappe zu meinen, daß die Assoziation von Borderline mit Narzißmus daher käme, daß es ursprünglich eine klare Definition vor Borderline gegeben hätte, nämlich als: „Grenzfall zwischen Psychose und Neurose“. Dem ist aber nicht so. Borderline war ursprünglich die Verlegenheitslösung, die sich einstellte, wenn der Patient reichgenug war, eine lange Therapie zu bezahlen, ohne daß der behandelnde Psychiater (und eben nicht Psychoanalytiker), der sowieso nichts von soetwas wie Neurosen wissen wollte, den Beschwerden des Patienten überhaupt einen Krankheitswert beimessen konnte oder eigentlich wollte. In neuerer Zeit wird (neben der RMT, wo Borderline mit PTSD und speziell dem weiblichen Geschlecht verknüpft wurde), wie Andrea Brackmann in: „Jenseits der Norm“ beschreibt, in der Praxis zumeist ein Syndrom, das bei Männern meist mit der Erklärung schwacher Autismus bzw. Asperger belegt wird, bei Frauen zu Borderline erklärt. Was bei Männern als Teil der Nerddiagnose Asperger gesehen wird, nämlich die Fähigkeit zum schnellen Denken und rascher, exakter und schonungsloser Analyse bei gleichzeitiger Nichtbeachtung sozialer Konventionen, die besonders Narzißten schnell kränkt, wird bei Frauen als narzißtische Aggression und vermeintliche Bindungsunfähigkeit im Rahmen eines sog. Borderlinesyndroms aufgefaßt, und zwar vor allem von solchen Personen, die selbst nicht mit der narzißtischen Kränkung klarkommen, wenn jemand ihnen schonungslos die Fehler und Widersprüche im eigenen Denken und Verhalten offenlegt.

    Brackmann bezeichnet dabei den schwachen wie starken Autismus als unterschiedlich ausgeprägte, extrem verfestigte Reaktionsbildung auf eine Umwelt, die mit der Neugier und Auffassungsgabe eines Menschen nicht klarkommt, was auf Seiten der Person zu einem starken Isolationsgefühl und zu einer Kommunikationsunfähigkeit führt, wobei der Betreffende die Ursachen dieser Unfähigkeit wie vermeintlicher weiterer Defizite meist bei sich selber sucht: Nicht die anderen werden als unfähig empfunden, sondern man selber. Ähnlich schreibt auch Adorno, daß es die falsch eingerichtete Welt ist, die den Menschen ihre ursprüngliche Neugier und die Fähigkeit zum eigentlichen Denken austreibt.

    Das DSM hat den Narzißmus eben nicht ersatzlos gestrichen, sondern in die verschiedenen Krankheitsbilder histrionische Störung und antisoziale Störung aufgeteilt.

    Wie Jappe das vorträgt, scheint mir Lasch‘ Narzismußbegriff primär auf einem ganz ordinären reaktionären Haß auf Moderne und Individualisierung im allgemeinen hinauszulaufen (den es so übrigens auch schon im 19. Jahrhundert gab), was auch hervorragend zu Lasch‘ von Jappe als eindeutig problematisch erkannten Grundthesen paßt.

    Faszinierend der Gegensatz zwischen Späth und Jappe: Jappe behauptet, es habe überhaupt niemals menschliche Gesellschaften ohne Inzesttabu gegegeben, während Späth meint, vor der Dampfmaschine hätten es sogar Eltern und Kinder fröhlich miteinander getrieben. Richtig ist vielmehr der Mittelweg: Bronzezeitliche Fruchtbarkeitskulte noch vor dem Alten Ägypten kannten die Geschwisterehe (und viele weitere nichtinzestuöse Spielarten, die nachmals als Perversionen dämonisiert wurden), da zu diesem frühen Zeitpunkt noch nicht der Zusammenhang zwischen Sex und Fortpflanzung bekannt war, was erst die Eisenzeit mit sich brachte.

    Der von Jappe angesprochene Eisenberg scheint den Narzißmus gerade mit einem Abbau des Sozialstaats zu erklären. Hier stellt sich das Bild aber in Wahrheit etwas komplexer dar: Die Sozialstaatszertrümmerung wurde mit neoliberaler Ideologie gerechtfertigt, das Ergebnis in Form einer massenweisen Verelendung begünstigte aber eben das Wiedererstarken des reaktionären sadomasochistischen Charakters, der in der Zeit der Prosperitätsphase nach 1945 lange gebannt schien.

    Es scheint, als wenn sich Jappe das Mittelalter radikal kollektivistisch vorstellt. Auch damals gab es aber bereits Mönche und Klausner, deren Leben gerade als durchaus löbliche Abkehr von der Welt gesehen wurde.

    Indem Jappe den Kern des Kapitalismus von Anbeginn als Narzißmus klassifiziert, scheint er beide mit dem reinen Wunsch nach Triebbefriedrigung gleichzusetzen. Auch die prägnante Formel, auf die Marcuse den Fortschritt gebracht hat („Gut leben. Besser leben.“), wäre demnach reinster Narzißmus. Eine solche absolutistische Position steht dem Haß auf Moderne und Individualismus nahe, der auch bei Jappes Quelle Lasch vorherrschend ist, wie auch zu Jappes Formulierung, die Individualisierung sei eine: „Verwilderung“. Auch verkennt Jappe damit die Tatsache, daß der Kapitalismus von sich aus niemals in der Lage gewesen wäre, die verhältnismäßig lange und stabile Prosperitätsphase nach 1945 zu erzeugen; dazu bedurfte es der äußeren Bedrohung durch den Ostblock, die den westlichen Sozialstaat nötigmachte, um gegenüber der Konkurrenz im Osten ansatzweise attraktiv zu bleiben. Was man auch daran sehen kann, daß der Neoliberalismus nach dem Ende des Ostblocks umso hemmungloser an die Zerstrümmerung der letzten Reste des Sozialstaats ging, der bereits seit dem Nixon shock in einer langsamen, aber stetigen und auch vor 1989 sich fortwährend beschleunigenden Erodierung begriffen war, sowie auch eine nicht minder hemmungslose allgemeine Privatisierungswelle lostrat.

    Auch wirkt Jappes Gedanke befremdlich, daß der autoritäre Charakter überhaupt irgendwie gegen seine Autoritäten rebellieren würde. Dazu bedürfte er einer Ichstärke, die dem autoritären Charakter in seiner Identifikation mit dem Angreifer aber gerade fehlt, so daß er sich allenfalls Sündenböcke suchen kann, um so zum konformistischen, und das heißt tyrannischen Rebellen zu werden.

    Vollends albern wird es, als Jappe meint, die besonders früh ausgeprägten und damit besonders schlimmen Störungen, bei denen es sich eigentlich um die Psychosen handelt, wären als weitere Form von Narzißmus ausgerechnet die klassische Moral und ein Anpassungsbedürfnis an andere, gegen die zu verstoßen man auch bewußt bedenken und debattieren kann, als laxere Version eines Überichs. Die klassische Moral und die Anpassung an bewußte Werte bildet sich aber eben erst auf Grundlage des bereits lange zuvor zensorisch tätigen klassischen Überichs. Auch die klassische Moral und Durchsetzung von Werten basierten immer auf der Drohung gegenüber dem Individuum, daß es bei Zuwiderhandlung zumindest Nachteile in Kauf zu nehmen habe, wenn nicht schlimmeres. Der autoritäre Charakter beruht geradezu klassisch auf dieser internalisierten Drohung, die ein Narzißt dagegen völlig in den Wind schlagen würde.

    Irgendwie scheint Jappe ein generelles Problem mit Selbsterhaltung, Schutz und Überleben der Individuen zu haben, wenn er selbst eine von der Außenwelt ans Individuum herantretende tyrannische Moral noch der vermeintlichen Selbstsucht des Indivduums in die Schuhe schiebt. Bei den: „Vermittlungen“ und „Vermittlungsinstanzen“, deren Verlust Jappe im Anschluß am Lasch betrauert, dürfte es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um reaktionäre Moral und die diese einbläuenden Autoritäten handeln.

    Albern dann auch in der Diskussion der Vergleich zwischen Bildschirmbezug und Narzißmus bzw. Psychopathie, der ans alte Krankheitsbild der angeblichen Bibliomanie erinnert. Jappes Kritik an der Promiskuität erinnert an jahrzehntealte reaktionäre Vorwürfe von unbelehrbaren Anhängern der lebenslangen Monogamie und Kleinfamilie.

    Schön, zu sehen, wie Jappe mit seinem reaktionären Narzißmuskonzept im Grunde am Ende ist, als der völlig richtige Einwand der neoliberalen Disziplinierung angesprochen wird, die er daraufhin einfach kurzerhand verleugnet. Als ganz ähnlich darauf verwiesen wird, daß die Geschichte von Individiualisierung und Kollektivismus eben ganz anders verlaufen ist als von Jappe beschrieben, redet er sich damit raus, daß er für sowas einfach keine Zeit habe.

    Beim folgenden Aufruf zur strikten Trennung von Sozial- und Politökonomie einerseits und Psychologie andererseits, als wenn Individuen und Gesellschaft nichts miteinander zu tun hätten, kann ich mich einfach nur fremdschämen. Ebenso peinlich die folgende Verleugnung der Vorgängigkeit der materiellen, geschichtlich-gesellschaftlichen Verhältnisse gegenüber der Ideologie in Diamat und Histomat. Auch ist die Internalisierung von gesellschaftlichen Werten kein isoliert narzißtisches Phänomen im Sinne von Jappes nichtautoritärem Narzißmus. Bei Jappes Identifikation großer Persönlichkeiten der Weltgeschichte als Narzißten nach nochmaliger Wiederholung, daß Narzißmus für ihn der Wunsch nach Triebbefriedigung überhaupt bedeutet, scheint mir Nietzsches Verherrlichung des sozialdarwinistischen Herrenmenschen durchzuklingen, der nicht nach einer asketischen, sondern einer lebensbejahenden Moral lebt, was für Nietzsche offenbar allein durch den sozialdarwinistischen Kampf auf Kosten anderer möglich ist.

  3. Benjamin Dietze

    Erstmal stellt sich die Frage, was das eigentlich für eine: „gesamte radikale Linke“ sein soll, die laut Späth die Wert(abspaltungs)kritik samt und sonders ablehnen soll. Meines Wissens sind das nur ein paar versprengte ökonomistische MLer, die den Diamat nie kapiert haben und daß sich der Holocaust eben nicht aus einer rein ökonomistischen Perspektive ableiten läßt, und die penetrant versuchen, der Wertkritik (und z. T. auch der KT) die volunatristisch-radikalkonstruktivistische Ideologie der Postmodernen unterzuschieben.

    Zum zweiten fällt auf, daß Späth mit seiner vermeintlich total und radikal neuen: „Kritik durch Deutung“ offensichtlch einfach nur den Diamat umbenannt hat.

    Späth verwechselt offensichtlich den Begriff der Neurasthenie mit dem der auf den ersten Blick ähnlichen Hysterie. Es war die Hysterie, die im späten 19. Jahrhundert die Aufmerksamkeit der gesamten Medizin und Nervenheilkunde auf sich zog und die Freud in die geschlechtsneutrale Neurose umbenannte. Neurasthenie tauchte im Unterschied zur Hysterie weniger in wissenschaftlichen Kontexten auf, als vielmehr als soziale Modediagnose der Zeitungen, des Feuilletons und der Modephilosphie, die sich aus dem Blickwinkel eines ländlich-kleinstädtischen Konservativismus vor allem auf Erscheinungsformen der urbanen Moderne, der Schnellebigkeit, auf den allgemeinen Fortschrittswahn um die Jahrhundertwende bezog: Höher, schneller, weiter; also alles das, was z. B. die Futuristen vergötterten, während umgekehrt das Ideal des Futurismus selbst als eine Ausdrucksform der allgemein grassierenden Neurasthenie aufgefaßt wurde.

    Auch benutzt Späth den Begriff der Identitätslogik völlig falsch, nämlich im Sinne eines Essentialismus, da er offenbar nicht begreift, daß es auch Identitäten gibt, die bewußt als konstruiert, erlernt, gewachsen aufgefaßt werden, ob biographisch oder soziologisch bzw. kulturell.

    Darüberhinaus merkt man auch, wie sein Bezug des Begriffs der Identitätslogik auf die Heredität damit zu tun hat, daß er aufgrund des Fremdworts für Erblichkeit total ins Schlingern kam und es nun auf einen eigentlich viel zu abstrakten, zu weitgreifenden Begriff gebracht hat. Das merkt man auch daran, daß er später meint, die abstrakte Heredität des 19. Jahrhunderts habe sich nach 1945: „in einen Biologismus transformiert“.

    Hier hat sich rein garnichts: „transformiert“: Heredität ist ganz einfach der zeitgenössische medizinlateinische Begriff für biologische Erblichkeit, die heute Genetik heißt. Noch heute spricht man im Englischen von hereditary, wenn damit die Gene gemeint sind, schon lange vor dem Ersten Weltkrieg sprach man im Englischen (sowie vereinzelt fachsprachlich auch im Deutschen) inhaltsidentisch von genetical, genetics (neben der allgemeineren Bedeutung i. S. v.: „Entstehung“), wenn das gemeint war, was auf Deutsch zeitgleich als erbbiologisch, biologische Erbanlagen, biologische Vererbungslehre bezeichnet wurde, und was wiederum schon im 19. Jahrhundert von Medizinern als deutsche Entsprechung für Heredität angegeben wurde. Beim Begriff der Heredität hat sich also rein garnichts von einem allgemein-abstrakteren Essentialismus: „in einen Biologismus transformiert“, sondern genau derselbe Biologismus wurde ganz einfach umbenannt. Woran sich auch nichts ändert, weil die Chemie mittlerweile zum Ausdruck hinzukam, denn die medizinische Pharmakologie existierte ebenfalls bereits im 19. Jahrhundert, auch bereits als maschinelle Industrie (Bayer, etc.).

    Freud war nie ein reiner Individualpsychologe, was man an seinen Arbeiten zur Massenpsychologie und zur Kulturkritik sehen kann. „Der Mann Moses“ und: „Das Unbehagen in der Kultur“ hätten von einem Indivialpsychologen, wie Späth ihn beschreibt, niemals geschrieben werden können. Freuds ganzer Drei-Instanzen-Apparat beruht darauf, daß die Gesellschaft dem Individuum gewaltsam bestimmte Werte überstülpt.

    Späths angebliche Anthropologisierung der Psychoanalyse wird u. a. von Marcuse widerlegt, wenn er zwischen der Ontogenese und der Phylogenese bei Freud unterscheidet. Jegliche Anthropologisierung, wie Späth sie konstruiert, gar des Ödipuskomplexes, findet sich an keiner Stelle bei Freud, und würde ohnehin seinem wesentlich fundamentalerem Grundkonzept der polymorphen Perversion widersprechen. Späth scheint nie: „Totem und Tabu“ gelesen zu haben, wo Freud den Ursprung des Ödipuskomplexes in einer konkreten historischen Situation verortet, nämlich in der sog. Urhorde, wo nach Freud ein definitiv erster und eben nicht unzeitlich-ewiger Vatermord geschehen sein muß, der ein Häuptlingsmord war.

    Umso merkwürdiger ist es wiederum, daß Späth im ersten Teil die angebliche Anthropologisierung des Ödipuskomplexes kritisiert und feststellt, daß sich mit dem Wandel des klassischen bürgerlichen hin zum narzißtischen Charakter auch der Ödipuskomplex in Luft aufgelöst habe (bei Freud hat er das als reine Übergangslösung bereits spätestens mit: „Das Ich und das Es“ von 1920 getan), im zweiten Teil dann aber ganz unbekümmert selber den Ödipuskomplex anthropologisiert und von diesem als angeblicher narzißtischer Normalsexualität schwadroniert. Was Späth hier nun im zweiten Teil als narzißtischen Ödipuskomplex bezeichnet, ist, wie an Späths Ausführungen deutlich zu erkennen, bei Freud in Wahrheit die polymorphe Perversion, die heute, wo sie einfach zur Paraphilie (bei der beim Auftreten mehrerer Formen gleich automatisch von: „Komorbität“ die Rede ist, als wenn jemand nicht nur Alkoholiker wäre, sondern auch noch mit Heroin Multitoxikation betreiben würde) umbenannt worden ist, kaum weniger verhaßt ist als zu Freuds Zeiten.

    Und wie schon beim an den Anfang gestellten Vortrag von Schmidt kommt wieder der Blödsinn, daß Patrichat und Geschlechterrollen überhaupt erst ein Produkt der Dampfmaschine gewesen seien. Im christlichen Mittelalter wurden, wie man bei Norbert Elias nachlesen kann, aufmüpfigen Frauen, die verheiratet waren, aber nicht an Heim und Herd gekettet bleiben wollten, vom eigenen Ehemann (dem ihr Verhalten eine besondere gesellschaftliche Schande bedeutete, da er im Sinne eines deutlichen Abhängigskeitsverhältnisses als für sie verantwortlich angesehen wurde) rituell die Nase gebrochen. Bei Griechen und Römern standen Frauen etwa auf demselben Niveau wie Sklaven und waren ihnen besonders im Römischen Recht als Besitztum des Mannes gleichgestellt, während die so demokratischen Griechen nie auf die Idee kam, ihren Frauen das Wahlrecht zu geben, es im allgemeinen ablehnten, wenn sich Frauen politisch oder philosophisch betätigten, und es sogar als höchste Schande ansahen, von Frauen regiert zu werden. Der großte Empiririker Aristoteles glaubte, die allgemein anerkannte Minderwertigkeit des Weibes dadurch neu bewiesen zu haben, indem er erklärte, daß es einfach weniger Zähne im Mund hätte als der Mann.

    Gerade für Patriarchat, Geschlechterrollen und das bei Freud wichtige Thema der Leibfeindlichkeit (vor allem im Sinne der polymorphen Perversion, alias die vermeintlichen oder tatsächlichen sexuellen Devianzen bzw. Minderheiten) gilt das, was die Linke allgemein heutzutage ablehnt, obwohl es Adorno in: „Reflexionen zur Klassentheorie“ als dezidierte These aufstellt: Der Kapitalismus war eben keine Entstehung einer von Grundauf völlig neuen Welt und Zeitrechnung, sondern er ist lediglich eine neue Erscheinungsform des bisher in historischer Zeit Immergleichen, des ethnozentrisch-positivistischen allgemeinen Leidens, Elends, allgemeiner Ausbeutung und Unterdrückung; er führt fort, was in den materiellen wie sozialpsychologischen Verhältnissen der abendländischen Kultur bereits lange vor ihm herrschte und angelegt war. Was ja man auch schon daran sieht, daß die DdA bis zum homerischen Odysseus als dem ersten bürgerlichen Subjekt zurückgeht, und Marcuse in: Triebstruktur und Gesellschaft“ bis mindestens zu Platon und den Vorsokratikern. Die Dialektik der Aufklärung selbst bedeutete nichts anderes als eine Korrumpierung der Aufklärung, nachdem ihre humanistisch-emanzipatorischen Paradigmen unter den umdeutenden Einfluß der sich in rekonfigurierter Form wieder durchsetzenden alten Welt und ihrer Verhältnisse geraten waren. An anderer Stelle sagt Adorno auch ähnlich, daß selbst allein aus der Tatsache heraus, daß es bisher in der Menschheitsgeschichte keinen Kommunismus und kein gesellschaftliches Subjekt gegeben habe, sich keineswegs ableiten lasse, daß das immer so sein müsse.

    Am Anfang seines Vortrags hat Späth vollmundig versprochen, durch seine Beschäftigung mit der Psychoanalyse die Wertkritik mit der KT zu verbinden. Das Narzißmuskonzept, das er dann im Zusammenhang mit der Wandlung vom klassischen bürgerlichen zum narzißtischen Charakter vorträgt, weist aber keinerlei Ähnlichkeit mit dem von der KT beschriebenen, sich nach 1945 durchsetzenden Narzißmus auf. In der KT zeichnet sich dieser neue narzißtische Charakter dadurch aus, daß er den klassischen Sadomasochismus als Grundlage der weiterbestehenden autoritären Persönlichkeit und des kapitalistischen Sozialdarwinismus ersetzt. Der sozialdarwinistische Kampf aller gegen alle wird nicht mehr im Namen eines imaginären großen Ganzen, des Allgemeinwohls geführt, sondern im Namen der Individuen, die besonders im heutigen Neoliberalismus eine schöne bunte neue Warenwelt, willkürlich austauschbare Identitäten und Sexualitäten für sich erobern sollen, wobei alle diese so gepriesenen zu erringenden Preise lediglich präformierte, kommerzielle bzw. kommerzialisierte Industriewaren vom Fließband bleiben, ohne tatsächlich Individualismus zu bieten. Das war in Ansätzen schon als Teil der Jugendproteste und Jugendkultur der 60er Jahre zu sehen, die in dieser Hinsicht von Marcuse und dem Beatlesbiographen Ian MacDonald (sowie in abstrakterer Form von Adorno) ähnlich beschrieben werden, wo bereits absehbar war, daß die marginalisierten Linken der 68er eben bald feststellten, daß sie mit ihrem Protest gegen den Muff unter den Talaren lediglich zum Heraufziehen eben dieser schönen neuen bunten Warenwelt beigetragen hatten (ein Ernüchterungsmoment, den Hunter S. Thompson bereits Anfang der 70er Jahre beschrieb).

    Aus Sicht der KT ist hierbei anzumerken, daß die wirtschaftliche Prosperitätsphase, die die Verschiebung vom sadomasochistischen hin zum narzißtischen Charakter ermöglicht hatte, auf der Ebene der materiellen Verhältnisse bereits mit dem Nixon shock endete, der sich in ideologischer und politischer Hinsicht besonders im wirtschaftlich neoliberalen, gesellschaftlich konservativen Backlash ab den 80er Jahren unter den Steinzeitreaktionären Reagan, Thatcher, Kohl durchsetzte.

    Eine Weile lief die Ideologie der neoliberalen schönen bunten Warenwelt noch nebenher mit, woraus eben auch bereits mit entsprechenden Vorläufern ab den 80ern die voluntaristisch-radikalkonstruktivistischen Postmodernen entstanden sind, die so schön zur Leugnung der Realität nützlich sind. Der Untergang des Ostblocks ist hierbei keine Ursache, sondern verstärkte ledliglich eine im Westblock ohnehin bereits starke Tendenz. Unterschwellig erstarkte aber eben wieder der nie wirklich weggewesene klassische sadomasochistische und reaktionäre Charakter, was sich ab den 80ern erst in ebenjenen Wahlerfolgen für die Konservativen ausdrückte, und spätestens seit der Euro- und Finanzkrise, in Zeiten von Biopolitik, Feindstrafrecht, AfD, Pegida, Front National und Tea Party nichtmehr zu übersehen ist. Heute steht, gesamtgesellschaftlich gesehen, der narzißtische Charakter der voluntaristisch-radikalkonstruktivistischen Postmodernen, der vor allem unter dem Label der: „linksgrün versifften Gutmenschen“ bekannt ist, gegen den deutlich wiedererstarkten klassischen sadomasochistischen und reaktionären Charakter.

    Was Späth nun aber unter seinem Begriff des narzißtischen Charakter faßt, ist zum einen das, was die KT unter dem Begriff der Regression faßt: Die Harmoniesucht etwa ist nichts anderes als der Unwille und die Unfähigkeit zur Austragung objektiver Widersprüche und Konfliktem, die zur Zukleisterung mit verlogener Harmoniesoße greifen. Und genau das ist der Begriff, auf den Adorno die nicht narzißtische, sondern sadomasochistische NS-Volksgemeinschaft bringt. Die Unfähigkeit im Ertragen von Ohnmacht ist nichts anderes als die autoritäre Identifikation mit dem Angreifer, der opportunistische Anschluß an den Starken und die Majorität. Die Leugnung von Realität und Materie ist bei Adorno und Marx die undialektisch-einseitige idealistische und reaktionäre Deutsche Ideologie, die in einer Regression endet, wo, in Freuds Worten, Wunsch und Wirklichkeit unmittelbar eins werden. Die Kritikunfähigkeit ist bei Adorno der Wahn, nicht das bloße Nichtwissen, sondern das aggressive und offensive Nichtwissenwollen, qua Sozialcharakter, als der sich die Verhältnisse in den Individuen abdrücken und der in Verbindung mit der Identifikation mit dem Angreifer namens herrschende Verhältnisse die Ursachen seines systemisch bedingten Elends auf marginalisierte Sündenböcke ablenkt und projiziert.

    Die Desexualisierung, die Späth schließlich konstatiert, ist nicht eben ein wirkliches Verschwinden genuiner Sexualität, sondern ein Wiedererstarken der allgemeinen Neurose auf Grundlage des allgemeinen Wiedererstarkens des reaktionären sadomasochistischen Charakters. Die: „sexuelle Symptomlosigkeit“, die von der Wissenschaft beobachtet wird, ist nichts anderes als zum einen der reaktionäre Haß auf den: „längst widerlegten Freud“, wo der Arzt oder Therapeut, dem entweder die biochemische Pharmazie oder der Behaviorismus die gewaltsame Anpassung gleichermaßen dienende Allheilmittel sind, von vornherein schreit, daß man ihm gefälligst: „mit diesem nichtfalsifizierbaren, unseriösen religiösen Aberglauben des versauten Koksers Freud“ vom Hals bleiben solle, zum anderen sind die somatischen Symptombildungen von jenen der Hysterie bzw. Neurose des 19. Jahrhunderts kaum zu unterscheiden. Die von Haß und Ekel gegenüber Freud gekennzeichnete Desexualisierung der Psychologie nahm ja bereits früh, noch zu Zeiten des klassischen sadomasochistischen Charakters, mit Jung und Adler ihren Lauf, und besonders seit dem Aufkommen des Neoliberalismus nach dem Nixon shock ist radikalste Desexualisierung bzw. Dämonisierung der vermeintlichen oder tatsächlichen Sexualdevianz gleichbedeutend mit seriöser Wissenschaft überhaupt. Der narzißtischen schönen bunten Warenwelt, wo man präformierte, kommerzialisierte Sexualitäten kaufen und erobern kann, steht dabei die Renaissance der klassischen Perversionen durch ihre einfache Umbenennung in nicht minder verhaßte Paraphilien durch den reaktionären sadomasochistischen Charakter gegenüber. Es ist geradezu grotesk, wenn Späth in der späteren Diskussion Freuds Zeit unterstellt, nie die Lust bekämpft zu haben, denn genau auf der Beschreibung dieser Leibfeindlichkeit und ihrem Abdruck im Sozialcharakter der Menschen beruht die gesamte Psychoanalyse.

    Was Späth unter dem Begriff des angeblich völlig neuen: „Aufreibens des Triebs zwischen Erfüllung und Triebverzicht“ faßt, erinnert vor allem an trendphilosophische Bücher wie: „Neosexualitäten“, wo es neben der später sogenannten: „Sapiosexualität“ ein angeblich ebenso völlig neues, durch Postmodernismus und Internet erzeugtes Phänomen gäbe, wonach eigene Befriedigung und der eigene Orgasmus gegenüber der Befriedigung des Partners sekundär oder völlig unwichtig würden (der von Späth angesprochene Wunsch, nicht zu begehren, sondern begehrt zu werden, wird übrigens von Zizek in: „The Pervert’s Guide to Ideology“ als natürlicher Grundmodus von Sexualität überhaupt bezeichnet). Schaut man sich die geschilderten Fallbeispiele dann genauer an, reproduzieren sich hier einfach nur klassische patriarchale Geschlechterrollen, wo nur der Orgasmus des Mannes wichtig ist und die Frauen objektiv an einer Unterentwicklung ihrer eigenen Sexualität als einem fremden Land leiden, was wiederum daran liegt, daß sich die Männer in ihrer klassischen patriarchalen Leibfeindlichkeit auch von einer ausgeprägten weiblichen Sexualität bedroht fühlen (was zusammen mit der allgemeinen Desexualisierung durch Wiedererstarken der sadomasochistisch vermittelten Neurose auch ein fundamentales Thema in puncto der ab den 80ern wieder nach dem Modus von Sündenbock- und Verschwörungstheorien thematisierten: „sexualisierten Gewalt“ ist). Es war ähnlich auch schon lange vor dem Internet in entsprechenden Studien festzustellen, daß auch Frauen, die Stricher bezahlen, das nicht der eigenen körperlichen Befriedigung wegen tun, sondern dabei allein den Mann befriedigen.

    Recht unterirdisch die Einordnung des sozialkonstruktivistisch (sprich, die materiellen geschichtlich-gesellschaftlichen Verhältnisse führen zu bestimmten Ideologien) ausgerichteten Labelling approach in der Diskussion ausgerechnet als: „magisches Denken“. Was der Zuhörer da beschreibt, ist nicht der sozialkonstruktivistische Labelling approach als Methodologie, sondern das Phänomen, das dieser eben kritisiert. Ähnlich scheint der Zuhörer auch die Psychoanalyse einordnen zu wollen, womit er mal eben im Handumdrehen und ohne große Argumentation den gesamten Vortrag als Müll wegzuwischen scheint. Es scheint sich um einen ökonomistischen MLer zu handeln, der nicht begriffen hat, daß zwar die Ideologie ein nachgängiges Phänomen darstellt, die Beschäftigung mit ihr aber eben nicht überflüssig, sondern als materialistische Ideologiekritik gerade Teil des Diamats darstellt. Späth scheint interessanterweise aber Ideologiekritik gerade nicht spezifisch materialistisch aufzufassen, sondern eher als bloßen Selbstzweck, wenn er auf der Ebene bloß ideologischer: „Sozialpsychologie“ verbleibt und den Hinweis auf die Vorgängigkeit der materiellen, geschichtlich-gesellschaftlichen Verhältnisse, wie sie im Diamat und Histomat entwickelt wird, mit der knappen Bemerkung abtut, daß Ideologien: „eben aus keiner Totalität ableitbar“ seien.

    Der Todestrieb kam nicht: „über die Beschäftigung mit dem Narzißmus“ in Freuds Lehre, sondern bei der Suche auf eine Antwort, wie sich offenbar nichtlibidinöse Phänomene erklären lassen. Mit der Erklärung von Narzißmus oder einem Produkt von Narzißmus hat der Todestrieb bei Freud garnichts zu tun, sondern wird von Freud als Überbleibsel des anstrengenden Kampfes des ersten Lebens in der Ursuppe gegen den Rückfall in die tote Materie gedeutet. Narzißmus wiederum ist bei Freud eine unreife Unfähigkeit, fremde Objekte libidinös zu besetzen und hat gerade nicht mit einem Tod des eigenen Selbst, sondern eher mit einer ohnehin nie per libidinöser Besetzung zum Leben erweckten Umwelt zu tun.

    Der Zuhörer mit dem deutlichen ausländischen Akzent scheint primär ein reaktionäres Menschenbild postulieren zu wollen, wonach Marx und Freud dem Menschen sowieso nicht helfen könnten, weil der Mensch einfach: „von Natur aus so sei“. Späth scheint diesen Einwand als Kritik an Verschwörungstheorien mißzuverstehen, nach denen man einfach nur eine tyrannische Minderheit an der Spitze auszutauschen bräuchte.

    Postmoderne und (Post-)Strukturalisten haben keinswegs die Psychoanalyse: „in ihrer reinsten Form“ übernommen, sondern seit den Anfängen der französischen (Post-)Strukturalisten unmittelbar nach 1945 über den Umweg der Deutschen Ideologie Heideggers. Vor allem aber gehören Adorno und die KT keineswegs zu diesen beiden Strömungen. Und Marcuse war der erste, der überhaupt die desexualisierenden Revisionisten unter genau diese Bezeichnung heftig attackiert hat und blieb bis zu seinem Lebensende bei dieser deutlichen Ablehnung der Desexualisierung.

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