Kaum eine Debatte ist so moralisch aufgeladen wie die um Prostitution. Die Frage, ob Prostitution per se als Unterdrückung von Frauen verurteilt werden soll oder ob nicht vielmehr die Selbstorganisierung von SexarbeiterInnen ein sinnvoller Ansatz ist, zieht einen Graben auch durch feministische Zusammenhänge. Wir dokumentieren im Folgenden mehrere Beiträge, die für letztere Position argumentieren und die eine Kritik an der moralischen Verurteilung von Prostitution formulieren.
1.) 17 Grad – Prostitution ist …
In einer Themensendung von 17 Grad wurde im letzten Jahr die Prostitution behandelt. Vor allem werden Argumente von Prostitutionsgegnern unter die Lupe genommen und kritisiert. Davon ausgehend wird eine ökonomische und klassen-analytische Betrachtung der Sexarbeit entwickelt. Immer wieder wird dabei auf den Text „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“ von Friedrich Engels zurückgegriffen. Die Sendung basiert auf Texten von Nichtidentisches und von Helen Ward.
„Prostitution ist nur ein besonderer Ausdruck der allgemeinen Prostitution des Arbeiters”. Dieses Zitat von Marx könnte suggerieren, dass Prostitution für unsere Hörerinnen und Hörer eine recht klare Sache ist. Stattdessen hat sie sich als wahre Herausforderung erwiesen – und die Positionen Linker erstrecken sich von der Befürwortung von Repression und Abschaffung auf der einen Seite zur Entkriminalisierung und gewerkschaftlichen Organisierung auf der anderen Seite. [via]
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2.) Melissa Grant – Hure spielen
Im Rahmen der Reihe „Die Untüchtigen“ war im letzten Jahr die Autorin Melissa Grant im Hamburger Golem zu Gast. Im Gespräch mit der Kulturwissenschaftlerin Mithu M. Sanyal hat sie ihr Buch „Hure Spielen“ vorgestellt, das im letzten Jahr bei Edition Nautilus erschienen ist. Es geht Melissa Grant in diesem Buch darum, die Perspektive umzudrehen: nicht über SexarbeiterInnen und deren Schicksal zu reden, sondern über jene, die sich anmaßen, für Prostituierte zu sprechen. So lässt sich herausfinden, dass es in diesen Debatten meist nicht in erster Linie um die SexarbeiterInnen selbst geht, sondern um eine moralische Legitimation einer Reihe von Berufen: Polizei, Journalismus, Sozialarbeit, etc. – von Melissa Grant zusammengefasst als „Mitleidsindustrie“. Auf der Veranstaltung wurde zunächst Melissa Grant vorgestellt und ein Auszug aus ihrem Buch vorgelesen. Dann beantwortet sie einige Fragen, wobei es viel um einen Vergleich der amerikanischen und europäischen Verhältnisse geht.
Buchvorstellung, Gespräch »HURE SPIELEN – DIE ARBEIT DER SEXARBEIT« mit: Melissa Grant & Mithu M. Sanyal
Während die Bundesregierung an Änderungen zum Prostitutionsgesetz arbeitet, die bis Jahresende vorgenommen werden sollen, ist es in der öffentlichen Debatte zur Prostitution stiller geworden. Doch nun meldet sich in Deutschland eine junge amerikanische Stimme zu Wort: Melissa Gira Grant – ehemals Sexarbeiterin, heute Journalistin – stellt mit ihrem Buch »Hure spielen. Die Arbeit der Sexarbeit« die Debatte vom Kopf auf die Füße und attackiert all jene, die Prostitution zum Wohle der Frauen verbieten wollen. Sie lässt Sexarbeiterinnen (und Sexarbeiter) selbst zu Wort kommen und zeigt auf, dass nicht die Arbeit der Sexarbeit eine Zumutung ist, sondern deren Kriminalisierung: entwürdigende Polizeieinsätze, Illegalität, gewalttätige Übergriffe und Ausgrenzung aus der Gesellschaft. Außerdem stellt Grant eine Verknüpfung her zwischen dem Umgang mit dem Thema Sexarbeit zu einer Reproduktion klassischer Geschlechterrollen und entlarvt die Position von Alice Schwarzer & Co. als paternalistischen Willen zur Kontrolle. Grants kluge Analyse liefert eine sachliche und differenzierte Auseinandersetzung mit einem hochaufgeladenen Thema. Im Gespräch mit der Kulturwissenschaftlerin und Journalistin Mithu M. Sanyal stellt Grant ihr Buch vor und diskutiert über die Situation von Sexarbeitern in Deutschland. [via]
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Ein Interview mit Melissa Grant im Spiegel findet sich hier.
3.) Carolin Küppers – Diskurs über Sexarbeit und Menschenhandel während der WM in Südafrika
Interessanterweise gibt es immer wieder dann Wellen von moral panic über Prostitution, wenn internationale Sport-Events stattfinden – oft werden dabei Sexarbeit und Menschenhandel unzulässigerweise miteinander vermengt und nicht selten wird dabei rassistisch argumentiert. Im Rückblick auf die Fußball-Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika hat die Wüste Welle Tübingen ein Interview mit der Soziologin Carolin Küppers geführt, die über den Diskurs über Prostitution und Menschenhandel geforscht und dabei auch mit südafrikanischen SexarbeiterInnen gesprochen hat. Im Interview geht es dabei auch sehr grundlegend um den Charakter und die gesellschaftliche Bewertung von Sexarbeit sowie um unterschiedliche feministische Positionen zu diesem Thema. [Teil 1 | Teil 2]
Teil 1
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Teil 2
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Radio Dreieckland hat anlässlich ähnlicher Debatten im Vorfeld der WM in Brasilien ein hörenswertes Interview mit Friedrike Strack geführt, die lange Zeit bei Davida, einer brasilianischen Prosituiertenorganisation, gearbeitet hat. Dieses Interview kann hier gehört werden.
4.) Welche Prostitution wollen wir? Prostitutionsverbot – Problemlöser oder Populismus?
Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Die Welt am Donnerstag“ (ein Projekt der WOZ und der Autonomen Schule Zürich) fand am 05.02.2015 eine Gesprächsrunde mit Rebecca Angelini (Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration) und Brigitte Obrist (ehemalige Prostituierte und ehemalige Projektleiterin bei der Aidshilfe Schweiz) statt. Anlass der Diskussion sind zunehmende rechtliche Reglementierungen für SexarbeiterInnen in der Schweiz und zunehmende Stimmen, die eine Bestrafung von Freiern fordern. Beide berichten aus den Erfahrungen von SexarbeiterInnen, plädieren für eine klare Trennung zwischen Sexarbeit und Menschenhandel, fordern eine Verbesserung der Arbeitsverhältnisse von SexarbeiterInnen und kritisieren jegliche Verbotsforderungen und z.B. das Schwedische Modell. Rebecca Angelini macht in der Diskussion eine Sache klar, die m.E. sehr wichtig ist: Wer es für problematisch hält, dass Frauen mehr oder weniger unfreiwillig im Bereich der Sexarbeit ihr Geld verdienen, der sollte anstatt ein Verbot der Sexarbeit zu fordern, vor allem die Ursachen dafür bekämpfen, dass zahlreiche Frauen eine äußerst beschränkte Berufswahl haben – nämlich die europäische Flüchtlingspolitik.
WELCHE PROSTITUTION WOLLEN WIR? Prostitutionsverbot – Problemlöser oder Populismus?
Die Frage, ob Prostitution verboten oder legalisiert werden soll, entzweit Europas Feminist_innen. Wenn es nach Alice Schwarzer geht, ist der Fall klar: Prostitution fördert den Menschenhandel und gehört verboten, die Freier müssen bestraft werden. In der Schweiz kommt ein Expertenbericht des Bundesrats zu einem anderen Befund: Prostituierte sollen rechtlich gestärkt werden. Politische Vorstösse von links bis rechts, die von Besserstellung bis zum Verbot des Gewerbes reichen sowie der vorliegende Expertenbericht: 2015 wird das Jahr sein, in dem in der Schweiz politisch die Weichen gestellt werden, welcher Weg eingeschlagen wird. [via]
- Download: via FRN (mp3; 54 MB; 59:28 min)
Nicht nur in der Schweiz, auch in Deutschland werden Debatten darüber geführt, Sexarbeit zu reglementieren und wichtige Errungenschaften zurückzunehmen. Hierüber hat im letzten Jahr Sonja Dolinsek ein Interview bei Radio Corax gegeben, welches hier nachgehört werden kann.
Das Ex-Magazin hat im letzten Jahr einen offenen Antwortbrief von Sascha Bergthal an Tanja Rahm veröffentlicht, die zuvor in der Welt ihrerseits einen Offenen Brief geschrieben hatte. Beiträge zum Thema im Audioarchiv findet ihr hier: Leib ohne Trieb – Von der Prostitution zur Sexarbeit | Femen und der Feminismus.
Nur sollte man die ganze Debatte vorsichtig behandeln…
Ich persönlich finde schon extrem wie Pro-Sexarbeit-Leute überall die Gegner_innen anbeißen. Einige Leute von oben sind Fahnenträger_inenn dabei. Ich bin gegen Alice Schwarzers Meinung von Prostitution aber das ist den Anhänger_inen egal.sie pauschalisieren einfach alles.
Einfach Alles moralisch! Ich kenne solche Debatte aus meiner Erfahrung als einer von Minderheit. Erfolgsstory als Minderheiten und so weit. Das hat bloß das Problem marginalisiert. Annerkennug? Nur Individualisiert. Danach müsste man die Schuld alleintragen. Diese ganze Debatte ist wirklich gefährlich. Die Individualisten wollen endlich Initiative ergreifen. So können sie sich als Bürger wohl fühlen.
Immer wieder, alles wird als „morarisch“ verurteilt, damit kann kann endlich „delegulieren“ was das betrifft , nicht nur Sexarbeit.
Was „morarisch“ heutzutage ist , dass man besser ist als die Anderen ,diese neoliberale Konnkurenz-Logik fundiert bei vielen ProSexarbeit Anhängerinnen als unsichtbare, unschludige Moral.
Es geht nicht nur um Sexarbeit sondern um Deutungshochheit als „progressive“. Viele Linke sind zu naiv deshalb sind sie überwiegend im Rückzug sich ohne um die anderen Mitstreiter_innen zu kümmern. Immer mehr Linke wird induvidualistich gefärbt. Marxofeminstinen machen in diesem Punkt deutlich besser aber kaum jemand kümmert sich darum.
Das Diskussionsfeld rückt zugunsten Neoliberalen eben bei den Linken. Das ist natürlich besorgniserregend wie Manuela Schon reagiert.
@Kritikerin: Hier dürftest du (nachdem du offensichtlich schon die obigen Vorträge nicht gehört hast, sonst würdest du nicht so dumm fragen, warum sich denn angeblich Zwangsprostituierte nicht äußern dürften) Antworten auf einige deiner Fragen finden: https://editionf.com/escortgate-sexarbeit-stigma-prostitutionsschutzgesetz
Im Übrigen bedeutet Feminismus, Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu kritisieren und für ihre Abschaffung zu kämpfen, nicht sich damit zu arrangieren oder sie hinzunehmen wie eine „schicksalhafte Naturerscheinung“. Das schwedische Prostitutionsgesetz tut genau das – es nennt Macht- und Herrschaftsverhältnisse beim Namen und will sie beseitigen. Somit ist es ein feministisches und fortschrittliches Gesetz, das auch immer stärkere Verbreitung in Europa findet.
Und übrigens: Hier findet sich eine kritische Rezension des Buches der Prostitutionslobbyistin Grant:
http://feministcurrent.com/8616/toying-with-politics-a-review-of-melissa-gira-grants-playing-the-whore
Manuela liegt mit ihrer Kritik vollkommen richtig.
Warum berichtet ihr nicht über das Buch „Ware und Sein“ von Kajsa Ekis Ekman?
Siehe hier:
http://jungle-world.com/artikel/2011/22/43318.html
DAS ist eine marxistische Analyse des Phänomens Prostitution.
Und warum ignoriert ihr die Stimmen von Ex-Prostituierten, die die Abschaffung der Prostitution fordern?
Siehe hier:
http://www.welt.de/vermischtes/article139036199/Die-Legende-von-der-gluecklichen-Hure.html
http://abolition2014.blogspot.co.at/2014/10/rebecca-mott-vergesst-nie-dass.html
@Manuela: Erstens ist das hier keine anarchistische Seite, sondern eine marxistische auf Grundlage der Kritischen Theorie. Und zweitens geht es bei sämtlichen Vorträgen um die Infragestellung von Macht-, Besitz- und Herrschaftsverhältnissen, und zwar aus Sicht der Sexarbeiterinnen selber, die bei den verlinkten Vorträgen ebenfalls persönlich ausgiebig zu Wort kommen.
Das begriffslose Zusammenwerfen von Sexarbeit und Menschenhandel dagegen dient gerade verschiedensten Macht- und Herrschaftsverhältnissen wie Frauenfeindlichkeit, Patriarchat und Rassismus und vor allem der Exkulpierung des Kapitalismus, indem man (nicht selten in Form einer regressiven, rassistischen und frauenfeindlichen Verschwörungstheorie) seine Funktionsweise und Methoden blind auf vermeintliche Außenseiter projiziert, weshalb die Kriminalisierung der Sexarbeit wie z. B. in Skandinavien auch nur zu einer noch viel schlimmeren Ausbeutung, Diskriminierung und oft zu einer rechtlich noch verschlechterten Situation der SexarbeiterInnen führt.
Kurz: An der Sexarbeit, die es auch ohne Kapitalismus und Patriarchat aller Wahrscheinlichkeit nach weiterhin gäbe, sollen als Sündenbock stellvertretend die Grundübel von Rassismus, Patriarchat und Kapitalismus exorziert werden, damit diese in ihren genuinen Manifestationen umso makelloser erscheinen sollen. Wenn du die verlinkten Vorträge gehört hättest, wüßtest du das.
Ich finde es schon ein bisschen erstaunlich was ihr hier als emanzipatorisch und progressiv verlinkt.
Wie wäre es denn mal mit einer Betrachtung aus anarchistischer Perspektive. Stichwort: Macht- und Herrschaftsverhältnisse in Frage stellen und so.
Hier ein paar Tipps zum Einstieg:
Kajsa Ekis Ekman über Sex und Prostitution (u.a. aus anarchistischer Sicht): https://www.youtube.com/watch?v=scOlrYokdJM
Emma Goldman: The traffic in Women – https://www.marxists.org/reference/archive/goldman/works/1910/traffic-women.htm
Dazu auch: http://diestoerenfriedas.de/emma-goldman-der-handel-mit-frauen/
London Anarchist Bookfair 2011 – Prostitution is not compatible with Anarchism: https://rancom.files.wordpress.com/2011/11/prostitution_is_not_compatible_with_anarchism.pdf
Französische Anarchafeministinnen gegen das System der Prostitution: http://www.schattenblick.de/infopool/medien/altern/gras1376.html
Manifest der Prostitutions- und Menschenhandelsüberlebenden: http://abolition2014.blogspot.de/2014/08/manifest-der-prostitutions-und.html
Das Mantra der Sexarbeitslobby zu wiederholen und sexuelle Gewalt als „Arbeit“ zu verklären finde ich für einen anarchistischen Blog schon bemerkenswert
Viele Grüße
Manuela