Wär’ nicht das Auge sonnenhaft,
Wie könnten wir das Licht erblicken?
Lebt’ nicht in uns des Gottes eig’ne Kraft,
Wie könnt’ uns Göttliches entzücken?
Mit diesem Vers des alten Goethe beginnt Christopher Zwi seinen Vortrag über »Bildlichkeit und Sehen in der Gesellschaft des Spektakels«, den er am 27.10. in Weimar im Rahmen der Reihe »Kunst, Spektakel und Revolution« gehalten hat. In Kontrast zu diesem göttlichen Sehen der Aufklärung stellt Zwi dann die Erfahrungen des französichen Buchenwaldhäftlings Jaques Lusseyran, der blind gewesen ist und der Buchenwald dementsprechend mit den verbleibenden vier Sinnen erfuhr: »Das Licht kommt nicht von außen; es ist in uns, auch wenn wir keine Augen haben« [Jaques Lusseyran: Das wiedergefundene Licht, München 1966, dtv]. Anhand dieser Gegenüberstellung rekonstruiert er eine geschichtlich-gesellschaftliche Dialektik von Sehen und Blindheit. Das Theorem des Verhältnisses von Bild, Wirklichkeit, Widerspiegelung und Reflexion umkreist er mit Marxens Anthropologie der Sinne und der Dialektik der Auflärung von Adorno und Horkheimer (hier vor allem das letzte Fragment »Zur Genese der Dummheit«). Im Übergang von der kritischen Theorie Adornos zu jener der Situationisten thematisiert er zudem das Proletariat im Bezug zu den Fetischformen der bürgerlichen Gesellschaft. Entscheidend sind am Ende dann drei thematische Stränge: die Spektakeltheorie der Situationisten, die Reflexionsbestimmungen Hegels und die kritische Ontologie des späten Lukács und gibt damit schon einen kleinen Einblick in den demnächst im ça ira-Verlag erscheinenden Lukács-Band.
Teil 1
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Teil 2
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Die weiteren Vorträge der Reihe »Kunst, Spektakel und Revolution«, die zum größten Teil bereits hier dokumentiert sind, werden nach und nach direkt auf den AArchiv-Server hochgeladen.
Zum Ankündigungstext:
In der Mitte des finsteren 20.Jahrhunderts forschte die kritische Theorie Adornos und Horkheimers nach den Ursachen für den gesellschaftlichen Bann der Verblendung. Die »Dialektik der Aufklärung« schliesst in dem letzten philosophischen Fragment »Zur Genese der Dummheit« mit einem Bild für »alles Lebendige«: »Das Fühlhorn der Schnecke ›mit dem tastenden Gesicht‹« steht hier zugleich als Wahrzeichen der menschlichen Intelligenz und des ihr einmal zugefügten Schmerzes einer Verletzung der sinnlich-neugierigen Entdeckungslust. Die gewaltsam beendete Einheit von Tasten, Riechen und Sehen mittels dieses Organs wird zum Urbild des Wundmals, wo die Lust an der sinnlich-praktischen Tätigkeit und am theoretischen Sinn durch gesellschaftliche Eigentumsschranken, Klassenverhältnisse und Machtinteressen zerstört wird. Die zurückbleibende Narbe markiert zweierlei: zum einen den in der Gattungsgeschichte geborgenen Erfahrungsreichtum, zum anderen das Umschlagen von Geschichte in einen verdinglichten Prozess, der sich gegen die Möglichkeiten des gesellschaftlichen Individuums richtet. An diesem wunden Punkt schlagen Wissbegierde und Neugier in Dummheit, Idiosynkrasie, Bosheit und Fanatismus um – in die verheerenden, mörderischen Folgen der Verblendung.
Die Geschichte dieser Verheerung ist ein Prozess der Ausdifferenzierung und der Verarmung der Sinne zugleich: die anderen menschlichen Sinne werden vom Gesichtssinn getrennt, das Gesicht wird auf das Sehen eingeschränkt und der Sehsinn wird durch die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst noch verblendet. So reproduziert sich diese Gesellschaft als Ganzes blind, sie verbietet es sich selbst, ihre Form vernünftig zu reflektieren und in der Undurchsichtigkeit aller Verhältnisse und Beziehungen fixiert sie ihre Mitglieder in der Haltung der bloßen, ohnmächtigen Kontemplation. Das scheinbare Schicksal dieser widersprüchlichen Gesellschaftsform der Trennungen wurde in dem Vierteljahrhundert nach Erscheinen der »Dialektik der Aufklärung« zum Leitthema der kritischen Theorie der Situationisten. Die Situationistische Internationale (1957-1972) entwickelte erstmals eine communistische Kritik der »Gesellschaft des Spektakels«: in ihr spiegelt sich die wirkliche Welt des materiellen Lebensprozesses als »der getreue Widerschein der Produktion der Dinge« und als Selbstzweck der Produktion von Waren-Bildern und Bilder-Waren. Das Spektakel als Ganzes ist »das Kapital, das einen derartigen Akkumulationsgrad erreicht hat, dass es Bild wird«. Das bloße Anblicken des Erlebten im ununterbrochenen Bilderlauf des Nichtlebens und der normierten herrschenden Modell-Bedürfnisse verdinglicht und entfremdet die Geschichte – gerade auch die der Entwicklung der menschlichen Sinne – den Produzierenden und Konsumierenden. Es enteignet sie ihrer Gesten und Gestaltungsmöglichkeiten, verblendet ihre Wahrnehmung der historisch-materiellen Realität und macht sie dumm und stumm. So, wie die sogenannte Kommunikationsgesellschaft »das Gegenteil des Dialogs« zwischen den gezwungenermaßen assoziierten und fremdbestimmt arbeitenden Menschen ist, so ist die Gesellschaft der Zuschauenden tendenziell die der Blinden.
»Das Spektakel als Tendenz, durch verschiedene spezialisierte Vermittlungen die nicht mehr unmittelbar greifbare Welt zur Schau zu stellen, findet normalerweise im Sehen den bevorzugten menschlichen Sinn, der zu anderen Zeiten der Tastsinn war; der abstrakteste und mystifizierbarste Sinn entspricht der verallgemeinerten Abstraktion der heutigen Gesellschaft.« Die kapitalistische »Realabstraktion« drückt sich in einer Ideologie und Praxis der Menschen aus, die »das konkrete Leben aller … zu einem spekulativen Universum degradiert hat«. Die situationistische Kritik versucht durch ihre Wendung zur Praxis die philosophische Kurzsichtigkeit der europäischen Dialektik zu überwinden, die »in einem von den Kategorien des Sehens beherrschten Begreifen der Tätigkeit bestand«. Das dialektische Denken soll jedoch das Erbe dieser isolierten Reflexionstätigkeit aufheben und nicht hinterschreiten – dieser Anspruch ist dem Begriff des Spektakels eingeschrieben: Nicht nur ist speculum das lateinische Wort für Spiegel, sondern auch die »gespenstische Gegenständlichkeit« und das »sinnlich Übersinnliche« – das die Wert- und Warenform kennzeichnet – wird mit »Spektakel« bewusst evoziert. Als den wesentlichen Vorgang des Warenfetischismus bezeichnet Marx die Tätigkeit des wider- bzw. zurück-Spiegelns.
Wir müssen deshalb bei einer erneuten Überprüfung der situationistischen Spektakeltheorie vor allem nach dem kritischen Gehalt dieser besonderen Form von »Bild« fragen – dem Spiegel-Bild. Wie verhält sich die sinnliche Wahrnehmung und Tätigkeit der Menschen in der modernen Gesellschaft zum Sehen ihres gegenständlichen Wesens und zu dessen Darstellen im Spiegeln, im mimetischen Bilden? »Die Bildung der 5 Sinne ist eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte.« (Marx) Doch in ihrem bisherigen Resultat hat sich »das Prinzip des Warenfetischismus … absolut im Spektakel vollendet, worin die sinnliche Welt durch eine über ihr schwebende Auswahl von Bildern ersetzt wird, die sich zugleich als das Sinnliche schlechthin hat anerkennen lassen.« Wie hängt die gesellschaftliche Privilegierung und Bornierung des Seh-Sinnes mit der Verfinsterung der Geschichte zusammen? Wie, warum und wodurch entsteht gesellschaftliche Verblendung, und wie kann auch aus der Blindheit heraus die sinnlich menschliche Tätigkeit praktisch und theoretisch re-organisiert werden? Mit der Begründung der Kritik der »Gesellschaft des Spektakels« stellt sich materialistisch historisch die Aufgabe, Sehvermögen und Blindheit in ihrer Funktion bei der Bildung aller Sinne dialektisch auseinander zu erklären, um »die Gesellschaft des Bildes in ihrer ganzen Tiefe zu begreifen. Die Wahrheit dieser Gesellschaft ist nichts anderes als die Negation dieser Gesellschaft.« [via]
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