Mitschnitt eines Vortrags, den Martin Dornis am 19.08.2010 in Jena, im Rahmen der Reihe »Schwarz.Rot.Gold. …sind nicht mal alles Farben« gehalten hat. Er skizziert die Geschichte des Staates im Kapitalismus, um anschließend Besonderheiten des deutschen Staates und der damit verbundenen nationalistischen Ideologie herauszuarbeiten. Ankündigungstext hier. Untenstehend findet ihr das Thesenpapier zum Vortrag und die verwendeten Zitate.
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Kapitalistische Vergesellschaftung und nationalistische Ideologie
Vortrag von Martin Dornis am 20.08.2010 in Jena
- Die Rede ist im Folgenden nicht von »Kapitalismus« und »Nationalismus«, die man in ein »Verhältnis« setzen müsste, sondern von »kapitalistischer Vergesellschaftung und nationalistischer Ideologie«.
- Es gibt zwar keine sich ewig gleiche kapitalistische Gesellschaft – sondern sie ist zeitlich wie örtlich verschieden – dennoch ist ihr allgemeiner Charakter hervorzuheben: versachlichte (d.i. fetischistisch gebrochene) Herrschaft von Menschen über Menschen und Ausbeutung von Menschen durch Menschen. Dieses Allgemeine stellt sich aber auf nationaler Ebene unterschiedlich dar. Die Besonderheit der jeweiligen nationalen Entwicklung ist zu erfassen.
- Das »Deutsche« also ist der kapitalistischen Gesellschaft weder entgegengesetzt noch zur Seite gestellt. »Deutsch« ist das ungehemmte Wüten des kapitalistischen Prinzips. Zu fragen ist nicht, warum Auschwitz in Deutschland geschah, sondern warum nicht in Frankreich, England, den USA oder der Sowjetunion.
- In der Krise ist unter deutschen Bedingungen weder auf den Staat noch auf den Markt zu setzen. Beide unterminieren hier die Freiheit des Individuums und sind ohnehin ununterscheidbar verquickt.
- Ob Deutschland inzwischen so sehr „modernisiert“ ist, dass es als eine Nation unter vielen betrachtet werden kann oder ob es demgegenüber noch sehr viele Kontinuitäten zur „Vergangenheit“ gibt, ist die falsche Frage. Sie umgeht die entscheidende: Was deutsch überhaupt ist?
- »Deutsch« ist eine Art zu denken und zu handeln und diese ist nicht auf Deutschland beschränkt sondern universalisierbar. »Deutsch« kann von anderen „gelernt“ werden und wird gelernt.
- Die Solidarität mit dem Staat Israel ist die Quintessenz aller Kritik am Staat und an der Nation.
Zitate
Es stünde heute äußerst übel um die Chancen der ‚Demokratie‘ und des ‚Individuums‘, wenn wir uns für ihre ‚Entwicklung‘ auf die ‚gesetzmäßige‘ Wirkung materieller Interessen verlassen sollten. Denn diese weisen so deutlich wie möglich den entgegengesetzten Weg (…) überall ist das Gehäuse für die neue Hörigkeit fertig (…). Möchten doch angesichts dessen diejenigen, welche in steter Angst davor leben, es könnte in Zukunft zu viel ‚Demokratie‘ und ‚Individualismus‘ geben und zuwenig ‚Autorität‘ (…) sich endlich beruhigen: es ist, nur allzusehr, dafür gesorgt, daß die Bäume des demokratischen Individualismus nicht in den Himmel wachsen (…): alle ökonomischen Wetterzeichen weisen nach der Richtung zunehmender Unfreiheit. Es ist höchst lächerlich, dem heutigen Hochkapitalismus (…) Wahlverwandschaft mit Demokratie oder gar Freiheit (in irgend einem Wortsinn) zuzuschreiben, während doch die Frage nur lauten kann: wie sind, unter seiner Herrschaft, alle diese Dinge überhaupt möglich. [Weber, Politische Schriften, S. 63f, Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland]
Positiv steht aber das gleiche Wahlrecht rein staatspolitisch in einer engen Beziehung zu jener Gleichheit gewisser Schicksale, die wiederum der moderne Staat als solcher schafft. ‚Gleich‘ sind die Menschen vor dem Tod. Annähernd gleich sind sie auch in den unentbehrlichsten Bedürfnissen des körperlichen Lebens. Eben dies Ordinärste und andererseits jene pathetisch Erhabenste aber umfassen auch diejenigen Gleichheiten, welche der moderne Staat allen seinen Bürgern wirklich dauernd und unzweifelbar bietet: die rein physische Sicherheit und das Existenzminimum zum Leben, und: das Schlachtfeld für den Tod. [Weber, Politische Schriften, S. 268, Wahlrecht und Demokratie in Deutschland]
Während selbstverständlich das Individuum als biologische Einheit weiter existiert (…) ist es in eine gesellschaftliche Konstellation eingetreten, in der die Reproduktion seines Lebens nicht mehr im alten Sinne von einer ‚monadologischen‘ Beschaffenheit, also seiner selbständigen und antagonistischen Abhebung von der Umwelt geleistet werden kann. Das Indivduum scheint auf dem Wege, sich nur dann am Leben erhalten zu können, wenn es sich als Individuum aufgibt, die Grenzen zur Umwelt verwischt, der Selbständigkeit und Autonomie in weitem Umfang sich begibt. Innerhalb weiter Sektionen der Bevölkerung gibt es kein ‚Ich‘ im traditionellen Sinn mehr. [Adorno, Current of Music – Elements of a Radio Theorie, S. 652]
Mit dem Mord an Millionen durch Verwaltung ist der Tod zu etwas geworden, was noch nie zu fürchten war. (…) Der Völkermord ist die absolute Integration, die überall sich vorbereitet, wo Menschen gleichgemacht werden, geschliffen, wie man beim Militär es nannte, bis man sie, Abweichungen vom Begriff ihrer vollkommenen Nichtigkeit, buchstäblich austilgt. Auschwitz bestätigt das Philosophem von der reinen Identiät als dem Tod. [Adorno, ND, S. 353]
Was die Sadisten im Lager ihren Opfern ansagten: morgen wirst du als Rauch dich in den Himmel schlängeln, nennt die Gleichgültigkeit des Lebens jedes Einzelnen, auf welche Geschichte sich hinbewegt: schon in seiner formalen Freiheit ist er so fungibel und ersetzbar wie dann unter den Tritten seiner Liquidatoren. [Adorno, ND, S.353]
Verdinglichtes Bewußtsein ist ein Moment in der Totalität der verdinglichten Welt (…). Befreites Bewußtsein (…); eines, das seiner mächtig wäre, wirklich so autonom, wie es immer nur sich aufspielte, müßte nicht immerzu fürchten, an ein Anderes (…) sich zu verlieren. Das Bedürfnis nach Halt (…) ist nicht derart substanziell, wie seine Selbstgerechtigkeit es möchte; vielmehr die Signatur der Schwäche des Ichs (…). Wer von außen und in sich nicht mehr unterdrückt wäre, suchte keinen Halt, vielleicht nicht einmal sich selbst (…). Müßten die Menschen nicht mehr den Dingen sich gleichmachen, so bedürften sie weder eines dinghaften Überbaus, noch müßten sie sich, nach dem Muster von Dinglichkeit, als invariant entwerfen. Die Invariantenlehre verewigt, wie wenig sich änderte, ihre Positivität ist das Schlechte. Insofern ist das ontologische Bedürfnis falsch. [ND, S. 102f]
Naturhaft ist jenes Gesetz (der kapitalistischen Akkumulation) wegen des Charakters seiner Unvermeidlichkeit unter den herrschenden Verhältnissen der Produktion. Ideologie überlagert nicht das gesellschaftliche Sein als ablösbare Schicht, sondern wohnt ihm inne. Sie gründet in der Abstraktion, die zum Tauschvorgang wesentlich rechnet. Ohne Absehen von den lebendigen Menschen wäre nicht zu tauschen. Das impliziert im realen Lebensprozeß bis heute notwendig gesellschaftlichen Schein. Sein Kern ist der Wert als ‚Ding an sich‘, als Natur. [Adorno, Negative Dialektik, S. 348f]
Ja, jetzt via Audioarchiv (selbe Datei wie oben)
Allerdings, finde ich, gibt es bei Dornis in letzter Zeit nicht viel neues. Die Vorträge unterscheiden sich nur noch in inhaltlichen Akzentsetzungen…
Der Playcounter bei Soundcloud steht bei 10 diese Woche, der Downloadcounter bei 100. Offenbar sind damit dort gesetzte Limits erreicht. Nix geht (z.Z) mehr. Gibt’s noch eine andere Quelle ?
Ich hatte die Angabe von dem Thesenpapier entnommen und nicht als Ortsangabe verstanden. Hab’s jetzt einfach rausgenommen.
Der Vortrag fand nicht in den Räumen der JAPS statt, sondern in der Universität. Könnt ihr das bitte korrigieren?