Kapitalistische Krisenzeiten.

Entgegen dem Bekenntnis der parlamentarischen Linken zu Markt, Staat und Kapital, aber auch entgegen der naiven und gefährlichen Legende, eine gesunde Realwirtschaft sei der Habgier von Bankern zum Opfer gefallen, fanden in den letzten Monaten wiederholt Veranstaltungen statt, die daran erinnerten, dass die Ursachen für die viel zitierte Krise nicht in der Gier oder in ungenügenden Reglementierungen liegen, sondern auf eine strukturelle Analyse zu pochen sei. Eine Analyse, die darauf beharrt, dass Kapitalismuskritik eine Kritik der Normalität des Kapitalismus bedeutet – und auf der Erkenntnis, dass zu dieser Normalität auch die Krise gehört.
In Halle organisierten die kritischen Interventionen eine Veranstaltungsreihe zur Krisenhaftigkeit des Kapitalismus (mit Ernst Lohoff (Krisis), Daniel Späth (Exit!), Anton Landgraf und Hannes Bode als Referenten) und deren Folgen. In Bremen sprach Thomas Ebermann zum Verhältnis von Krise und Nationalismus. Beides wollen wir an dieser Stelle dokumentieren.

Thomas Ebermann: Krise und Nationalismus

Auf Einladung der Rosa Luxemburg Initiative in Bremen, wandte sich Thomas Ebermann gegen die Verklärung des deutschen Nationalstaats, die in Krisenzeiten populäre Nostalgie des Sozialstaates und die falsche Hoffnung auf den Keynesianismus.

Zeiten der Krise sind Zeiten der Ungewissheit. So wie bisher scheint es nicht mehr weitergehen zu können, welche Krisenantworten sich allerdings durchsetzen ist unklar. Linke Positionen zur Krise reichen von der Hoffnung auf ein größeres Interesse und Durchsetzungspotential emanzipatorischer Alternativen bis hin zur Sorge um autoritäre Krisenantworten und reaktionäre Mobilisierungen. Anlässe für einen linken Optimismus sind aktuell eher selten. Nationalistische Mobilisierungen von unten erleben momentan in Europa ebenso Konjunktur wie chauvinistische Appelle und Krisenlösungsvorschläge von oben. Verantwortlich für die Krise werden vielfach Banken und Management gemacht. Das Vertauen in den Nationalstaat hingegen ist weiterhin groß, an ihn wird appelliert, die Krise im Interesse des nationalen Kollektivs zu meistern. Mit der Veranstaltung soll daher diskutiert werden, wie sich das Verhältnis von Krise und Nation bzw. Nationalismus verstehen lässt. Welche Bedeutung hat die Konkurrenz der Nationalstaaten auf dem Weltmarkt? Wie sind die Forderungen nach staatlichem Krisenmanagement einzuschätzen? Wie könnten antinationale Reaktionen auf die gegenwärtigen Verhältnisse ausschauen? Was wären emanzipatorische Antworten auf die Krise, welche nicht die Brutalität der kapitalistischen Normalität aus vermeintlich krisenfreien Zeiten ignorieren oder den autoritären Sozialstaat der Vergangenheit verklären? Thomas Ebermann lebt in Hamburg. Er schreibt unter anderem für konkret, jungle world und Phase 2.

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Ernst Lohoff: Kapital, Krise, Sparpolitik

Sowohl den Staat als Allheilmittel wie auch gängige volkswirtschaftliche Vorstellungen vom Gesamtzusammenhang der kapitalistischen Produktionsweise kritisiert Ernst Lohoff zusammen mit Norbert Trenkle im 2012 veröffentlichten Buch Die große Entwertung. Warum Spekulation und Staatsverschuldung nicht die Ursachen der Krise sind. Die Veröffentlichung ist ein Einspruch gegen die Vorstellung, die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise sei das Resultat von übersteigerter Spekulation oder eine Folge der Verschuldung, die nun durch ein massives Verarmungsprogramm für die abhängig Beschäftigten in den Griff zu bekommen sei (Stephan Grigat). Einige Überlegungen des Buches, die versuchen einen Gegenakzent zu weit verbreiteten Erklärungen der Krise zu liefern, referierte Lohoff zur Eröffnung der halleschen Veranstaltungsreihe. Dabei verweist Lohoff auf die Veränderungen des Kapitalismus innerhalb der letzten 30 Jahre und auf die Krisenanfälligkeit des kapitalistischen Systems.

Im globalen Finanzmarktcrash entladen sich die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft. Der akute Krisenschub nimmt zwar von den Finanzmärkten seinen Ausgang, die Ursachen liegen aber tiefer. Was Marx anhand der Krisen des 19. Jahrhunderts nachgewiesen hat, gilt erst recht für das Weltwirtschaftsbeben unserer Tage. Nichts ist analytisch so naiv und ideologisch so gemeingefährlich wie die Dolchstoßlegende, eine gesunde Realwirtschaft sei der grenzenlosen Habgier einer Handvoll Banker und Spekulanten zum Opfer gefallen. Umgekehrt wird ein Schuh draus. Das historisch beispiellose Abheben des Finanzüberbaus in den letzten 35 Jahren war selber schon das Ergebnis und zugleich die provisorische Überwindung einer fundamentalen Krise der kapitalistischen Gesellschaft. Eine Produktionsweise, die auf der Vernutzung lebendiger Arbeitskraft beruht, muss angesichts des ungeheuren Produktivkraftschubs der mikroelektronischen Revolution an ihre strukturellen Grenzen stoßen.
Vor diesem Hintergrund gilt es auch den paradoxen Doppelkurs aus Sparpolitik und Verschuldung zu betrachten, den die Regierungen der führenden kapitalistischen Länder eingeschlagen haben. Um Kreditwürdigkeit zu demonstrieren und sich auf den Finanzmärkten frisches Geld besorgen zu können, werden massive Sparanstrengungen für die Zukunft beschlossen. Dieser Sparwille wird demonstrativ an den Teilen der Gesellschaft exekutiert, die als „nicht-systemrelevant“ eingestuft werden. Ihnen wird noch das letzte Butterbrot genommen, nicht um damit die Schulden zu bezahlen, sondern damit die öffentliche Hand gegenüber den Geld- und Kapitalmärkten ein bisschen länger den Schein der Kreditwürdigkeit aufrechterhalten kann.

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Daniel Späth: Postwachstumsideologie und Zinskritik. Kritik einer liberalen Variante ‘linker’ Krisenverdrängung

Eine Auseinandersetzung mit selbsternannten Kapitalismuskritikern der Postwachstums-Bewegung liefert Daniel Späth (Exit).

Auf „Heldentagen“ in Halle wollten diverse Initiativen und Gruppen jüngst „die Krise wuppen [!]“ – für gesellschaftliche Übel machten sie moralisierend „Gewinnstreben, Wachstums- zwang und Rationalisierung“ aufgrund falscher, korrigierbarer Bedürfnisse verantwortlich. Ihre „Alternativen“ drehten sich vor allem um das Schlagwort Postwachstum. Doch zu kritisieren ist nicht nur die Naivität, mit der sie die kapitalistischen Verhältnisse betrachten und „kritisieren“. Vielmehr handelt es sich in weiten Teilen der gefeierten Postwachstums-Bewegung um ordoliberale VertreterInnen eines knallharten Konkurrenzkapitalismus, in dem sich die leistungsfähigsten Individuen in sozial-darwinistischer Manier zu behaupten hätten. Das Besondere dieser NeosozialdarwinistInnen ist jedoch die tragende Rolle der Zinskritik, die sie vom ominösen Kleinbürger Silvio Gesell übernehmen.

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Gerade das Ende der sich anschließenden Diskussion eignet sich, um einmal mehr das Redeverhalten einiger Apologeten des Gegenstandpunktes zu studieren.

Diskussion:

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Anton Landgraf: Über die sozialen und politischen Auswirkungen der Eurokrise

Von den autoritären Experimenten in Osteuropa und den sozialen Auseinandersetzungen in Südeuropa, führt Anton Landgraf in seinem Referat zu den Krisenreaktionen in Deutschland. Spätestens hier – und damit verbunden mit der Erinnerung an die Reaktionen auf bisherige kapitalistische Krisen – wird deutlich wie fahrlässig die Erwartung ist, dass die Krise des Kapitalismus den Weg zu einer besseren Gesellschaft bereiten werde.

Nirgendwo ist es ruhiger als im Zentrum des Orkans. Während Süd- und Osteuropa mit dem wirtschaftlichen Verfall kämpft, ist in Deutschland wenig davon zu spüren. Hier lästert man über liederliche Griechen und bankrotte Spanier, während man sich selbst auf die Schulter klopft – jetzt scheint sich die Aussage von Bundeskanzlerin Merkel zu bestätigen, wonach Deutschland gestärkt aus Krise hervorgehen werde. Die neue deutsche Herrlichkeit ist allerdings untrennbar mit einem sozialen Desaster in den peripheren Staaten verbunden. In kurzer Zeit ist dort der Lebensstandard dramatisch gesunken, vergleichbar nur mit der Zeit nach einem (Kalten) Krieg. Die Reaktionen in den betroffenen Regionen fallen dabei unterschiedlich aus. Während es in Südeuropa zu heftigen sozialen Auseinandersetzungen kommt, experimentiert man in Osteuropa mit Formen autoritärer Herrschaft. Hinzu kommt in ganz Europa eine Renaissance längst obsolet geglaubter separatistischer Bewegungen. Der alte Plan eines Kerneuropas erhält so neue Aktualität: Während sich die peripheren Staaten immer schneller in der Umlaufbahn drehen, verfestigt sich die Macht im Zentrum.

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Diskussion:

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Hannes Bode: Über ‘antimuslimischen’ Rassismus, Islamismus und ihre Kritik

Mit Strategien der subjektiven Krisenbewältigung beschäftigt sich Hannes Bode im abschließenden Referat der Reihe. Antisemitische Personifizierungen, rassistische Biologisierungen oder Kulturalisierungen helfen die (nicht begriffenen Ursachen der) Krise des Kapitalismus zu bewältigen.

In Krisenzeiten haben Identitätsdiskurse und Fremd- bzw. Feindbilder bekanntlich Konjunktur. Es spricht Bände, dass sich aktionistische Kader einer rassistischen, insbesondere muslimfeindlichen Strömung jüngst den Namen „Die Identitären“ gaben. Doch nicht nur sie – auch eine bunte Mischung von Stammtischrassisten, sozialdemokratischen Sozialdarwinisten, wertkonservativen sowie linksalternativen Kulturkämpfern und neuen Rechten hat seit einigen Jahren die Figur des „Muslims“ als („kulturell“) Anderem für sich entdeckt. Nicht nur in Deutschland findet man immer häufiger völkische und nationalistische Parolen, die – aufgrund einzigartiger Bündnismöglichkeiten und politisch korrekter Legitimationsfiguren – immer erfolgreicher insbesondere die Mittelschichten mobilisieren.
In der Kritik dieser rassistischen Strömung wollen nun manche sofort „Islamapologie“ und „Aufklärungsverrat“ erkennen, sie führen die „europäische Kultur“ ins Feld und posaunen in bekanntem Gestus, „man werde doch noch sagen dürfen“. Auf der Gegenseite nutzen jedoch Berufsmuslime, Islamisten oder die letztendlich gleichsam rassistischen Anhänger einer „multikulturellen Gesellschaft“ die Kritik der Muslimfeindschaft, um Religionskritik sowie emanzipatorische politische und Ideologiekritik zu delegitimieren. Beide Seiten reproduzieren dabei Muster und Zuschreibungen, die die Einzelnen auf der Basis ethnoreligiöser Zuschreibungen zwangskollektivieren – positiv oder negativ gewendet wird die Universalität des Menschseins in Frage gestellt.
Muslimfeindlicher Rassismus ist dabei wie der Islamismus als moderne Krisenbewältigungsideologie anzusehen, Kollektivierung und Ressentiment verhelfen hier dem vereinzelten und verlorenen Mitglied der kapitalistischen Gesellschaft zu Kontingenzbewältigung und Identität. Ein Antirassismus, der diese „Alltagsreligion“ (Claussen) nicht vor dem Hintergrund ihres Zusammenhangs mit den kapitalistischen Verhältnissen analysiert und attackiert, ist pure Ideologie. Gegen die Konjunktur von „Kultur und Identität“ und die Biologisierung des Sozialen gilt es das Individuum und das Politische zu verteidigen, und auf die realen, materiellen Ursachen gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und Konflikte zu verweisen.

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Aufgrund technischer Schwierigkeiten (Akku des Aufnahmegerätes) bricht die Aufnahme leider abrupt ab: Das Ende des Referats (Ausführungen zum Islamismus) und die Diskussion konnten so nicht dokumentiert werden. Als Ergänzung sei daher auf eines der Interviews verwiesen, welches Radio Corax in den letzten Monaten mit Bode führte.