Deutschland bildet sich

Über die nationale Dynamik der Sarrazin-Debatte und ihre Geschichte

JustIn Monday wirft in diesem Vortrag einen Blick auf den Verlauf der sog. Sarrazin-Debatte, also auf die Äußerungen Thilo Sarrazins (»Deutschland schafft sich ab«) über Intelligenz, Vererbung und Integration sowie die Repliken, wie sie z. B. von Frank Schirrmacher (FAZ) vorgetragen worden sind. Es geht ihm dabei nicht darum, die Vorstellungen Sarrazins von links zu widerlegen. Vielmehr versucht er sich an einer ideologiekritischen und teilweise psychoanalytischen Deutung dieser Vorstellungswelt. Dazu stellt er einen Zusammenhang zu Denkern der »konservativen Revolution« (Oswald Spengler, Ortega y Gasset) und zur Krise der kapitalistischen Akkumulation her, auf welche erstere in den 1920/30er Jahren wie auch Sarrazin und einige seiner KritikerInnen heute ideologisch (rassistisch, sexistisch, nationalistisch usw.) reagier(t)en.

Der Vortrag wurde am 15. Oktober 2011 auf dem »EXIT!«-Seminar aufgezeichnet.

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via AArchiv: Teil 1 (1:06 h, 23 MB), Teil 2 (0:55 h, 19 MB)
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Ankündigungstext:

Zeitgleich mit ihrem Entschluss, die Finanzkrise von 2008 als „bewältigt“ zu betrachten, weil „das Übergreifen auf die Realwirtschaft“ dank mutiger politischer Initiative vermieden worden sei, kompensierte die deutsche Öffentlichkeit ihre dunkle Ahnung davon, dass dies eine haltlose Illusion sein könnte, mit der sogenannten Sarrazin-Debatte. Flüchtig betrachtet, wehrte sich dabei der liberalere Teil der Landsleute gegen den genetischen Determinismus, der Sarrazin teils zurecht, teils zu unrecht zugeschrieben wurde. Unter der – verhängnisvoll falschen, aber gängigen – Prämisse, Rassenbiologie und Eugenik zielten im Kern auf die Beseitigung und Vermeidung unveränderbar minderwertigen Menschenmaterials, schaffte es sogar der SPD-Vorsitzende, Sarrazin die Wiederbelebung der Eugenik vorzuwerfen. Wenn auch gepuffert von der Beteuerung, dass es sich bei jenem und dem Großteil seiner AnhängerInnen keinesfalls um RassistInnen handele, die „Integrationsdebatte“ nun wirklich geführt werden müsse, etc. pp. Der Verweis auf die wundersamen Einflüsse der Bildung auf den Reichtum der Nation, mit dem die GegnerInnen Sarrazins glaubten gegen diesen punkten zu können, brachte diese aber lediglich in den Sog einer Dynamik, die die historische Rassenbiologie als Ganzes kennzeichnete. Denn für nicht wenige ihrer maßgeblichen Vertreter, etwa die Autoren der konservativen Revolution, war „Rasse“ schon immer mehr geistiges Prinzip denn biologische Substanz, die den schädelvermessenden Biologen hätte überantwortet werden können. Es ist daher angebracht, die Dynamik der Rassenbiologie in Kontrast zur Rede vom Biologismus als Zeichen fortschreitender Vergesellschaftung der Natur zu begreifen. Die fixe, vermeintlich messbare Natur war immer nur die Krücke eines an den Krisenerscheinungen panisch gewordenen bürgerlichen Denkens, eine notwendige Stütze, damit die Illusion aufrecht erhalten werden kann, die lieb gewonnenen Formen der eigenen Herrschaft hätten ihren Rechtsgrund in einem unhintergehbaren Naturzustand. Damit aber wurde der Gedanke an sie nur ein – und nicht einmal das zentrale – Merkmal einer Praxis mit dem paradoxen Ziel, die Produktivität der Arbeit nicht mehr als vermitteltes Moment der gesellschaftlichen Beziehungen betrachten zu müssen, sondern als unveräußerbaren Zustand von Körpern, die sich, völlig unvermittelt und im dualistischen Gegensatz zur fixen Natur, vom totalen Staat zur Ausbildung von „Willenskraft“ mobilisieren lassen. Wehe denen, die sich nicht dermaßen bilden lassen wollen. Nicht nur die Phantasien vom Untergang der Nation, sondern auch die im Bezug darauf gerechtfertigten Maßnahmen zur Vermeidung der „Degeneration“ waren und sind verschobene Wahrnehmung der Krise, was im Vortrag im Detail entwickelt werden soll.

2 Gedanken zu „Deutschland bildet sich

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